Predigt Wenschtkirche, Sonntag, 26.11.2023

Gottesdienst zum Totensonntag

Text: Dan 12,1-3

Alle Menschen müssen sterben. Das ist eine der wenigen Wahrhei­ten, die noch als unum­stöß­li­ch gelten. Gleich wenn wir geboren wer­den, beginnt die biologische Uhr zu ticken. Und auch wenn sie beim einen schneller und beim ande­ren langsamer tickt – spätes­tens nach 120 Jahren ist sie abgelaufen. Mag sein, dass sich die Alters­grenze in Zukunft noch weiter hinausschie­ben lässt – die Stamm­zellenforschung oder die Cybertechnik mögen da vieles mög­lich machen. Aber solange wir an Raum und Zeit gebunden sind, wird unser Leben im­mer begrenzt bleiben – und das ist wohl auch gut so.

Alle Menschen müssen sterben. Das ist für viele auch die einzige Gerechtigkeit, die es auf Erden gibt. Egal, ob wir reich oder arm, klug oder dumm, mächtig oder machtlos, glücklich oder unglücklich sind – am Ende sind wir alle gleich tot. Deshalb hat man im Mittelalter so gern den Totentanz gemalt: Kaiser, König, Edelmann, Bürger, Bauer, Bettelmann: alle zieht der Tod in seinen Reigen, und niemand kann ihm entrinnen.

Allerdings: Wenn es um das Leben vor dem Tod geht, dann fängt die Ungerech­tigkeit schon wieder an: Die einen können sich die besten Medikamente und neusten Behandlungsmetho­den leisten, die ande­ren haben noch nicht mal eine Krankenversicherung. Die einen sind mit hochwertigen Lebensmitteln bestens versorgt, den anderen fehlt schon sauberes Trinkwasser. Die einen leben jahrzehntelang in Frieden und Sicherheit, die anderen leiden ebenso lange unter Krieg und Gewalt. Die einen leben sorglos in den Tag hinein und bleiben gesund, die anderen tun alles für ihre Gesundheit und kriegen mit 40 Krebs. Wirklich gute Menschen ster­ben jung, und gewissenlose Verbrecher werden uralt. Und die einen entschlafen sanft, wäh­rend sich die anderen lange quälen müssen. Wir alle haben sie schon er­lebt, diese Ungerech­tigkeit beim Sterben, und bei manchen ist die Erinnerung daran noch frisch und tut weh. Wie gehen wir damit um? Und wie kriegen wir damit den Glauben an einen Gott zusam­men, der gerecht ist und seine Menschen liebt?

Die gleichen Fragen hat sich vor langer Zeit der Verfasser des Buches Daniel gestellt. Zu sei­ner Zeit stand Israel unter fremder Herrschaft. Der griechisch-syrische König Antiochus IV. re­gierte das Land und versuchte es religiös und politisch gleichzuschal­ten. Er plünderte die Städte aus, setzte den legitimen Hohenpriester ab, verbot die jüdi­sche Religionsausübung und ließ – Gipfel der Provoka­tion – im Tem­pel von Jerusalem eine Zeus-Statue errichten. Teilen der Ober­schicht in Jerusalem gefiel das. Sie hatten griechi­sche Kultur und Lebensart schätzen gelernt, profitierten von der Zusammenarbeit mit den fremden Herren und lebten gut auf Kos­ten der Armen. Diese Armen waren nun in der Regel auch die Frommen im Land. Sie beachte­ten Gottes Gebote und hielten an den alten Überlieferun­gen fest. Aber dafür wurden sie unterdrückt, verfolgt und umge­bracht.

