Was ist schon selbstverständlich?

Die Dinge passieren rasend schnell. So rasend schnell, dass es schwer fällt, überhaupt hinterher zu kommen. Die Nachrichten sind voll, es gibt täglich Sondersendungen, Reportagen, Gesprächsrunden, Statistiken und Auswertungen und fast stündlich gibt es ein sogenanntes Update. Und dennoch scheint die Welt gerade still zu stehen – beängstigend still. Unsere Welt, wie wir sie kannten, löst sich auf und wir versuchen gerade, sie neu zu formen, sie mit neuen Wegen auf unser gewohntes Muster zu führen. Dabei stellen wir häufig fest: Muss das eigentlich sein? Oder ist es vielleicht sogar ganz gut, so wie es gerade ist? „Gut so, wie es gerade ist?“, wirst du dich jetzt fragen. Nein, ganz so einfach ist es natürlich nicht.

„Unsere Welt befindet sich im Krieg gegen einen unsichtbaren Feind“, so bezeichnet Emmanuel Macron unsere derzeitige Lebenssituation und daran ist zunächst auch rein gar nichts „gut so“. Menschen haben Angst, fühlen sich allein, verstehen nicht, was geschieht, und verlieren den Mut. In einigen Ländern herrscht eine Ausnahmesituation, die mit Worten nicht zu beschreiben ist und die in jedem einzelnen von uns tiefe Trauer und Bestürzung auslöst.

Es ist unsere Pflicht, in unseren Gedanken und auch in unseren Gebeten bei all den Menschen zu sein, die in diesem unsichtbaren Krieg einen geliebten Menschen verloren haben oder die täglich in den Krankenhäusern dafür kämpfen, den unsichtbaren Feind unter Kontrolle zu halten. Aber auch für alle, die in dieser Zeit einen ganz individuellen und unüberwindbaren Schmerz verspüren.

Doch es ist ebenso unsere Pflicht nicht aufzugeben. Nach vorne zu schauen und positiv zu denken. An eine noch ungewisse Zukunft, von der wir nicht einmal wissen, wann es sie geben wird. Und auch wenn die Welt im Chaos liegt und wenn am „Großen Ganzen“ nichts Positives zu finden ist, liegen die Schätze, die uns Hoffnung schenken, im Detail.

Wenn ich spazieren gehe, treffe ich so viele Menschen im Wald wie nie zuvor. Ich habe das Gefühl unsere Welt und unsere Natur möchte uns sagen: „Hey, schau mal wie schön ich bin! Du musst nicht immer von A nach B nach C hetzen. Komm zu mir in den Wald und schau mich an!“ Der Frühling scheint so präsent zu sein wie nie – oder kommt es uns nur so vor, weil wir erstmals richtig hinsehen?

Eigentlich selbstverständlich, oder?

Wenn ich im Garten sitze und in den Himmel schaue, sehe ich nichts. Keine Flugzeuge, keine Kondensstreifen. Genauso geht auch es den Kindern in China. Zwar liegt dort die Industrie lahm, aber Kinderaugen können erstmals das wunderschöne Blau des Himmels sehen, das sonst vom Smog des Alltags blass und trüb erscheint. Es scheint, als strahle der Himmel besonders kräftig in dieser Zeit.

Eigentlich selbstverständlich, oder?

Wenn ich die Nachrichten einschalte, höre und lese ich von weltweiten Grenzschließungen und Grenzkontrollen, wie es meine Generation noch nie erlebt hat. Obzwar dies nicht nur fiktiv in meinem Fernseher oder Radio spielt, sondern brennende Realität ist, überschleicht mich jeden Tag etwas mehr ein Gefühl, als wären Ländergrenzen ein Relikt längst vergangener Zeiten. Es spielt längst keine Rolle mehr, welche Nationalität, welche Hautfarbe, welche Religion, welchen Status oder welche Herkunft wir haben – wir sind alle gleich. Ohne Grenzen. Ohne Unterschiede.

Eigentlich selbstverständlich, oder?

Wenn ich mir Bilder über lahmgelegte Häfen und ruhende Schiffe ansehe, sehe ich Meere und Gewässer, die sich von uns Menschen erholen können. Die Tiere atmen auf und können sich ihren natürlichen Lebensraum zurückholen. Ich sehe Bilder aus Venedig, wo Menschen in die sonst verschmutzten und dreckigen Kanäle schauen und sich über kristallklares Wasser freuen. Sie betrachten die Fische, die zurück in die Kanäle kommen, als hätten sie nie etwas Wertvolleres gesehen. Sie betrachten die Delphine an der Küste, als würden sie von einer langen Reise endlich nach Hause kehren.

Eigentlich selbstverständlich, oder?

Wenn ich abends am Fenster stehe und rausschaue, höre ich vereinzelt Menschen an ihren Fenstern applaudieren. Ein Applaus nicht für die Pflegekräfte und Ärzte, sondern auch für alle anderen Berufsgruppen, die weiterhin für uns da sind, wenn wir sie brauchen. Ein Dank der all die Jahre längst überfällig war und nur einen kleinen Schubs brauchte, um ausgesprochen werden zu können.

Eigentlich selbstverständlich, oder?

Wenn ich beim Abendessen sitze und meine Familie und Freude über Videotelefon anrufe, um gemeinsam zu Abend zu essen und sie zu sehen, fällt mir auf, was für ein Geschenk unsere sozialen Kontakte sind. Wie dankbar wir sein müssen, für jede Minute die wir mit ihnen verbringen dürfen. Denn plötzlich wird das gemeinsame Abendessen, das Gespräch, und den anderen noch einmal anzuschauen, das Kostbarste, das wir seit langem erleben durften.

Eigentlich selbstverständlich, oder?

Wenn ich mit meiner Schwester telefoniere, fürchte ich eine gestresste Mutter, die momentan nicht weiß, wie sie Job und zwei Kinder zu Hause unter einen Hut bringen soll. Stattdessen höre ich sie so entspannt und gelassen wie lange nicht. Sie haben Zeit für sich. Reitstunden, Chorprobe, Sportgruppen – alles steht still. Stattdessen haben die Kinder die Chance selbst kreativ zu werden. Selbstbestimmt zu handeln, das Tempo zu reduzieren und selbst vorzugeben. So können sich Eltern und Kinder gegenseitig ganz neu kennenlernen.

 Eigentlich selbstverständlich, oder?

Wenn mein Handy klingelt ist es meist unsere neue WhatsApp-Gruppe „Nachbarschaftshilfe“. Es ist so schön jeden Tag zu lesen, dass Menschen einander Hilfe anbieten, obwohl man sich gar nicht oder nur flüchtig kennt. Diese warmherzige Solidarität – im Großen wie im Kleinen – berührt mich zutiefst und zeigt mir worauf es gerade jetzt ankommt: Nächstenliebe.

Eigentlich selbstverständlich, oder?

Wenn ich nun mit meinem Mann auf dem Sofa sitze, weil wir uns endlich mal wieder die Zeit nur für einander nehmen, fangen wir an zu überlegen. Wie wird die Zeit werden? Die „neue“ Zeit. Die Zeit nach Corona. Wird alles wieder so sein wie vorher? Oder werden wir uns vielleicht doch das ein oder andere mitnehmen und durch diese Krise unsere Welt und auch uns selbst ein großes Stückchen besser machen? Unsere Hoffnung ist es, das eigentlich Selbstverständliche – Verfügbarkeit, Nähe, Mobilität – einzutauschen in das Wesentliche: Wertschätzung, emotionale Nähe, Ruhe und Zeit. So werden wir Selbstverständlichkeit neu definieren.