Predigt, Wenschtkirche, Sonntag, 15.09.2019

GOTTESDIENST FÜR DEN DREIZEHNTEN SONNTAG NACH TRINITATIS

Text: Lk 10,25-37

Und siehe, da stand ein Gesetzeslehrer auf, stellte Jesus auf die Probe und sprach: „Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe?“ Er aber sprach zu ihm: „Was steht im Gesetz ge­schrieben? Wie liest du?“ Er antwortete und sprach: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft und deinem ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst«. Er aber sprach zu ihm: „Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du le­ben.“

Er aber wollte sich selbst rechtfertigen und sprach zu Jesus: „Wer ist denn mein Nächster?“ Da antwortete Jesus und sprach: „Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halb tot liegen. Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinab zog; und als er ihn sah, ging er vor­über. Desgleichen auch ein Levit: als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber. Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte es ihn; und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir’s be­zahlen, wenn ich wiederkomme. Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste geworden dem, der unter die Räuber gefallen war?“ Er sprach: „Der die Barmherzigkeit an ihm tat.“ Da sprach Jesus zu ihm: „So geh hin und tu desgleichen!“

Muss ich über diesen Text wirklich noch predigen? Jeder, der über­haupt noch was aus der Bibel kennt, hat ihn doch schon mal ge­hört oder gele­sen. Und die meisten, die heute hier sind, kennen ihn wahr­scheinlich sogar in- und auswendig. Aber selbst wenn jemand die Geschichte vom „barmherzigen Samariter“ heute zum ersten Mal gehört haben sollte, konnte er ihr sicher problem­los folgen – einfach und klar, wie sie formuliert ist. Demnach müsste ich mich jetzt ei­gentlich nur noch dem Schlusswort Jesu anschließen: „Geht hin und handelt genauso!“ Dann könnten Sie getrost nach Hause gehen, um Ihren Nächsten Nächste zu werden. Wozu noch lange re­den, wenn doch eigentlich klar ist, was wir zu tun haben?

Das Problem ist hier, wie so oft, das Wörtchen „eigentlich“. Das Problem ist, dass wir das, was eigentlich selbstverständlich ist, dann eben doch nicht tun. Beispiel gefällig? Bitte sehr:

Wenn ich mit Konfirmanden über dieses Thema geredet habe, dann habe ich ihnen öfters dieses Foto gezeigt. Da liegt ein Mann auf der Straße, vermutlich irgendwo in einer Fußgän­gerzone. Einfach so. Auf dem Foto ist nicht ein­deutig zu erkennen, was das für einer ist und warum er da liegt. Es könnte ein Penner sein, der seinen Rausch ausschläft. Es könnte aber auch einer sein, der, warum auch immer, auf der Straße zu­sammengebro­chen ist und einen Arzt braucht. Es könnte sogar sein, dass jemand diesen Mann zusammengeschlagen und ausgeraubt hat. Und es ist nicht einmal klar, ob der Mann noch lebt. All das ist natürlich immer auch den Konfirmanden eingefallen. Aber richtig inte­res­sant ist es erst geworden, wenn sie die Szene nachgespielt haben: Einer hat sich auf den Boden gelegt, so wie der Mann auf dem Bild, und die anderen haben die zufälligen Pas­santen gespielt. Einige sind in weitem Bogen drumherum gelaufen. Andere haben kurz hingeschaut und dann im Weitergehen den Kopf ge­schüttelt oder eine wegwerfende Handbewegung gemacht. Manche haben drüber gelacht, der eine oder andere hat dem am Boden Lie-genden sogar einen Fußtritt versetzt. Und nur selten ist jemand ste-hengeblieben, hat sich heruntergebeugt und gefragt: „Kann ich Ihnen helfen?“

Ich halte dieses Rollenspiel für einen ziemlich realistischen Spiegel der Wirklichkeit. Und ich denke, wir haben alle schonmal ähn­liche Situationen erlebt. Auch in Siegen auf der Bahnhofstraße würden wohl die meisten einfach vorbeigehen, wenn da jeman­d liegen würde – darunter vielleicht sogar Pfarrer und Presbyter, mit Sicherheit aber jede Menge anständige Bürgerinnen und Bürger. Und sie hätten si­cher alle eine passende Ausrede parat: „Keine Zeit!“ – „Dem ist eh nicht zu helfen!“ – „Was sollte gerade ich für den tun können?“ – „Und wenn das nun eine Falle ist?“ – „Es gehen doch genug andere hier vorbei, da muss doch nicht ausgerech­net ich …“ – „Wenn ich dem jetzt helfe, dann hab ich ihn am Hals und werde ihn nicht wieder los!“ Und so weiter und so fort.

