Predigt Wenschtkirche, Sonntag, 27.06.2021

GOTTESDIENST FÜR DEN VIERTEN SONNTAG NACH TRINITATIS

Text: Gen 50,15-21

Die Beerdigung des alten Herrn Jacobi war vorüber – und was für eine Beerdigung: Bei der Trauerfeier war die große Backsteinkirche bis auf den letzten Platz gefüllt gewesen. Alles, was in der Stadt Rang und Namen hatte, war dabei, ja es war sogar Polit-Promi­nenz aus Berlin angereist. Die Kantorei hatte gesungen, der Bischof per­sönlich hatte die Predigt gehalten. Und anschließend waren schwere Limousinen in langer Kolonne hinter dem Lei­chenwagen her zum Friedhof gefahren. Dort hatte man den hochbetagten Patriarchen einer großen Familie in der Gruft seiner Ahnen zur letzten Ruhe gebettet, begleitet von Salut­schüssen des örtlichen Schützenvereins.

So ein Begräbnis hatte die kleine Stadt in der ostdeutschen Provinz lange nicht erlebt. Das lag allerdings weniger an der Person des Verstorbenen. Der hatte im Ort zwar einiges Ansehen besessen, war aber nur ein einfacher Bauer gewesen. Es lag auch nicht an seinen Söh­nen aus erster Ehe, unauffälligen Gestalten, schon stark ergraut­, die mit ihren Familien in schlichter schwarzer Kleidung dem Sarg folg­ten. Nein, es lag an IHM, dem gut aussehen­den Mann im teuren Maßanzug, auffällig-unauffällig eskortiert von breitschultrigen Ge­stalten mit Knopf im Ohr und Sonnenbrille: Prof. Dr. Dr. h. c. Jo­hannes Jacobi, renommierter Wirtschaftswissenschaftler und Staats­sekretär mit Sondervollmachten im Bundeskanzleramt. Sein erfolg­reiches Konzept zur Be­wältigung der schwersten Wirtschaftskrise seit der Nachkriegszeit hatte ihm sowohl die Bewunderung der Fachwelt als auch das Vertrauen des deutschen Kleinsparers einge­bracht und ihn zur rechten Hand des Bundeskanzlers gemacht. Er hatte immer als Sohn eines rheinischen Geschäftsmanns gegolten, der ihn adop­tiert und ihm sein Vermögen vermacht hatte. Erst vor wenigen Jahren war bekannt geworden, dass er in Wirklichkeit aus einer ostdeut­schen Bauernfamilie stammte und in der DDR aufge­wachsen war. Die Boulevardblätter waren damals voll gewesen mit Bildern und Geschichten über das ergreifende Wiedersehen mit sei­nem Vater und seinen Brüdern nach vielen Jahren der Trennung. Und natürlich wür­den sie jetzt auch Ergreifendes über die Beerdigung be­richten.

Den Brüdern des Herrn Prof. Jacobi ging aber ganz anderes durch den Kopf, als sie mit finsteren Mienen vom Friedhof nach Hause gingen. Rudolf, der Älteste, sprach schließlich aus, was sie alle dachten: „Jetzt ist es so weit. Jetzt, wo unser Vater unter der Erde ist, wird er uns alles heimzahlen!“

Die anderen nickten nur. Sie wussten genau, was er meinte. Schließ­lich waren sie alle dabei gewesen, damals, vor vielen Jahren. Und sie hatten alle mitgemacht. Hatten ihn verprügelt, den Schönling, den Angeber, ihn getreten, auf ihm herumgetrampelt in blinder Wut, hatten ihm die teuren Westklamotten vom Leib gerissen, die der Va­ter für ihn, und nur für ihn, gekauft hatte. Immer hatte er Johannes allen seinen Brüdern vorgezogen. Denn er war das einzige Kind sei­ner zweiten Frau, seiner großen Liebe. Sie war bei Johannes’ Geburt ge­storben, und so war ihr Kind das einzige, was ihm von ihr geblie­ben war. Also wurde Johannes mit Geschenken überhäuft, und die Brüder gingen leer aus. Johannes durfte die Ober­schule besuchen, während die Brüder im Stall schuften mussten. Johannes konnte sich alles erlauben, und wenn er was aus­gefressen hatte, bekamen die Brüder die Schläge dafür. Kein Wun­der, dass ihm das zu Kopf ge­stiegen war. Er hielt sich für was Besse­res, prahlte mit seinen Einser-Zeugnissen, schwelgte in den tollsten Karriereträumen – und merkte gar nicht, wie Neid und Wut in sei­nen Brüdern langsam überkochten.

