Predigt Wenschtkirche, Sonntag 2.November 2014

Gottesdienst für den zwanzigsten Sonntag nach Trinitatis 

Text: 2. Kor 3,1-6

Fangen wir denn abermals an, uns selbst zu empfehlen? Oder brau­chen wir, wie gewisse Leute, Empfehlungsbriefe an euch oder von euch? Ihr seid unser Brief, in unser Herz geschrieben, erkannt und gelesen von allen Menschen! Ist doch offenbar geworden, dass ihr ein Brief Christi seid, durch unsern Dienst zubereitet, geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht auf steinerne Tafeln, sondern auf fleischerne Tafeln, nämlich eure Herzen. Solches Vertrauen aber haben wir durch Christus zu Gott. Nicht dass wir tüchtig sind von uns selber, uns etwas zuzurechnen als von uns selber; sondern dass wir tüchtig sind, ist von Gott, der uns auch tüchtig gemacht hat zu Dienern des neuen Bundes, nicht des Buchstabens, sondern des Geistes. Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.

„Der Buchstabe tötet“, sagt Paulus. Und ich bin versucht, zu denken: Ach Paulus, was weißt du denn schon? Was wurde zu deiner Zeit denn überhaupt geschrieben? Die meisten Menschen konnten mit Schriftlichem gar nichts anfangen, und für alle anderen hieß es: Fass dich kurz, denn Papyrus und Pergament sind teuer! Alles geschrie­bene Wissen der Welt passte damals bequem in eine überschaubare Bibliothek, und das wichtigste davon konnte jeder Gelehrte gelesen haben. Die Gefahr, von der Fülle toter Buchstaben erschlagen zu werden – bildlich gesprochen –, war also sehr gering.

Heute dagegen, lieber Paulus, heute würde es dich wirklich um­hauen. Denn bei uns heißt es nicht: „Der Buchstabe tötet“, sondern: „Wer schreibt, der bleibt. Und wer mehr schreibt, bleibt länger.“ Deshalb wird allenthalben geschrieben und gedruckt, gespeichert und dokumentiert, gemailt und gepostet, gesimst und getwittert, was das Zeug hält. Die moderne Technik macht’s ja möglich. Und die Schwierigkeit, überhaupt noch Aufmerksamkeit zu finden, macht’s anscheinend nötig – ebenso wie das Bedürfnis, sich nach allen Sei­ten abzusichern. Wer heute einen Bestseller-Roman schreiben will, der darf sich nicht auf einen schmalen Band beschränken, sondern plant am besten gleich eine Trilogie von mehreren tausend Seiten. Wer bei der Arbeit ständig von Klagen und Beschwerden bedroht ist oder das moderne „Qualitätsmanagement“ im Nacken hat, der ver­bringt manchmal mehr Zeit mit Buchführung und Dokumentation als zum Beispiel mit der Pflege von Patienten oder der Erziehung von Kindern. Wer erfolgreich Terroristen jagen will, der hat das Gefühl, er muss alles erfassen und abspeichern, was auch nur von ferne ver­dächtig sein könnte. Und immer mehr Jugendliche, aber auch Erwach­sene scheinen von der Welt nur noch das Display ihres Smart­phones wahrzunehmen, wo ständig neue Nachrichten einge­hen und irgendwas abzuchecken ist.

Ich frage mich: Wer soll das alles eigentlich noch lesen? Wer soll noch entscheiden können, welche Information ernsthaft wichtig, welches Buch wirklich gut ist? Und wer soll noch die Übersicht behal­ten über das Weltgeschehen oder auch nur über das eigene Leben? Ich persönlich nutze ja gar nicht alle Kommunikationsmög­lich­­­kei­ten – schon allein, weil ich die neusten davon gar nicht beherr­sche und das Handy gern mal zu Hause ver­gesse. Trotzdem erreicht mich jeden Tag eine solche Fülle von Nachrich­ten, auf die ich irgendwie reagieren müsste, dass ich manch­mal laut Stopp schreien möchte.

Aber es würde nichts helfen. Ich würde deshalb vermutlich nicht eine E-Mail weniger kriegen. Und so wird es wohl kommen, wie es kommen muss: Die Welt wird weiter nicht nur zubetoniert, sondern auch zugetextet, und erst wenn das letzte echte Gespräch ver­stummt ist und das letzte Wort durch zu häufigen Gebrauch seinen Wert verloren hat, werden wir merken, dass der menschliche Geist in der Flut der Buchstaben längst ertrunken ist.