Alle diese Ausreden laufen auf ein und dasselbe hinaus: Wenn ich so rede, dann habe ich nicht erkannt, dass der da auf der Straße mein Nächster ist. Denn ich hätte es gern so wie der Gesetzeslehrer, mit dem Jesus diskutiert: Ich würde die Welt gern säuberlich in „Nächs-te“ und „Nicht-Nächste“ unterteilen. Ich wüsste gern generell, wer mein Nächster ist und wer nicht, um wen ich mich kümmern muss und wen ich anderen überlassen kann. Und noch lieber würde ich mir meine Nächsten aussuchen: meine Familie und meine Freunde na­türlich, vielleicht noch meine Kirchengemeinde und eventuell sogar ein paar Hilfsbedürftige, die mir irgendwie sym­pa­thisch sind. Ein Patenkind bei der Kindernothilfe zum Bei­spiel, das jedes Jahr zu Weihnachten brav einen Dankesbrief schreibt. Eine nette Familie, die völlig unverschuldet in Not geraten ist. Oder die Oma von nebenan, die sich ja so freut, wenn ich für sie einkaufen gehe, und die dafür auch immer gern was springen lässt. Aber Ju­gendliche, die mit Ran­dale nach Liebe und Anerkennung schreien? Alkohol- und Drogen­abhängige, die sich seltsam benehmen und eine milde Gabe wohl sofort in neuen „Stoff“ umsetzen würden? Mig­ranten, deren Kultur und Religion mir fremd sind, vielleicht gar Angst machen? Die sind als „Nächste“ sehr viel schwerer ver­mittel­bar. Die überlassen wir lieber den Profis: Ärzten und Sanitä­tern, Therapeuten und Pflegern, Pfarrern und Sozialarbeitern, den Behör­den und der Polizei. Nur sind die leider nicht immer gleich greifbar, wenn’s nötig wäre.

Aber wie auch immer: Der Gesetzeslehrer in mir liegt falsch. Denn sobald ich anfange, das Wort „Nächster“ zu definieren oder meine Nächsten aufzuzählen, gerate ich ins verkehrte Fahrwasser. Deshalb macht Jesus nichts dergleichen. Stattdessen erzählt er eine Ge­schichte: eine zufällige Begebenheit, in der zwei Menschen sich zu Nächsten werden. Denn wenn der Samariter dem Mann auf dem Weg nach Jericho begegnet wäre, bevor er unter die Räuber fiel, dann hätte er ihn sicher nicht zu seinen „Nächsten“ gerechnet: „Ein Wild­fremder, noch dazu ein Jude, der uns Samariter zutiefst verachtet? Nie würde ich dem helfen – um nichts auf der Welt!“ Aber dann kommt alles anders. Da liegt ein Mensch halbtot am Straßenrand, und der Samariter erkennt: „Ich und niemand sonst bin der, der hier helfen kann, ja helfen muss!“ Und dann tut er das, was nötig ist – nicht mehr und nicht weniger: Er leistet erste Hilfe und sorgt dafür, dass sich jemand weiter um den Verletzten kümmert. Hätte der ihn gefragt: „Warum tust du das für mich?“ hätte er vielleicht nur mit den Achseln gezuckt und gesagt: „Ich konnte dich doch nicht einfach da lie­gen lassen!“

Ich denke, uns ergeht es nicht anders. Gott schickt uns unsere Nächsten über den Weg, und ich glaube wir merken dann auch: Jetzt bin ich gefragt, jetzt muss ich helfen, so gut ich kann – ganz egal, was ich von dem, der meine Hilfe braucht, normalerweise zu halten pflege. Es fehlt dann nur noch der kleine Ruck, den ich mir geben muss, damit ich es auch tue.

Vielleicht fällt der Ruck mir leichter, wenn ich zum Schluss die Ge­schichte vom barmherzigen Samariter nochmal aus einem anderen Blick­win­kel betrachte. Lange Zeit hat man sie nämlich gar nicht in erster Li­nie als ein Beispiel für Mitmenschlichkeit gelesen, son­dern als Ge­schichte über Jesus Christus. Man hat ihn selbst als den barm­her­zi­gen Samariter gesehen, dem die Not der Menschen ans Herz geht und der alles tut, um diese Not zu überwinden – bis hin zu sei­nem Tod am Kreuz. Diese Deutung trifft wohl nicht den ursprüngli­chen Sinn der Geschichte, aber es steckt doch eine tiefe Wahr­heit darin: Bevor wir überhaupt anfangen können, unsere Nächsten zu lieben, hat Christus uns längst zu seinen Nächsten gemacht. Er liebt den, der hilft, und den, der Hilfe braucht, und wo die beiden sich begegnen und zu Nächsten werden, da ist er mit dabei. Er ist in dem, der unsere Hilfe braucht, und hilft uns, ihn mit seinen Augen zu se­hen. Deshalb dürfte es uns eigentlich nicht mehr schwer fallen, hin­zugehen und das zu tun, was Jesus an unserer Stelle tun würde. Also sage ich jetzt doch Ihnen und mir: „Geht hin und tut desgleichen.“ Und damit ist die Predigt zu Ende. Amen.

Ihr Pastor Martin Klein