Der fromme Weise, dem wir das Buch Daniel verdanken, litt unsäg­lich unter diesen Verhältnis­sen. Neben aller äußeren Bedrängnis stellten sie auch seinen Glauben infrage. In Israel war man immer überzeugt gewesen, dass Gott für Gerechtigkeit sorgt: Auf jeder guten, Gott wohlgefälligen Tat liegt Segen, und jeder bösen, gottlo­sen Tat folgt die Strafe auf dem Fuß. Für Schuld und Strafe verwen­dete man sogar das gleiche Wort. Aber nun stimmte das anschei­nend nicht mehr: den Gottlosen ging es gut, während die Gottes­fürchti­gen leiden muss­ten.

Diese Erfahrung hatten fromme Israeliten natürlich schon früher ge­macht. Bereits in Psalm 73 heißt es: „Ich wäre fast gestrauchelt, als ich sah, dass es den Frevlern so gut ging.“ (Ps 73,2-3) Aber der Psalmdichter gelangte noch zu der Überzeugung: „Mag es auch jetzt so aussehen, als ob die Gottlosen triumphieren, am Ende werden sie doch zunichtewerden.“ Und auch beim unschuldig leidenden Hiob sorgte Gott am Ende für Gerechtigkeit und gab ihm Familie und Wohl­stand zurück. Aber nun erwies sich, dass auch das nicht immer stimmte. Die einen star­ben, ohne Gerechtigkeit erlangt zu haben, die anderen starben, ohne für ihren Frevel zur Verant­wortung gezo­gen zu werden. Das Leben blieb ungerecht bis zum Schluss.

„Seht ihr“, sagen heute viele, „es gibt eben keinen Gott – jedenfalls keinen, der für Gerechtig­keit sorgt.“ Aber bei dieser trostlosen Sicht der Dinge wollte und konnte unser frommer Wei­ser nicht enden. Und so wagte er als erster einen Gedanken aufzuschreiben, dem man bis da­hin in Israel nie Raum gegeben hatte. In Daniel 12,1-3 können wir es nachlesen, am Ende einer ausführlichen Prophezeiung, die eine himmlische Gestalt dem Daniel übermittelt:

Zu jener Zeit wird Michael auftreten, der große Engelfürst, der für dein Volk einsteht. Denn es wird eine Zeit so großer Trübsal sein, wie sie nie gewesen ist, seitdem es Völker gibt, bis zu jener Zeit. Aber zu jener Zeit wird dein Volk errettet werden, alle, die im Buch geschrie­ben stehen. Und die Vielen, die im Staub der Erde schlafen, werden aufwachen, die einen zum ewigen Leben, die andern zu ewiger Schmach und Schande. Und die Verständigen werden leuchten wie des Himmels Glanz, und die viele zur Gerechtigkeit weisen, wie die Sterne im­mer und ewiglich.

Auferstehung der Toten: hier ist zum ersten Mal von ihr die Rede – im letzten Kapitel des jüngsten Buchs des Alten Testaments. Nur einmal war die Hoffnung darauf schon angeklun­gen, in einem Gebet in Jesaja 26. Aber erst hier wird daraus eine gewisse Zuversicht. Lange hatte man sich in Israel gegen diesen Ausweg aus dem Elend gewehrt. Wer stirbt, so sah man es, der wird zu seinen Vätern ver­sammelt oder verschwindet in einem Schattenreich na­mens Sche’ol. Aber das Leben ist mit dem Tod ein- für allemal zu Ende. Und weil Gott ein Gott der Lebenden und nicht der Toten ist, gibt es für die Toten keine Wiederkehr. Wir sollten dem Alten Testa­ment für diese nüchterne Sicht der Dinge dankbar sein, denn sie entspricht ja auch unserer Erfahrung.

Aber nun, im Buch Daniel, wird der Widerspruch zu groß zwischen der Begrenztheit des Le­bens und der Gerechtigkeit Gottes. Und so keimt die Hoffnung auf, dass Gott auch bei den Toten noch für Ge­rechtig­keit sorgen wird: Am Ende der Zeit, wenn die Not unerträg­lich wird, dann wird Gott Michael, den Schutzengel Israels, senden und die Toten auferwecken. Die einen, die im Buch des Le­bens ver­zeich­net sind, werden ins ewige Leben eingehen, und die ande­ren, die Gottlosen, werden in ewiger Schmach und Schande versin­ken. Und wer als „Verstän­diger“ anderen den Weg gewiesen hat zu Gott und zu einem Leben mit ihm, der darf mit besonde­rer Ehre rechnen.

