GOTTESDIENST FÜR DEN DREIZEHNTEN SONNTAG NACH TRINITATIS
Text: Lk 10,25-37
Und siehe, da stand ein Gesetzeslehrer auf, stellte Jesus auf die Probe und sprach: „Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe?“ Er aber sprach zu ihm: „Was steht im Gesetz geschrieben? Wie liest du?“ Er antwortete und sprach: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft und deinem ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst«. Er aber sprach zu ihm: „Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben.“
Er aber wollte sich selbst rechtfertigen und sprach zu Jesus: „Wer ist denn mein Nächster?“ Da antwortete Jesus und sprach: „Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halb tot liegen. Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinab zog; und als er ihn sah, ging er vorüber. Desgleichen auch ein Levit: als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber. Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte es ihn; und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir’s bezahlen, wenn ich wiederkomme. Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste geworden dem, der unter die Räuber gefallen war?“ Er sprach: „Der die Barmherzigkeit an ihm tat.“ Da sprach Jesus zu ihm: „So geh hin und tu desgleichen!“
Muss ich über diesen Text wirklich noch predigen? Jeder, der überhaupt noch was aus der Bibel kennt, hat ihn doch schon mal gehört oder gelesen. Und die meisten, die heute hier sind, kennen ihn wahrscheinlich sogar in- und auswendig. Aber selbst wenn jemand die Geschichte vom „barmherzigen Samariter“ heute zum ersten Mal gehört haben sollte, konnte er ihr sicher problemlos folgen – einfach und klar, wie sie formuliert ist. Demnach müsste ich mich jetzt eigentlich nur noch dem Schlusswort Jesu anschließen: „Geht hin und handelt genauso!“ Dann könnten Sie getrost nach Hause gehen, um Ihren Nächsten Nächste zu werden. Wozu noch lange reden, wenn doch eigentlich klar ist, was wir zu tun haben?
Das Problem ist hier, wie so oft, das Wörtchen „eigentlich“. Das Problem ist, dass wir das, was eigentlich selbstverständlich ist, dann eben doch nicht tun. Beispiel gefällig? Bitte sehr:
Wenn ich mit Konfirmanden über dieses Thema geredet habe, dann habe ich ihnen öfters dieses Foto gezeigt. Da liegt ein Mann auf der Straße, vermutlich irgendwo in einer Fußgängerzone. Einfach so. Auf dem Foto ist nicht eindeutig zu erkennen, was das für einer ist und warum er da liegt. Es könnte ein Penner sein, der seinen Rausch ausschläft. Es könnte aber auch einer sein, der, warum auch immer, auf der Straße zusammengebrochen ist und einen Arzt braucht. Es könnte sogar sein, dass jemand diesen Mann zusammengeschlagen und ausgeraubt hat. Und es ist nicht einmal klar, ob der Mann noch lebt. All das ist natürlich immer auch den Konfirmanden eingefallen. Aber richtig interessant ist es erst geworden, wenn sie die Szene nachgespielt haben: Einer hat sich auf den Boden gelegt, so wie der Mann auf dem Bild, und die anderen haben die zufälligen Passanten gespielt. Einige sind in weitem Bogen drumherum gelaufen. Andere haben kurz hingeschaut und dann im Weitergehen den Kopf geschüttelt oder eine wegwerfende Handbewegung gemacht. Manche haben drüber gelacht, der eine oder andere hat dem am Boden Lie-genden sogar einen Fußtritt versetzt. Und nur selten ist jemand ste-hengeblieben, hat sich heruntergebeugt und gefragt: „Kann ich Ihnen helfen?“
Ich halte dieses Rollenspiel für einen ziemlich realistischen Spiegel der Wirklichkeit. Und ich denke, wir haben alle schonmal ähnliche Situationen erlebt. Auch in Siegen auf der Bahnhofstraße würden wohl die meisten einfach vorbeigehen, wenn da jemand liegen würde – darunter vielleicht sogar Pfarrer und Presbyter, mit Sicherheit aber jede Menge anständige Bürgerinnen und Bürger. Und sie hätten sicher alle eine passende Ausrede parat: „Keine Zeit!“ – „Dem ist eh nicht zu helfen!“ – „Was sollte gerade ich für den tun können?“ – „Und wenn das nun eine Falle ist?“ – „Es gehen doch genug andere hier vorbei, da muss doch nicht ausgerechnet ich …“ – „Wenn ich dem jetzt helfe, dann hab ich ihn am Hals und werde ihn nicht wieder los!“ Und so weiter und so fort.
