Predigt Wenschtkirche, Sonntag, 6. Juli 2014

Gottesdienst für den dritten Sonntag nach Trinitatis
mit Taufe von Anton Wiegers und Gianluca Rosario Bruch

Text: Ez 18,1-32 in Auszügen

Und des Herrn Wort geschah zu mir: Was habt ihr unter euch im Lande Israels für ein Sprichwort: »Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden«? So wahr ich lebe, spricht Gott der Herr: dies Sprichwort soll nicht mehr unter euch umgehen in Israel. Denn siehe, alle Menschen gehören mir; die Väter gehören mir so gut wie die Söhne; jeder Mensch, der sündigt, soll sterben. 

Wenn nun einer gerecht ist und Recht und Gerechtigkeit übt, der nach meinen Gesetzen lebt und meine Gebote hält, der soll das Le­ben behalten, spricht Gott der Herr. Wenn er aber einen gewalttäti­gen Sohn zeugt, der Blut vergießt oder eine dieser Sünden tut, wäh­rend der Vater all das nicht getan hat: sollte der am Leben bleiben? Er soll nicht leben, sondern weil er alle diese Gräuel getan hat, soll er des Todes sterben; seine Blutschuld komme über ihn. Wenn der dann aber einen Sohn zeugt, der alle diese Sünden sieht, die sein Vater tut, und doch nicht so handelt, sondern meine Gebote hält und nach meinen Gesetzen lebt, der soll nicht sterben um der Schuld sei­nes Vaters willen, sondern soll am Leben bleiben. Denn nur wer sün­digt, der soll sterben. Der Sohn soll nicht tragen die Schuld des Va­ters, und der Vater soll nicht tragen die Schuld des Sohnes, sondern die Gerechtigkeit des Gerechten soll ihm allein zugute kommen, und die Ungerechtigkeit des Ungerechten soll auf ihm allein liegen.

Wenn sich aber der Gottlose bekehrt von allen seinen Sünden, die er getan hat, und hält alle meine Gesetze und übt Recht und Gerechtig­keit, so soll er am Leben bleiben und nicht sterben. Es soll an alle seine Übertretungen, die er begangen hat, nicht gedacht werden, sondern er soll am Leben bleiben um der Gerechtigkeit willen, die er getan hat. Meinst du, dass ich Gefallen habe am Tode des Gottlosen, spricht Gott der Herr, und nicht vielmehr daran, dass er sich be­kehrt von seinen Wegen und am Leben bleibt? Und wenn sich der Gerechte abkehrt von seiner Gerechtigkeit und tut Unrecht und lebt nach allen Gräueln, die der Gottlose tut, sollte der am Leben blei­ben? An alle seine Gerechtigkeit, die er getan hat, soll nicht gedacht werden, sondern in seiner Übertretung und Sünde, die er getan hat, soll er sterben.

Und doch sprechen die vom Hause Israel: »Der Herr handelt nicht recht.« Sollte ich unrecht handeln, Haus Israel? Ist es nicht vielmehr so, dass ihr unrecht handelt? Darum will ich euch richten, ihr vom Hause Israel, einen jeden nach seinem Weg, spricht Gott der Herr. Kehrt um und kehrt euch ab von allen euren Übertretungen, damit ihr nicht durch sie in Schuld fallt. Werft von euch alle eure Übertre­tungen, die ihr begangen habt, und macht euch ein neues Herz und einen neuen Geist. Denn warum wollt ihr sterben, ihr vom Haus Is­rael? Denn ich habe kein Gefallen am Tod des Sterbenden, spricht Gott der Herr. Darum bekehrt euch, so werdet ihr leben.

„Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden“ – gleich zwei Propheten bezeugen uns dieses Sprichwort: Hesekiel und Jeremia. Und ohne Bild gespro­chen lesen wir das Gleiche in den Klageliedern: „Unsre Väter haben gesündigt und leben nicht mehr, wir aber müssen ihre Schuld tra­gen.“ (Klgl 5,7) Alle drei Stellen gehören in die gleiche Situation: Die Truppen Nebukadnezars, des Königs von Babel, haben Jerusa­lem und den Tempel des Herrn zerstört, die Oberschicht und alle kriegswichtigen Handwerker sind nach Babel verschleppt worden, und in der kleinen babylonischen Provinz Juda schlagen sich die ver­bliebenen Bewohner durch die Nachkriegszeit, enttäuscht, gedemü­tigt und hungrig. Ein Wirtschaftswunder ist nicht in Sicht.