Vieles an diesen neuen Gedanken bleibt vage und unbestimmt: Sind „die Vielen“ alle Toten oder geht es nur um bestimmte? Betrifft die Auferstehung nur Israel oder alle Völker? Und wie sieht es aus, das „ewige Leben“ oder die „ewige Schmach“? Spätere haben gerade zu der letzten Frage viel mehr geschrieben. Aber ich bin eher froh, dass ihre Bücher es nicht in die Bibel geschafft haben. Denn wer als sterbli­cher Mensch die Ewigkeit beschreiben will, kann eigentlich nur scheitern. Wichtig ist nur: Wer zum Leben auferweckt wird, ist ewig bei Gott, und ewige Schmach ist ewige Gottesferne.

Wie gesagt: Ich bin froh, dass das Alte Testament die Endgültigkeit des Todes ernst nimmt. Ich bin aber auch froh, dass an seinem Ende doch noch die Hoffnung auf Auferstehung durch­bricht. Denn wirkli­che Gerechtigkeit kann auch ich mir anders nicht vorstellen. Sicher, es gab die Nürnberger Prozesse, es gibt den Haager Gerichtshof. Aber wie viele Kriegstreiber und Verbrecher gegen die Menschlich­keit sind seit Urzeiten ungeschoren davongekommen! Und wie viele Menschen haben durch Jahrtausende zur Unzeit ihr Leben verloren, viele davon durch anderer Menschen Schuld! Wir mögen für mehr Gerechtigkeit auf Erden noch manches tun können, aber völlige Gerech­tigkeit werden wir in diesem Leben niemals erreichen. Und deshalb bin ich froh, dass Gott am Ende die Dinge gerade rückt, dass er Gericht hält über Le­bende und Tote und jeden Menschen zur Verant­wortung zieht – auch wenn das für mich persön­lich sicher nicht nur angenehm sein wird.

Eine Frage bleibt allerdings: Hat denn die Hoffnung aus dem Buch Daniel einen zureichenden Grund? Schließlich widerspricht sie der allgemeinen Erfahrung und auch der bisherigen Überzeu­gung Isra­els. Viele Juden glauben deshalb bis heute nicht an eine Auferste­hung der Toten, auch wenn sie ansonsten gläubig sind.

Christen dagegen haben für ihre Hoffnung ein festes Fundament, denn sie kommen von Os­tern her. Wenn es stimmt, dass Gott Jesus von den Toten auferweckt hat, wenn uns also einer auf diesem Weg schon vorangegangen ist, dann dürfen wir mit gutem Grund an die Auferste­hung der Toten glauben. Und dann entscheidet sich an Je­sus auch, wie wir auferstehen wer­den. Denn wenn er für unsere Schuld schon bezahlt hat, dann dürfen wir mit Johannes 5 hof­fen, dass wir nicht ins Gericht kommen, jedenfalls nicht im Ge­richt verur­teilt werden, sondern vom Tod schon zum Leben hin­durch­ ge­drun­gen sind. Wer an Jesus Christus glaubt, der hat schon das ewige Le­ben, auch hier und jetzt.

Und wer nicht an ihn glaubt? Droht dem die ewige Schande? Ich glaube, darüber muss ich gar nicht nachgrübeln. Ich darf einfach darauf vertrauen, dass Gott in Christus die Welt mit sich versöhnt hat. Und auch mit denen, die diese Versöhnung für sich nicht ange­nommen haben, wird er es schon richtig machen – so gerecht und so liebevoll, wie nur er es kann. Amen.

Ihr Pastor Martin Klein