Eines Tages hatten sie ihm dann aufgelauert, auf dem Heimweg von der Schule. Sie hatten ihn ins Gebüsch gezerrt, unten am Fluss. Und nachdem sie einmal angefangen hatten, auf ihn einzuprügeln, hatten sie nicht mehr aufhören können. Schließlich war Johannes bewusst­los geworden, und sie hatten geglaubt, sie hätten ihn totgeschlagen. Voller Angst, dass alles rauskommen würde, hatten sie ihn ins Was­ser geworfen. Dem Vater hatten sie nur erzählt, sie hätten seine Sa­chen am Fluss gefunden. Die Polizei war zu dem Schluss gekommen, dass Johannes einem Verbrechen zum Opfer gefallen sei – Täter un­bekannt. Sein Leich­nam wurde nie gefunden.

Den hatte es freilich auch nie gegeben. Johannes war im kalten Was­ser wieder zu sich gekommen, und trotz einiger gebrochener Rippen hatte er sich ans Ufer retten können. Aus Angst vor seinen Brüdern hatte er sich nicht mehr nach Hause getraut. Bei Nacht hatte er sich über die Landstraße davon geschleppt. Ein LKW-Fahrer hatte ihn schließlich mitgenommen und nach West-Berlin geschmuggelt. Dort hatte er eine Zeitlang in übelsten Verhältnissen gelebt, bis ihn jener Geschäftsmann aus dem Rheinland aufgegabelt hatte. Der er­kannte, wie talentiert Johannes war, gab ihm einen Ausbildungsplatz in sei­ner Firma, ließ ihn dann das Abitur nachholen, finanzierte ihm sein Studium und adoptierte ihn schließlich, weil er keine eigenen Kinder hatte. Und so machte Johannes tatsächlich die Karriere, von der er immer geträumt hatte.

Die Brüder dagegen wurden ihres Lebens nicht mehr froh. Äußerlich wahrten sie zwar die Fassade, aber in ihnen nagten die Schuldge­fühle. Und wenn sie gehofft hatten, dass Johannes nun nicht mehr zwischen ihnen und ihrem Vater stehen würde, so hatten sie sich getäuscht. Der alte Jacobi blieb untröstlich in der Trauer um seinen Lieblingssohn, und so vergiftete der als vermeintlich Toter ihr Ver­hältnis zu einander noch stärker als zuvor.

So waren die Jahre verstrichen. Die DDR war untergegangen, und die Brüder hatten den väterlichen Hof wieder aus der LPG lösen können. Aber als dann die schlimme Wirtschaftskrise gekommen war, hatten sie wie viele Bauern vor dem Aus gestanden. Da hatte es sich begeben, dass der neue starke Mann der Regierung, jener Prof. Dr. Jacobi, ihre Gegend bereiste. Die Brüder hatten Unterschriften gesammelt, mit der sie um staatliche Hilfsgelder baten. Und als sie die dem Herrn Staatssekretär überreichen wollten, da hatte der sofort erkannt, wen er vor sich hatte. Unter Tränen hatte er sich seinen Brü­dern zu erkennen gegeben und Wiedersehen mit seinem Vater gefei­ert, der dieses Wunder kaum fassen konnte. Und nicht aus Staatsgel­dern, sondern aus seinem Privatvermögen hatte er den väterlichen Hof saniert und den Brüdern mit ihren Familien ihr Auskommen gesi­chert. Über die Geschichte von damals hatte er kein Wort verlo­ren.

Aber jetzt war der Vater tot. Und die alte Angst kroch den Brüdern wieder ins Genick. Ihre Tat war zwar längst verjährt, aber ihren Ruf und ihre Lebensgrundlage konnte Prof. Jacobi immer noch ruinieren. „Wir müssen mit ihm reden“, sagte Rudolf schließlich, „am besten sofort.“

Sie fragten im Hotel nach ihm, aber dort hieß es, er habe eine Weile allein sein wollen und sei spazieren gegangen. Doch wenn seine Brüder nach ihm fragen sollten: er sei unten am Fluss zu finden – sie wüssten dann schon Bescheid!

Er hatte also geahnt, dass sie kommen würden. Und der Ort, zu dem er sie bestellt hatte, bestätigte ihre schlimmsten Befürchtungen. Mit klopfendem Herzen und weichen Knien gingen sie zu der Stelle am Fluss, die sie alle bestens kannten, auch wenn sie sich bis heute nie wieder dorthin getraut hatten.