Da wird natürlich nach Erklärungen gesucht. „Wie konnte das alles nur passieren?“, fragt man sich. Und weil man damals noch eher mit Gottes Wirken rechnete als heutzutage, kommt die zweite Frage gleich hinterher: „Warum hat der Herr, unser Gott, uns das bloß angetan – uns, seinem erwählten Volk Israel?“

Man sucht nach den Schuldigen und hat sie auch bald: „Natürlich, die da oben sind schuld: der Kö­nig, seine Minister, seine Generäle. Die haben das Volk geknechtet und ausgebeutet. Sie haben nicht auf Gott vertraut, sondern auf ihre eigene Klugheit und auf zweifelhafte Verbündete. Nun sind sie tot oder weg, und wir müssen es ausba­den.“

Aber manchen ist diese Erklärung zu billig, weil ein Volk ja doch immer nur die Regierung hat, die es verdient. „Unsere Väter insge­samt waren schuld“, sagen sie. „Ganz Israel hat den Bund gebrochen, den Gott mit ihm ge­schlossen hatte, sie alle haben seine Gebote missachtet. Haben das nicht auch die Propheten immer gesagt – Hosea und Amos, Jesaja und Micha, Jeremia und Hesekiel, und wie sie alle hießen?“

„Aber“, antworten andere, „warum hat Gott dann unsere Väter fried­lich sterben lassen und straft stattdessen uns? Wir können doch nichts dafür, was die verbockt haben! Sie haben uns diese Suppe ein­gebrockt, und wir müssen sie auslöffeln – das ist ungerecht!“

Solche Diskussionen sind uns nicht fremd, denn es gibt sie zu allen Zeiten. Hier und heute zum Beispiel diese: Da hat Opas Firma im letzten Krieg Zwangsarbeiter beschäftigt, und nun sollen die Enkel und Erben Entschädigung zahlen. Ist das gerecht? Und überhaupt: Müssen wir nachgeborenen Deutschen uns denn immer noch für die Schuld unserer Nazi-Väter und -Großväter vorhalten lassen? Ist da nicht endlich mal der berühmte Schlussstrich fällig?

Noch ein anderes Beispiel: „Muss man sich wundern“, fragen die Soziologen, „wenn Väter oder Mütter, die selber als Kinder misshan­delt wurden, mit dem eigenen Nachwuchs das Gleiche tun? Der Va­ter hat drauflos geprügelt, und dem Sohn sind die Gefühle davon stumpf geworden. Er kann seine Kinder gar nicht mehr lieb haben, sondern muss sozusagen zwanghaft zum Wiederholungstäter werden. Kann man da von Schuld reden? Und wenn ja, von wessen Schuld?“

Die Genetiker, Beispiel Nummer drei, holen noch weiter aus: Welche Eigenschaften ein Mensch hat, wie er sich entwickelt, was aus ihm wird, was er tut und was er lässt, das ist zu 90% die Folge seiner Erbanlagen, sagen sie. Zeig mir deinen Gen-Code, und ich sag dir, wer du bist! Der Volksmund wusste es ja schon immer: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Und kann der Apfel etwas für den Baum, von dem er fällt? Können Anton oder Gianluca etwas für die Eigenschaften, die guten und die schlechten, die sie von ihren Eltern geerbt haben?

Und den Rest, Beispiel Nummer vier, besorgen neuerdings die Hirn­forscher. Sie bestreiten, dass der Mensch überhaupt in der Lage ist, freie Entscheidungen zu treffen. Bevor ein Mensch den Eindruck hat, dass er sich jetzt zu diesem oder jenem entschließt, ist die Sache als neurologischer Prozess im Hirn längst gelaufen. Und diese Prozesse geschehen einfach aufgrund physischer und chemischer Gegeben­heiten; von Gut und Böse können die nichts wissen. Gibt es so etwas also überhaupt?

Es geschieht also nichts Neues unter der Sonne. Seit Jahrtausenden stellen wir Menschen immer wieder die These auf, dass wir nicht schuld sind. Mal sind’s die Väter, mal die Urväter, mal die sozialen, mal die genetischen Gegebenheiten, mal die Triebe, mal die Hirn­ströme, aber wir sind’s jedenfalls nicht. Wir können nichts dafür. Es passiert einfach oder ist passiert, und wir müssen mit den Folgen fertig werden. Aber wir sind nun mal so, sagen wir, und können nichts daran ändern. Folglich geben wir uns mehr und mehr dem Fa­talismus hin: Krieg und Terror? Furchtbar, aber wird’s immer geben! Geld- und Machtgier? Ein Grundübel, unausrottbar! Klimakatastro­phe? Wir können doch eh nichts ändern!

