Predigt Wenschtkirche, Sonntag, 21.11.2021

Gottesdienst für den Ewigkeitssonntag

Text: Jes 65,17-25

Gut 80 Bestattungen hatten wir im vergangenen Kirchenjahr. Und viele von Ihnen sind ein- oder mehrmals dabei gewesen: als nahe Angehörige, als Freunde, Nachbarn, Mitchristen. Sie wissen also, wie das vor sich geht: Man hält einen Trauergottesdienst, man begleitet den Sarg oder die Urne zum Grab, man beerdigt sie auf dem Friedhof oder im Wald, man wünscht Beileid oder nimmt es entgegen, man ist traurig, beim Kaffee danach manchmal schon wie­der fröhlich. Dann wird das Grab zugeschaufelt, mit Blumen be­pflanzt oder mit Wiese bedeckt, besucht und gepflegt oder auch nicht, und von den Ver­stor­benen bleiben nur Er­innerungen. Anfangs tun sie noch weh, später meistens nicht mehr so sehr – Gott sei Dank –, aber sie verblassen auch und gehen verloren. Und für uns Hinter­bliebene geht das Leben weiter – verän­dert, aber doch vertraut.

Aber was geschieht mit denen, die gestorben sind? Wo sind sie jetzt? Sind sie einfach weg? Liegt alles, was von ihnen übrig ist, in diesem Grab? Leben sie weiter in unseren Erinnerungen? (Aber was ist dann, wenn keiner mehr da ist, der sich erinnern kann?) Leben sie weiter in ihren Kindern, Enkeln, Urenkeln? (Aber was ist dann mit denen, die keine Nachkommen ha­ben?) Lebt ihr Geist, ihre Seele irgendwie noch unter uns? Werden sie wiedergeboren in ande­rer Gestalt? Sind sie bei Gott? Schlafen sie bis zur Auferweckung am jüngsten Tag?

Diese Fragen beschäftigen uns, wenn wir vom Tod betroffen sind. Aber niemand kann sie endgültig beantworten. Das gilt auch für den christlichen Glauben. Denn erstens gibt es schon in der Bibel unter­schiedliche Antworten, die man nicht alle auf einen Nenner bringen kann. Und zweitens lässt sich heute kaum noch je­mand eine Antwort einfach vorschreiben. Jede und jeder betrachtet es so, wie man es sich am besten vorstel­len kann und wie es für einen selber am tröstlichs­ten ist.

Auch der heutige Predigttext gibt eine Antwort. Aber weil es so ist, wie ich es gerade beschrieben habe, kann ich mich auch mit diesem Text nicht hinstellen und sagen: So ist es, so wird es sein und nicht anders. Aber ich kann in diesem Text Entdeckungen machen, die mich ins Nachdenken bringen und die mir dann vielleicht weiterhel­fen. Und zu einer solchen Entdeckungsreise möchte ich Sie ein­laden. Der Text steht im Buch des Propheten Jesaja, im 65. Kapitel:

Siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaf­fen,
dass man der vorigen nicht mehr gedenken
und sie nicht mehr zu Herzen nehmen wird.
Freut euch und seid fröhlich immerdar über das, was ich schaffe.
Denn siehe, ich erschaffe Jerusalem zur Wonne
und sein Volk zur Freude,
und ich will fröhlich sein über Jerusalem
und mich freuen über mein Volk.
Man soll in ihm nicht mehr hören die Stimme des Weinens
noch die Stimme des Klagens.
Es sollen keine Kinder mehr da sein, die nur einige Tage leben,
oder Alte, die ihre Jahre nicht erfüllen,
sondern als Knabe gilt, wer hundert Jahre alt stirbt,
und wer die hundert Jahre nicht erreicht, gilt als verflucht.
Sie werden Häuser bauen und bewohnen,
sie werden Weinberge pflanzen und ihre Früchte essen.
Sie sollen nicht bauen, was ein anderer bewohne,
und nicht pflanzen, was ein anderer esse.
Denn die Tage meines Volks werden sein wie die Tage eines Baumes,
und ihrer Hände Werk werden meine Auserwählten genießen.
Sie sollen nicht umsonst arbeiten
und keine Kinder für einen frühen Tod zeugen;
denn sie sind das Geschlecht der Gesegneten des Herrn,
und ihre Nachkommen sind bei ihnen.
Und es soll geschehen: Ehe sie rufen, will ich antworten;
wenn sie noch reden, will ich hören.
Wolf und Lamm sollen beieinander weiden;
der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind,
aber die Schlange muss Erde fressen.
Man wird weder Bosheit noch Schaden tun
auf meinem ganzen heiligen Berge, spricht der Herr.