An all das hat Paulus natürlich nicht gedacht, als er das von dem tötenden Buchstaben geschrieben hat. Aber eine Ahnung hatte er wohl schon. Buchstaben, das wusste er, sind nichts Lebendiges. Sie können bestenfalls ein schwaches Abbild des wirklichen Lebens sein. Wer also an Buchstaben klebt und in einer Buchstabenwelt lebt, der verpasst die Wirklichkeit. Wer meint, dass er wortwörtlich erfüllen muss, was irgendwo geschrieben steht, wer glaubt, dass nur das gilt, was jemand Schwarz auf Weiß festgehalten ist, der ist nicht wirklich lebendig. Er funktioniert höchstens, und früher oder später ist er zum Scheitern verurteilt, weil sich das Leben eben nicht in Buchsta­ben zwängen lässt.

Das gilt nach Paulus sogar, wenn es sich bei dem Geschriebenen um die steinernen Gesetzestafeln des Mose handelt, die Gott höchstpersön­lich beschriftet hat. Wer vor diesen Tafeln in Ehrfurcht erstarrt und sagt: Das steht da, also ist es strikt einzuhalten, und das Wort für Wort und von allen und unter allen Umständen, der nimmt diese Tafeln eben nicht als lebendiges Wort Gottes wahr, sondern als toten Gesetzestext, aus dem der Geist Gottes, der ihn hervorge­bracht hat, längst ausgezogen ist.

Paulus hat dagegen eine Alternative anzubieten: Achtet zuerst auf den Geist, sagt er den Korinthern. Schaut nicht auf Geschriebenes. Schaut nicht auf Empfehlungsbriefe, mit denen fremde Missionare euch beeindrucken und mich ausstechen wollen. Schaut auch nicht auf den Buchstaben der Bibel. Sondern schaut zuerst auf euch selbst. Denn ihr seid ein Brief, den Jesus Christus selber geschrieben hat – nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht auf Stein oder Papier, sondern in mein und in euer Herz. Des­halb seid ihr lebendig, deshalb habt ihr das Leben, das Gott euch schenken will. Und jeder Mensch, der euch begegnet, kann das an euch ablesen und an eurem Leben teilhaben.

Ein wunderbares Bild ist das: die Gemeinde in Korinth, auch die Ge­meinde in Klafeld als lebendiger Brief Jesu Christi – offen, für alle, die ihn lesen wollen. So wünsche ich mir christliche Gemeinde. Nicht als Text über Gott, den man irgendwo abspeichert – im Hirn oder auf Festplatte. Auch nicht als buntes Abziehbild von Gott oder als angeblich lebensechte Computersimulation, sondern als eine Gemein­schaft von Menschen, wo man dem Gott, an den wir glau­ben, wirklich begegnen kann. Wo der Funke des Geistes überspringt auf Kopf und Herz und alle Sinne. Wo man spüren kann: Hier werde ich nicht gelebt von der Wörter- und Bilderflut, die täglich auf mich niedergeht, sondern hier lebe ich wirklich, und das mit einem Sinn und einem Ziel.

Ja, und die Bibel? fragt jetzt vielleicht mancher. Ist das geschriebene Wort denn dann völlig überflüssig oder gar gefährlich? Nein, ist es nicht. Denn nur die Bibel hält für uns die grundlegenden Erfahrun­gen fest, die Menschen mit Gott gemacht haben. Nur hier begegnet uns die Botschaft von Jesus Christus. Nur hier bekommen wir Aus­kunft, wie der Geist Gottes in der Welt wirkt. Aber wir erfahren das alles nicht durch wortwörtliches Buchstabieren. Wir erfahren es nicht, indem wir jedes Wort eins zu eins in die Gegenwart übertra­gen, indem wir die Bibel wie einen Gesetzestext oder eine Gebrauchs­anweisung behandeln. Sondern wir erfahren es dann, wenn wir sie in dem gleichen Geist lesen, in dem sie geschrieben wurde, wenn aus den Erfahrungen von damals für uns wieder leben­dige Erfahrungen werden. Das können wir freilich nicht bewirken, sondern Gottes Geist muss es uns schenken. Aber weil der uns schon ins Herz geschrieben ist, kann es gelingen. Und es gelingt auch, wann immer ein Wort der Bibel einen Menschen anspricht, verändert und in Bewegung setzt.

Auch in unserer Gemeinde geschieht das immer wieder. Und des­halb hoffe ich, dass auch der kleine Rafael das im Lauf seines Lebens erfährt. Mit seiner Taufe wurde der Brief Christi, der unsere Ge­meinde ist, wieder ein kleines Stück weitergeschrieben. Wieder ge­hört ein neuer Mensch dazu, kann durch Gottes Geist im Glauben wachsen und Schritte ins Leben tun.  Wir wollen ihn dabei begleiten und unseren Teil dazu tun, dass er den Brief Christi, in dem er jetzt schon vorkommt, auch zu lesen kriegt, dass er ihn versteht und in die Tat umsetzt mit Herz, Mund und Händen. Möge es gut gelingen, damit sein Taufspruch für ihn ein lebendiges Gotteswort wird: „Ich will dich segnen, und du sollst ein Segen sein.“ Amen.

Pfarrer Dr. Martin Klein