Der Prophet Hesekiel allerdings macht das Spielchen nicht mit. Er wischt all diese Erklärungen und Ausflüchte vom Tisch. Er tut es deshalb, weil er im Namen Gottes spricht und weil er von einer Vor­aussetzung ausgeht, die freilich heute von vielen nicht mehr geteilt wird. Jeder Mensch, lautet diese Voraussetzung, jeder Mensch mit allem, was sein Leben ausmacht, gehört Gott. Er hat jeden Menschen so geschaffen, wie er ist, und deshalb ist jeder Mensch Gott gegen­über verantwortlich für das, was er tut. Und zwar persönlich verant­wortlich. Weder auf die Väter und Mütter, noch auf die Nachkom­men kann und darf er diese Verantwortung abschieben. Und weder seine Prägungen, noch seine Gene, noch seine Hirnströme nehmen es ihm ab, für sein Tun und Lassen gerade zu stehen. Wenn schon vor keinem irdischen Gericht, dann doch vor dem Richterstuhl Gottes – und da geht es um Leben und Tod!

Das klingt beunruhigend, vielleicht sogar erschreckend. Und doch ist es eine gute Nachricht, vielleicht sogar die beste Nachricht der Welt. Warum ich das glaube? Das hat folgende Gründe:

Erstens sagt uns diese Nachricht, dass wir frei sind. Trotz aller Zwänge, die uns umgeben, trotz aller Abhängigkeiten, in denen wir uns befinden, trotz unserer Natur, die wir nicht ändern können, sind wir frei. Wir können wählen zwischen Gut und Böse, und das immer wieder neu. Auch für Anton gilt das und für Gianluca und für jeden von uns. Selbst wenn alle sagen: „Aus dem wird nichts bei den El­tern, bei den Verhältnissen, aus denen der stammt“, kann aus uns sehr wohl etwas werden, wenn wir wollen. Denn ich bin nicht mein Vater oder meine Mutter, ich gehe auch nicht auf in irgendwelchen Verhältnissen, sondern ich bin ich. Und weil Gott Gott ist und mich so gemacht hat, wie ich bin, kann das auch zur Entfaltung kommen, was er sich vorgestellt hat. Sicher, oft ist das sehr schwer. Oft klebt uns die eigene Herkunft und Prägung wie Blei an den Füßen, und es braucht viel Kraft, auch viel Hilfe, um davon loszukommen, aber es geht. Wenn wir uns mal umschauen in der Welt, werden wir eine Menge Beispiele dafür entdecken.

Zweitens sagt uns die Nachricht, dass wir uns ändern können – nicht unser Sein, wohl aber unser Handeln. Wir müssen mit unserem Le­ben nicht immer weiter in die falsche Richtung laufen, sondern wir können umkehren, Böses lassen, Gutes neu beginnen. Auch das wird natürlich schwerer, je länger ich schon in der falschen Richtung un­terwegs bin, aber unmöglich oder zu spät ist es nie, solange ich lebe. Hauptsache wir geben uns irgendwann einen Ruck und fangen damit an.

Und das dritte und beste an der guten Nachricht: Gott will uns nicht unserem Schicksal überlassen. „Meinst du, dass ich Gefallen habe am Tode des Gottlosen“, spricht Gott bei Hesekiel, „und nicht viel­mehr daran, dass er sich bekehrt von seinen Wegen und am Leben bleibt?“ Wenn wir also unsere Freiheit zum Guten gebrauchen wol­len, wenn wir umkehren wollen von den falschen Wegen, die wir gegangen sind, dann haben wir Gottes Wohlgefallen immer auf unse­rer Seite. Und nicht nur das: Er macht unsere Freiheit, unsere Um­kehr überhaupt erst möglich, indem er aufhebt, was uns von ihm trennt. Ja, er hat es schon längst getan, als er in Jesus Mensch gewor­den ist, um zu suchen und selig zu machen, was verloren ist. Wenn uns das nur wirklich aufgeht, wenn wir das nur ganz für uns wahr sein lassen, was sollte uns dann noch davon abhalten, umzukehren und zu leben? Möge Gott dafür sorgen, dass wir heute noch damit anfangen! Amen.

Pfarrer Dr. Martin Klein