Predigt Wenschtkirche, Sonntag, 11.06.2023

Gottesdienst am ersten Sonntag nach Trinitatis

Text: 1.Joh 4,16b-21

Gott ist Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm. Darin ist die Liebe bei uns vollendet, auf dass wir Frei­heit haben, zu reden am Tag des Gerichts; denn wie er ist, so sind auch wir in dieser Welt. Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus. Denn die Furcht rechnet mit Strafe; wer sich aber fürchtet, der ist nicht vollkommen in der Liebe. Lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt. Wenn jemand spricht: Ich liebe Gott, und hasst seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, der kann Gott nicht lieben, den er nicht sieht. Und dies Gebot haben wir von ihm, dass, wer Gott liebt, dass der auch seinen Bruder liebe.

„Gott ist Liebe“ – drei Wörter nur. Aber sie haben eine so gewal­tige Wirkungsgeschichte wie kaum ein anderer Satz aus der Bibel. Und das mit Recht. Denn knapper lässt sich in der Tat nicht zusam­men­fas­sen, was der Kern der christlichen Botschaft ist. Kein Wunder also, dass diese Worte uns auf Schritt und Tritt durch unser Christen­leben be­gleiten. Bei mir jedenfalls ist das so. „Gott ist die Liebe, lässt mich erlösen; Gott ist die Liebe, er liebt auch mich.“ Das war schon in der Sonntagschule eins meiner Lieblingslieder – vielleicht kennen Sie es auch noch von früher. Im Theologiestudium hat mich sehr be­ein­druckt, was einer meiner Lehrer in Tübingen über „den Gott, der Liebe ist“, zu sagen wusste. Bewusst haben meine Frau und ich uns 1. Joh 4,16 als Trauspruch gewählt – so wie viele andere Brautleute oder auch Tauf­eltern und Konfirmanden. Und immer noch halte ich kaum eine Predigt, Andacht oder Ansprache, in der die Aus­sage „Gott ist Liebe“ nicht in irgendeiner Form vorkommt. Ich kann es eben auch nicht kürzer und nicht besser sagen als der erste Johannes­brief.

Eins ist damit klar: Dass Gott Liebe ist und dass das für mich und alle Menschen gilt, darauf möchte ich um nichts in der Welt ver­zichten.

Aber gerade weil das so ist, muss ich mir der Gefahr bewusst sein, in der diese Aussage steht. Das ist die Inflationsgefahr. Wenn ein Staat einfach immer mehr Geld drucken lässt, um steigenden Ausgaben hinterher zu kommen, dann ist das Geld irgendwann nichts mehr wert. Und so etwas gibt es auch in der Sprache: Man kann Wörter oder Sätze so oft wiederholen, dass sie irgendwann ihren Wert verlie­ren und zu bloßen Floskeln wer­den. Gerade mit dem Wort „Liebe“ geschieht das ständig. Schla­gerstars, Seifenopernhelden und Welt­verbesserer aller Art reden es solange breit, bis die Liebe wirklich nur noch ein Wort ist.

Weil das so ist, geht es auch dem Satz „Gott ist Liebe“ nicht viel bes­ser: Wenn die christliche Verkündigung sich in dieser einen Aus­sage erschöpft und sie ständig wiederholt, dann droht sie irgendwann ihren kostbaren Sinn zu ver­lieren. Entweder wird sie nicht mehr ernst genommen. Dann wird „Gott ist Liebe“ so was wie „Piep, piep, piep, wir ham uns alle lieb“ – vielleicht ganz nett, aber eigentlich be­lang­los. Oder man versteht „Gott ist Liebe“ als frommen Wunsch­gedan­ken. Der taugt dann viel­leicht noch für ein bisschen christliche Selbstbestätigung, aber nicht mehr für die Wirklichkeit. Wir kennen ja die Fragen, die daraus ent­stehen: Wo war er denn, der Gott der Liebe, damals in den Konzentrationslagern, im Bombenkrieg, auf der Flucht, in der Gefangenschaft? Wo war er am 11. September 2001? Oder am 24. Februar 2022? Wo war er, als es mir persönlich dreckig ging und ich keinen Ausweg mehr wusste? Wenn wir den Satz „Gott ist Liebe“ nur noch als schöne Floskel kennen, müssen wir auf solche Fragen hilflos ver­stummen.

