Predigt Wenschtkirche, Sonntag, 24. November 2024

Gottesdienst zum Ewigkeitssonntag

Text: Psalm 126

Der Predigttext für heute ist zugleich der Wochenpsalm. Wir haben ihn eben schon gemeinsam gesprochen: „Wenn der Herr die Gefan­ge­nen Zions erlösen wird“, so beginnt Psalm 126 in der Luther-Bibel. Wenn man dem hebräischen Text folgt, muss man allerdings einiges anders übersetzen, als Luther es getan hat. Dann lautet der Psalm ungefähr so:

Als der Herr das Geschick Zions gewendet hat, da waren wir wie die Träumenden.
Da war unser Mund voll Lachens und unsre Zunge voll Rühmens.
Da sagte man unter den Völkern:Der Herr hat Großes an ihnen getan!“
(Ja,) der Herr hat Großes an uns getan; des waren wir fröhlich. –
Herr, wende unser Geschick (von Neuem), wie du die Bäche wiederbringst im Südland! –
Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten.
Sie gehen hin und weinen und tragen ihren Samen und kommen mit Freuden und bringen ihre Garben.

Haben Sie schon mal etwas erlebt, das Ihnen wie ein Traum vor­kam? Wo unerwartet etwas Wunderbares geschehen ist, viel zu schön, um wahr zu sein? Wo Sie gedacht haben: „Das ist ja Wahn­sinn! Das glaub ich jetzt nicht! Da muss ich mich erst mal kneifen, um zu wissen, ob ich nicht bloß träume“? So mag es zum Beispiel Menschen gehen, die unverhofft auf ihre große Liebe stoßen. Die nach langem Warten endlich das ersehnte Kind bekommen. Die wi­der Erwarten eine wichtige Prüfung bestehen. Oder deren Lieb­lingsver­ein doch noch die Meisterschaft gewinnt. Von irgendet­was in der Art könnten wir wahrscheinlich alle erzählen.

Allerdings kennen wir auch das Gegenteil. Dass etwas passiert, wo wir denken: „Hoffentlich ist das hier nur ein Alptraum, aus dem ich gleich aufwache“. Manchen von Ihnen mag es so ergangen sein, als Sie vom Tod oder von der tödlichen Krankheit eines geliebten Men­schen erfahren haben. Als Sie in einen schlimmen Unfall verwickelt wurden. Als Sie die Wahrheit über einen Menschen erfahren haben, der Ihnen nahestand und den Sie gut zu kennen glaubten. Als der Partner oder die Partnerin gesagt haben: „Das war’s, ich geh.“ Nur hilft in solcher Lage alles Kneifen nichts: der Alptraum bleibt real.

Auch Israel blickt im Psalm auf einen wahrgewordenen Traum zu­rück – einen von der positiven Sorte. Ein halbes Jahrhundert war damals vergangen, seit Jerusalem zerstört worden war. Die Babylo­nier hatten die Stadt dem Erdboden gleich gemacht und die meisten Bewohner nach Babel verschleppt. Dort lebten sie nun – nicht ge­rade als Gefangene hinter Schloss und Riegel, aber in sehr beschei­de­nen Verhältnissen, umgeben von Menschen, die sie verachte­ten und andere Götter verehrten, ohne Hoffnung auf Heim­kehr. Doch dann geschah die unverhoffte Wende: Der Perserkönig Kyros ver­leib­te Babel seinem Reich ein. Und er erlaubte den Judä­ern, nach Jerusalem zurückzukehren und die Stadt wiederaufzu­bauen. Die De­por­tierten konnten ihr Glück kaum fassen. Und sie waren überzeugt, dass Gott hier am Werk war. Er hatte Zions Geschick gewendet, er hatte die Gefangenen erlöst. Nun würde er bestimmt auch das Reich für Israel wieder­aufrichten und all die großartigen Verheißungen seiner Propheten wahr machen. Voller Elan zogen viele in die alte Heimat und mach­ten sich ans Werk.

Doch auch wenn schöne Träume wahr werden, folgt oft ein böses Erwachen. Als erstes bauten die Rückkehrer den Tempel des Herrn wieder auf, aber längst nicht so prächtig, wie er einmal war. Und danach kam der Aufbau bald ins Stocken. Die verbliebenen Bewoh­ner hatten das Land längst unter sich aufgeteilt. Alteigentümer aus dem Osten waren da nicht besonders willkommen. Und die Nach­barvöl­ker wollten erst recht kein wiedererstarktes Israel. Der Herr mochte Großes an seinem Volk getan haben, aber ihr Bestre­ben ging dahin, dieses Volk klein zu halten. Deshalb behinderten sie den Wiederaufbau, wo sie konnten. Von den Persern kam auch keine weitere Hilfe. Und so blieben die Verhältnisse elend und arm. Die Blütenträume der Propheten wollten einfach nicht reifen.