Alle diese Ausreden laufen auf ein und dasselbe hinaus: Wenn ich so rede, dann habe ich nicht erkannt, dass der da auf der Straße mein Nächster ist. Denn ich hätte es gern so wie der Gesetzeslehrer, mit dem Jesus diskutiert: Ich würde die Welt gern säuberlich in „Nächs-te“ und „Nicht-Nächste“ unterteilen. Ich wüsste gern generell, wer mein Nächster ist und wer nicht, um wen ich mich kümmern muss und wen ich anderen überlassen kann. Und noch lieber würde ich mir meine Nächsten aussuchen: meine Familie und meine Freunde natürlich, vielleicht noch meine Kirchengemeinde und eventuell sogar ein paar Hilfsbedürftige, die mir irgendwie sympathisch sind. Ein Patenkind bei der Kindernothilfe zum Beispiel, das jedes Jahr zu Weihnachten brav einen Dankesbrief schreibt. Eine nette Familie, die völlig unverschuldet in Not geraten ist. Oder die Oma von nebenan, die sich ja so freut, wenn ich für sie einkaufen gehe, und die dafür auch immer gern was springen lässt. Aber Jugendliche, die mit Randale nach Liebe und Anerkennung schreien? Alkohol- und Drogenabhängige, die sich seltsam benehmen und eine milde Gabe wohl sofort in neuen „Stoff“ umsetzen würden? Migranten, deren Kultur und Religion mir fremd sind, vielleicht gar Angst machen? Die sind als „Nächste“ sehr viel schwerer vermittelbar. Die überlassen wir lieber den Profis: Ärzten und Sanitätern, Therapeuten und Pflegern, Pfarrern und Sozialarbeitern, den Behörden und der Polizei. Nur sind die leider nicht immer gleich greifbar, wenn’s nötig wäre.
Aber wie auch immer: Der Gesetzeslehrer in mir liegt falsch. Denn sobald ich anfange, das Wort „Nächster“ zu definieren oder meine Nächsten aufzuzählen, gerate ich ins verkehrte Fahrwasser. Deshalb macht Jesus nichts dergleichen. Stattdessen erzählt er eine Geschichte: eine zufällige Begebenheit, in der zwei Menschen sich zu Nächsten werden. Denn wenn der Samariter dem Mann auf dem Weg nach Jericho begegnet wäre, bevor er unter die Räuber fiel, dann hätte er ihn sicher nicht zu seinen „Nächsten“ gerechnet: „Ein Wildfremder, noch dazu ein Jude, der uns Samariter zutiefst verachtet? Nie würde ich dem helfen – um nichts auf der Welt!“ Aber dann kommt alles anders. Da liegt ein Mensch halbtot am Straßenrand, und der Samariter erkennt: „Ich und niemand sonst bin der, der hier helfen kann, ja helfen muss!“ Und dann tut er das, was nötig ist – nicht mehr und nicht weniger: Er leistet erste Hilfe und sorgt dafür, dass sich jemand weiter um den Verletzten kümmert. Hätte der ihn gefragt: „Warum tust du das für mich?“ hätte er vielleicht nur mit den Achseln gezuckt und gesagt: „Ich konnte dich doch nicht einfach da liegen lassen!“
Ich denke, uns ergeht es nicht anders. Gott schickt uns unsere Nächsten über den Weg, und ich glaube wir merken dann auch: Jetzt bin ich gefragt, jetzt muss ich helfen, so gut ich kann – ganz egal, was ich von dem, der meine Hilfe braucht, normalerweise zu halten pflege. Es fehlt dann nur noch der kleine Ruck, den ich mir geben muss, damit ich es auch tue.
Vielleicht fällt der Ruck mir leichter, wenn ich zum Schluss die Geschichte vom barmherzigen Samariter nochmal aus einem anderen Blickwinkel betrachte. Lange Zeit hat man sie nämlich gar nicht in erster Linie als ein Beispiel für Mitmenschlichkeit gelesen, sondern als Geschichte über Jesus Christus. Man hat ihn selbst als den barmherzigen Samariter gesehen, dem die Not der Menschen ans Herz geht und der alles tut, um diese Not zu überwinden – bis hin zu seinem Tod am Kreuz. Diese Deutung trifft wohl nicht den ursprünglichen Sinn der Geschichte, aber es steckt doch eine tiefe Wahrheit darin: Bevor wir überhaupt anfangen können, unsere Nächsten zu lieben, hat Christus uns längst zu seinen Nächsten gemacht. Er liebt den, der hilft, und den, der Hilfe braucht, und wo die beiden sich begegnen und zu Nächsten werden, da ist er mit dabei. Er ist in dem, der unsere Hilfe braucht, und hilft uns, ihn mit seinen Augen zu sehen. Deshalb dürfte es uns eigentlich nicht mehr schwer fallen, hinzugehen und das zu tun, was Jesus an unserer Stelle tun würde. Also sage ich jetzt doch Ihnen und mir: „Geht hin und tut desgleichen.“ Und damit ist die Predigt zu Ende. Amen.
Ihr Pastor Martin Klein