Deshalb möchte ich heute einen anderen Satz aus dem Predigttext in den Mittelpunkt stellen. Ich denke, dass er nochmal ein neues und anderes Licht darauf wirft, dass Gott Liebe ist. Vielleicht gewinnt diese Aussage dadurch für uns neuen Wert. Der Satz steht zwei Verse weiter und lautet: „Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die voll­kommene Liebe treibt die Furcht aus.“

Wenn ich das lese, dann frage ich mich erstmal, warum das ei­gent­lich gesagt werden muss. Dass Liebe und Furcht sich gegensei­tig ausschließen, das scheint doch selbstverständlich zu sein. Wenn je­mand lieb zu mir ist, dann muss ich vor dem doch keine Angst ha­ben; und wenn ich jemanden liebe, dann hat das doch auch nichts mit Furcht zu tun. Aber wenn ich weiter nachdenke, fal­len mir auch an­dere Beispiele ein. Oft meinen wir ja, dass wir uns die Gegenliebe eines geliebten Menschen selbst verdienen müs­sen. Dass wir nur ge­liebt werden, wenn wir auch liebenswert sind. Und da kann sich dann sehr schnell die Furcht einstellen: die Angst, dass wir uns der Liebe nicht als würdig erweisen, oder die Angst, dass der oder die Geliebte uns die Liebe entzieht. Ich denke, Kindern geht das oft so mit ihren Eltern. Und manche Eltern drohen womöglich immer noch damit: Wenn du dies oder jenes tust, dann haben wir dich nicht mehr lieb! Ich denke, auch vielen Frauen und manchen Männern geht es so: Sie halten an ihrem Partner fest, auch wenn sie von ihm schlecht behandelt und missachtet werden – weil sie ihn oder sie trotzdem lieben und Angst haben, ihn zu verlieren. Wir sehen also, wie schnell die Furcht in die Liebe geraten kann.

Nun könnte man denken, dass solche furchtsame Liebe auch gegen­über Gott ihre Berechtigung hat. Sicher, Gott ist Liebe – das steht so in der Bibel. Aber es steht dort nirgendwo, dass er immer nur lieb ist. Stattdessen wird er heilig und gerecht genannt, und es wird ge­sagt, dass er alle Menschen nach ihrem Tun beurteilt und die zur Rechen­schaft zieht, die ihm nicht gehorsam sind. Auch im heutigen Pre­digttext ist vom „Tag des Gerichts“ Gottes die Rede.

Das ist auch gut so, denn einen gerechten Richter haben wir ja bitter nötig. Das lässt sich kaum bestreiten, wenn man sich das viele unge­strafte Unrecht in der Welt vor Augen führt. Und in diesem Un­recht stecken wir selbst tief mit drin – vielleicht nicht im­mer als Ein­zelne, aber auf jeden Fall als Glieder unserer Gesellschaft. Denn die profi­tiert auf vielfache Weise von den ungerechten Strukturen in der Welt. Wenn wir uns das klar machen, dann begreifen wir auch erst richtig, wie nötig wir Gottes Liebe haben. Gott ist es mit beidem ernst: mit seiner Liebe und mit seiner Gerechtigkeit. Die eine ist ohne die an­dere nicht zu haben. Deshalb sollten wir auch mit beidem nicht spa­ßen.

Trotzdem: Furcht und Liebe gehören nicht zusammen. Wir hätten zwar allen Anlass, uns vor Gott zu fürchten. Aber gerade deshalb muss man es mit unserem Predigttext so deutlich sagen: „Furcht ist nicht in der Liebe“. „Denn“, heißt es dort, „die Furcht rechnet mit Strafe“. Und diese Furcht kann keiner mehr haben, der sich wirklich auf Gottes Liebe einlässt. „Gott hat uns zuerst geliebt“, so geht es weiter. Gott, der Heilige und Gerechte, hat uns eine Liebeserklärung ge­macht. Sie erreicht uns in Jesus, seinem Sohn. Es ist eine leise Lie­beserklärung. Gott nimmt in Kauf, dass wir sie unter dem Geplärr unserer Liebeslieder überhö­ren; er nimmt auch in Kauf, dass wir ihm die kalte Schulter zeigen. Aber es ist auch eine entschlossene Liebes­erklärung: Gott nimmt sein „ich liebe dich“ nicht zurück. Und wenn wir ihm zuhören, wenn wir ihn ernst nehmen und uns lieben lassen, dann wird sein „ich liebe dich“ uns verändern, wie es bei allen Lie­benden ge­schieht.