Dieser Text erweitert unseren Horizont. Das ist die erste Entdeckung, die ich darin mache. Wenn wir uns fragen, was nach dem Tod kommt, haben wir meistens einen einzelnen Menschen im Blick: uns selbst oder jeman­den, um den wir trauern. Aber hier erfahren wir: es geht nicht nur um unser persönliches Schicksal, sondern um das Schicksal unserer Welt. Es geht nicht um unser Weiterleben nach dem Tod, sondern um einen neuen Himmel und eine neue Erde.

Gut, dass wir gerade am Totensonntag daran erinnert werden! Denn unsere persönliche Trauer um einen geliebten Verstorbenen ist ja nicht die einzige Weise, wie Menschen in dieser Welt leiden. Ich lese da zum Beispiel: „Niemand wird mehr Kin­der für einen frühen Tod zeugen“. Und ich muss an Säuglinge denken, die verhungern, kaum dass sie geboren sind. Oder an die Kinder im Hospiz Balthasar in Olpe, die sterben, lange bevor sie erwachsen sind. Ich lese: „Sie sol­len nicht bauen, was ein anderer bewohne“. Und ich muss an die vielen Menschen denken, die aus ihrer Heimat flüchten müssen oder vertrieben werden. Ich lese: „Sie sollen nicht pflanzen, was ein ande­rer esse.“ Und mir fallen die vielen kleinen Bauern ein, die von Großkonzernen ent­eignet und ausgebeutet werden, damit bei uns die Lebensmittel so schön billig bleiben. Ich lese: „Sie sollen nicht um­sonst arbeiten“. Und ich muss an Menschen denken, die damit fertig werden müs­sen, dass ihre Arbeit plötzlich nichts mehr wert ist. Ich lese: „Der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind“. Und ich denke daran, wie unser gewaltiger Fleischkonsum das Klima belastet und pflanzliche Nahrung ver­braucht, von der viele Menschen leben könnten.

Wenn ich das alles bedenke, dann kann ich nicht wollen, dass die Welt so bleibt, wie sie ist. Ich kann nur den neuen Himmel und die neue Erde herbeisehnen, von der das Jesajabuch spricht. Was für eine Welt, in der selbst die Tiere miteinander Frieden halten – geschweige denn die Menschen! Was für eine Welt, in der niemand mehr zur Unzeit sterben muss! Was für eine Welt, in der alle satt werden und die Früchte ihrer Arbeit genießen können! Was für eine Welt, in der Freude statt Trauer herrscht!

Wer würde sich so eine Welt nicht wünschen? Wer würde nicht alles tun, damit sie eines Tages Wirklichkeit wird? Nur – an der Stelle liegt der Haken! Denn der Weg vom Wunsch bis zu entsprechendem Handeln scheint unendlich weit zu sein – siehe Kli­makrise. Aber auch wenn Menschen wirklich mal daran gegangen sind, aus eigener Kraft eine neue Welt zu erschaffen, sind sie regelmäßig gescheitert. Karl Marx hat sich die kommunistische Gesellschaft nicht viel anders vorgestellt als die neue Erde bei Jesaja. Aber wenn man versucht hat, sie zu verwirklichen, kam immer so et­was wie die DDR dabei heraus. Oder wie Nordkorea.