Johannes Jacobi stand dort ganz allein und schaute gedankenverloren aufs Was­ser hinaus. Die Brüder trauten sich zuerst nicht an ihn ran. Dann schickten sie wie immer Rudolf vor – er hatte schon damals dem Vater die schlimme Nachricht bringen müssen. Rudolf trat einen Schritt näher und räusperte sich. „Johannes, wir müssen dir etwas sagen!“

Johannes drehte sich um und schaute Rudolf an. „Das hab ich mir gedacht“, sagte er, „also schießt schon los!“

„Nun“, begann Rudolf und schlug verlegen die Augen nieder, „wir haben’s ja hier im Osten nicht so mit der Kirche, aber unser Vater, der war noch ein richtig frommer Mann. Wenn er gewusst hätte, was damals wirklich passiert ist – hier an dieser Stelle – ich weiß nicht, was er dann mit uns gemacht hätte. Aber jetzt, nach so langer Zeit – da hätte er sicher gehofft, dass du uns vergibst.“

„Und ihr glaubt, dass ich das nicht tue, nicht wahr?“ sagte Johannes, und seine Brüder merkten, dass er ganz rote Augen hatte. „Ihr glaubt, dass ich jetzt über euch komme und Rache nehme – wie der Graf von Monte Christo!“

Die Brüder sagten nichts, sondern nickten nur stumm.

Da erschien ein trauriges Lächeln auf Johannes‘ Gesicht. „Aber wa­rum sollte ich das tun?“ fragte er. „Glaubt ihr denn, ich hätte meine Freude über unser Wiedersehen die ganze Zeit nur gespielt? Ja, es stimmt, es war schlimm, was ihr mir angetan habt. Ich hab damals wirklich gedacht, ich muss sterben, und ich hab danach üble Zeiten durchgemacht. Aber ich habe auch erkannt, was für ein eingebildeter Angeber ich war und wie sehr euch das gewurmt haben muss. Trotz­dem ist alles wahr geworden, wovon ich geträumt habe: Ich habe Karriere gemacht, ich bin reich und ich habe Einfluss. Doch mir ist deutlich geworden, dass ich das alles weder verdient habe noch für mich behalten kann. Ich muss es mit anderen teilen, und das zuerst mit euch.

Ja, ihr habt Recht, unser Vater war ein frommer Mann. Er hat immer geglaubt, dass unser ganzes Leben in Gottes Hand liegt. „Denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen“, hat er immer gesagt. Ich habe oft darüber nachgedacht. Und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es tatsächlich so etwas wie Fügung gibt. Ihr hattet Böses im Sinn, aber Gott hat Gutes daraus entstehen lassen – für mich, für unser Land und nicht zuletzt auch für euch. Gott hat euch – und auch mir – längst vergeben, denn im Unterschied zu un­serem Vater liebt er uns alle gleich. Wer wäre ich denn, wenn ich nun nicht tun würde, was Gott schon lange getan hat?“

Dann konnte er nicht länger an sich halten und fiel Rudolf um den Hals. Und der erwiderte seine Umarmung nach kurzem Zögern. So feierten sie endlich Versöhnung – an der gleichen Stelle, wo sie sich vor so langer Zeit entzweit hatten. Und wir dürfen uns vorstellen, dass Gott ihnen dabei zufrieden zuschaute.

Die Brüder Josefs aber fürchteten sich, als ihr Vater gestorben war, und sprachen: „Josef könnte uns gram sein und uns alle Bosheit ver­gelten, die wir an ihm getan haben.“ Darum ließen sie ihm sagen: „Dein Vater befahl vor seinem Tode und sprach: So sollt ihr zu Josef sagen: Vergib doch deinen Brüdern die Missetat und ihre Sünde, dass sie so übel an dir getan haben. Nun vergib doch diese Missetat uns, den Dienern des Gottes deines Vaters!“ Aber Josef weinte, als man ihm solches sagte. Und seine Brüder gingen selbst hin und fie­len vor ihm nieder und sprachen: „Siehe, wir sind deine Knechte.“ Josef aber sprach zu ihnen: „Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Got­tes Statt? Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott ge­dachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk. So fürchtet euch nun nicht; ich will euch und eure Kinder versorgen.“ Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen. Amen

Ihr Pastor Martin Klein