Denn es ist ja so: Wenn zwei sich lieben, dann vertrauen sie einan­der. Sie gehen ehrlich miteinander um. Sie können sich in die Augen schauen, ohne dass ihre Blicke sich ausweichen. Sie können offen miteinander reden. Und dann haben sie auch keine Angst, dass der oder die andere sie enttäuschen könnte. Ich denke, so ist es gemeint, wenn es im Text heißt: „Darin ist die Liebe bei uns vollendet, dass wir Freiheit haben, zu reden am Tag des Gerichts.“ Wir können Gott, unserem Richter, freimü­tig vor Augen treten, weil wir wissen, dass er kein anderer ist, als der Gott, der uns bedingungslos liebt – der Gott, der uns gerecht macht, weil wir ihm nicht gerecht werden können.

Der Predigttext schließt dann mit einem Gebot: „Wer Gott liebt, der soll auch seinen Bruder lieben.“. Aber wenn das alles stimmt, was ich über die Liebe Gottes gesagt habe, und wenn wir uns darauf ein­las­sen, dann ist dieses Gebot eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Denn Gott lieben, das heißt, wir lassen für uns wahr sein, dass Gott uns zuerst geliebt hat. Dann ist aber auch klar, dass Gott nicht uns allein liebt, sondern alle Menschen. Wenn in der Familie jemand seinen Bru­der hasst, dann liegt es oft an der Erfahrung oder zumin­dest dem Ge­fühl, dass die Eltern den Bruder mehr lieb ha­ben als ei­nen selbst. So entstehen überhaupt die mei­sten Kon­flikte unter Men­schen: aus dem Gefühl oder der Erfahrung, zu kurz zu kommen und weniger geliebt und geachtet zu werden als die ande­ren. Dann hassen die Benachtei­ligten die Bevorzugten, und die Be­vorzugten bekom­men Angst vor den Benachteiligten, und bei­des schaukelt sich gegen­seitig hoch. Wenn wir darauf vertrauen, dass Gott alle Menschen gleich liebt und gleich gerecht behandelt, können wir diesen Kreis­lauf durchbrechen.

Wir können das natürlich oft nur gegen den Augenschein. Als ich am Anfang meines Pfarrer-Daseins zum ersten Mal über diesen Text zu predigen hatte, war in meiner damali­gen Gemeinde in Bochum-Hamme gerade ein Haus abgebrannt. Die Stadt pflegte dort so ge­nannte „gescheiterte Existenzen“ unterzubringen, die sonst keine Bleibe hatten, und jetzt waren acht von ihnen tot, die meisten noch ziemlich jung. Unmittelbar nach der Trau­erfeier für diese Acht hatte ich eine wohlhabende alte Dame zu beerdi­gen, die nach einem lan­gen, erfüllten Leben friedlich und schmerzlos im Schlaf gestorben war. Da lag es wahrlich nicht auf der Hand, dass Gott beide gleich lieb hatte. Trotzdem hatte ich in beiden Traueransprachen von der Liebe Gottes zu reden, auch wenn es sich überhaupt nicht zu­sammen­reimte. Denn dass Gott uns liebt, das müssen wir uns immer wieder sagen lassen, und wir müssen uns selbst immer wieder verge­wissern, dass Gott auch uns so liebt, wie wir sind. Nur dann kann unser Um­gang mit unseren Mitmenschen Nächstenliebe sein. Und nur dann können wir unseren Teil dazu bei­tragen, dass die Schere zwi­schen den Bevorzugten und den Benach­teiligten nicht immer weiter ausei­nander geht. Dazu möge Gott mit seiner Liebe in uns bleiben und wir in ihm. Amen.

Ihr Pastor Martin Klein