Man könnte verstehen, wenn Israel nun alle Hoffnung fahren ließe. Aber zumindest die Sänger dieses Psalms tun das nicht. Sie wollen nicht vergessen, wie das war, als der Herr ihr Geschick gewendet hat: das Lachen, den Jubel, die Freude, das Staunen der Umwelt. Sie wollen sich mit dem bösen Erwachen nicht abfin­den. Und deshalb wenden sie sich wieder an ihren Gott. Sie pilgern zum Tempel, sin­gen dabei Wallfahrtslieder wie dieses und flehen den Herrn an, zu vollenden, was er begonnen hat. So wie die ausge­trockneten Bäche in der Negev-Wüste wieder Wasser führen, wenn das Frühjahr kommt, so möge Gott sein Volk neu beleben und das Land Israel zu neuer Blüte führen. So bitten sie. Und sie lassen sich zusprechen, dass ihre Hoffnung nicht vergebens ist: „Die mit Tränen säen, wer­den mit Freuden ernten. Sie gehen hin und weinen und tragen ihren Samen und kommen mit Freuden und bringen ihre Gar­ben.“

Gerade diese letzten Worte des Psalms haben Menschen immer wieder berührt und bewegt – Juden und Christen, Gläubige und Ungläu­bige. Große Komponisten wie Johannes Brahms haben wun­der­bare Musik dazu geschrieben – ich durfte dabei gestern mal wieder mitsingen. Viele Trauernde haben darin Trost gefunden. Vie­len, die sonst am Leid der Welt verzweifeln würden, geben sie Hoff­nung und Zuversicht. Aber sind sie auch wahr?

Nun, bei den ersten Hälften der beiden Verse wird das niemand bestreiten. Welcher Mensch, der sich in der Welt umschaut und noch ein Herz hat, möchte nicht weinen über so viel Leid, über all das Töten und Zerstören? Wer möchte nicht Tränen der Trauer oder der Wut vergießen, wenn er sieht, wie wir Menschen Gottes gute Schöpfung kaputt machen, wie wir es nicht schaffen, der Gewalt ein Ende zu machen, wie wir immer wieder daran scheitern, dass Men­schen sicher und Frieden leben können – mit allem, was sie dafür brauchen? Die Tränensaat nimmt kein Ende. Und wir leiden darun­ter und sind zugleich schuld daran. Kann sich da irgendjemand noch ein „Ernten mit Freuden“ vorstellen? Wird der Herr die Gefangenen der Hamas doch noch heimkehren lassen wie einst die Deportierten aus Babel? Werden die Kinder von Gaza je wieder unbeschwert la­chen können? Wird es in Kiew jemals Jubel geben, weil der Krieg vorbei und die Freiheit gesichert ist? Wird die Menschheit jemals lernen, im Einklang mit der Natur zu leben?

Es ist im Moment besonders schwer, auf solche Fragen Mut ma­chende Antworten zu finden. Aber zwei Dinge möchte ich doch dazu sagen. Das eine entnehme ich dem Text des Psalms, das andere weist darüber hinaus.

Im Psalm schöpft Israel Kraft und Hoffnung aus der Erinnerung. „Wir haben es doch schon erlebt“, heißt es da: „Gott kann unser Geschick wenden, und das völlig unverhofft und aus scheinbar auswegloser Lage.“ Ich denke, wenn wir auf unser Leben zurückschauen, werden wir solche Dinge auch entdecken: dass auch scheinbar endlose Durst­strecken irgendwann vorbei sind, dass sich ein Ausweg findet aus einer schweren Lebenssituation, dass auch nach schlimmen Verlus­ten das Leben weitergeht, dass es Trost gibt auch in der tiefs­ten Trauer. Und auch die Geschichte hält Beispiele dafür bereit: Wer hätte etwa vor dem Herbst 1989 für möglich gehalten, dass die Mauer verschwindet und friedlicher Protest die Diktaturen Osteuro­pas zusammenbrechen lässt? Damals waren wir Deutschen doch auch wie die Träumenden – nur haben die meisten diese Wende unseres Geschicks nicht dem Wirken Gottes zugeschrieben. Aber warum eigentlich nicht? Warum sollte Gott nicht am Werk sein, wo sich Dinge unverhofft zum Guten wenden – für uns persönlich und für unsere Welt? Und wie kommen wir eigentlich auf die Idee, dass alles immer nur schlimmer wird – wo es doch so viele Beispiele für das Gegenteil gibt? Erst wenn wir wirklich alle Hoffnung fahren lie­ßen, wäre es aus und vorbei, aber dazu haben gerade wir als Chris­ten keinen Grund.

Das ist das eine. Aber es reicht noch nicht. Denn niemand, der mit Freuden geerntet hat, weiß, ob bei der nächsten Aussaat nicht doch wieder Tränen fließen. Auf die Glücksmomente unseres Lebens kön­nen auch wieder Tiefschläge folgen. Und auch 1989 war nicht das gute „Ende der Geschichte“, das mancher damals vorschnell ausge­ru­fen hat. Solange die Erde steht werden nicht aufhören La­chen und Weinen, Freude und Trauer, Glück und Leid. Denn wir le­ben nun einmal nicht in einer heilen Welt. Und wir Menschen kön­nen sie auch nicht heil machen. Nur Gott kann das. Nur er kann ei­nen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, wo es kein Leid, kein Geschrei, keinen Schmerz mehr gibt, wo der Tod nicht mehr sein wird, und wo Gott abwischen wird alle Tränen von unseren Augen – nicht bis zum nächsten Unglück, sondern für immer. Und ich glaube, er kann das nicht nur, sondern er wird es auch tun. Denn er hat damit schon angefangen, als er in Jesus Christus Mensch gewor­den ist. Und er baut weiter an seiner neuen Welt. Noch tut er es im Verborgenen. Noch können wir es nur zu leicht übersehen. Aber wir dürfen dabei mitmachen. Wir dürfen Leid und Tod bekämp­fen, wir dürfen Tränen abwischen mit allen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen. Dabei könnte so viel Gutes geschehen, dass wir schon hier und jetzt sein könnten wie die Träumenden. Und es wäre ein Traum ohne böses Erwachen, weil Gott ihn Wirklichkeit werden lässt. Amen.