Woran liegt das? Warum sind der neue Himmel und die neue Erde immer noch so fern? Als Christ bin ich überzeugt: es liegt an uns. Es liegt daran, wie wir Menschen sind, wie wir geworden sind durch unsere Sünde, unsere Schuld. Wir können keine heile Welt schaf­fen, weil wir nicht heil sind. Im Text sagt Gott: „Ehe sie rufen, will ich antworten; wenn sie noch reden, will ich hören.“ Aber so ist es ja eben nicht. Viele reden erst gar nicht mit Gott. An­dere tun es, aber leben trotzdem so, als ob es ihn nicht gäbe. Und wieder andere war­ten auf Gottes Antwort, aber bekommen keine. Unser Verhältnis zu unserem Schöpfer ist gestört. Deshalb gibt es von uns aus keinen Weg zu einer neuen Schöpfung.

Also aus der Traum von der schönen neuen Welt? Was uns angeht, ja. Aber in unserem Text steht ja auch nicht, dass wir den Traum verwirklichen sollen. Da steht: „Ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, spricht der Herr“. Das ist eine Verheißung, keine Aufforderung. Und ei­gentlich ist das ja auch logisch: Wenn Gott seine Schöpfung ein­schließlich uns Menschen nicht selbst heil macht, wer sollte es denn sonst tun?

Nur – tut er es denn auch irgendwann? Jetzt steht diese Verheißung schon zweieinhalbtausend Jahre im Raum, und es sieht so aus, als ob wir ihrer Erfüllung keinen Deut näher gekommen sind. Wir sollten jetzt nicht zu schnell mit der Erklärung kommen, dass tausend Jahre eben vor Gott wie ein Tag sind. Das kann nur jemanden beruhigen, der es sich in dieser Welt gut eingerichtet hat und den die Leiden die­ser Weltzeit weitgehend verschont haben. Alle anderen haben Recht, wenn sie ungeduldig werden und das Warten satt haben. Wir sollten also die Vaterunser-Bitte „Dein Reich komme“ nicht nur so daher sagen, sondern bitter ernst nehmen. Wenn nicht um unserer selbst willen, dann wenigstens um derer willen, für die jeder weitere Tag in dieser Welt ein Tag zuviel ist.

Und als Christen sollten wir eines nicht vergessen: Gott hat schon damit begonnen, seine Verheißung zu erfüllen. Er ist Mensch gewor­den und hat diesen Menschen Jesus von den Toten auferweckt. Das ist ein Stück vom neuen Himmel und von der neuen Erde. Man kann es leicht übersehen. Man kann auch behaupten, dass es gar nicht vor­handen ist. Aber wer einmal erfahren hat, dass es stimmt, was wir von Jesus Christus bekennen, wer gespürt hat, dass er da ist und lebt, der hat für seine Hoffnung festen Boden unter den Füßen. Der muss seine Träume von Gottes neuer Welt nicht wegwerfen, sondern kann schon jetzt Zeichen setzen für das, was kommt.

Und der Tod? Macht der nicht unsere Hoffnungen zunichte? Was ist denn mit den vielen, die gestorben sind, bevor der neue Himmel und die neue Erde Wirklichkeit sind? Unser Text spricht nur davon, dass niemand mehr unzeitig sterben muss, dass jeder Mensch seine volle Lebensspanne ausschöpfen kann. Das ist schön für die, die es erle­ben, aber was ist mit den anderen? Diese Fragen hat man sich natür­lich auch schon zu biblischen Zeiten gestellt. Und deshalb konnten die Verheißungen der Bibel an diesem Punkt nicht stehen bleiben. Schon am Ende der alttestamentlichen Zeit keimt die Hoffnung auf eine Auf­erstehung der Toten. Und die Erfahrung der Auferstehung Jesu ver­half dieser Hoffnung zum Durchbruch. Wenn das Neue Tes­tament von einem neuen Himmel und einer neuen Erde spricht, dann gehört dazu auch der Satz: „Der Tod wird nicht mehr sein“. Wir ha­ben es eben in aus der Offenbarung des Johannes gehört. Wenn das stimmt, dann haben nicht nur die Anteil an Gottes neuer Welt, die das Glück haben, sie noch zu erleben. Sondern dann sind auch alle Verstorbenen in Gottes Hand und werden mit dabei sein, wenn er die neue Welt erschafft.

Übersteigt das Ihre Vorstellungskraft? Meine auch. Und trotzdem dürfen wir darauf hoffen – Gott sei Dank! Amen.

Ihr Pastor Martin Klein