Predigt Wenschtkirche, Sonntag, 1. September 2024

Gottesdienst für den vierzehnten Sonntag nach Trinitatis

Text: Röm 8,14-17

Letzte Woche war für die neuen Erstklässler der erste Schultag. Wie immer haben wir aus diesem Anlass gemeinsam mit den Grund­schu­len ökumenische Gottesdienste gefeiert. Ich war zwar diesmal nicht dabei, weil noch im Urlaub. Aber im Großen und Ganzen wird es wieder so gewesen sein, wie ich es schon von den ersten Schultagen meiner eigenen Kinder kenne: Da sitzen die Sechs-Jährigen mit neuem Ranzen und Schultüte, ein wenig aufgeregt, aber auch stolz, endlich zu den „Gro­ßen“ zu gehören. Und auch die Gedanken der Eltern, die mit dabei waren, werden ähnliche gewesen, wie ich sie von mir selber kenne: Da hat das Kind gerade erst laufen und spre­chen gelernt, kurz davor lag es noch in der Wiege, und jetzt geht es plötzlich schon zur Schule – lernt Lesen, Schreiben, Rechnen, geht neue Wege, findet neue Freunde, und das alles ohne seine Eltern! Wie rasend schnell das doch gegangen ist! Und so geht es ja weiter: Inzwischen liegen auch die Abi-Feiern längst hinter uns, Studienab­schlüsse rücken näher, und es fehlen nur noch Hochzeiten und En­kelkinder – so es denn dazu kommt. Wenn ich mit jungen Tauffami­lien zu tun habe, kann ich ihnen also nur raten, sich auf dieses ra­sende Tempo gefasst zu machen und die Zeit mit ihren Kindern gut zu nutzen – sie geht so schnell vorbei!

Aber natürlich freuen sich Eltern auch über die Fortschritte ihrer Kinder, sind stolz auf das, was sie schon alles können, und dass sie sich immer mehr zu eigenständigen Persönlichkeiten entwickeln. Denn wir haben sie ja lieb, unsere Kinder, und deshalb müssen wir auch lernen, sie loszulassen – je länger, je mehr. Es wäre schlimm, wenn es nicht so wäre. Denn wenn wir an unseren Kindern keine Freude hätten, wenn wir keine Liebe für sie empfinden würden, dann könnten wir ihnen kaum einen guten Weg ins Leben zu bahnen. Dann würden wir Kinder nur als die Last empfinden, die sie ja auch sind: eine Last, die Arbeit, Ärger und Sorgen macht und auf die man zu­zeiten gut verzichten könnte. Und unsere Kinder würden dann sehr schnell merken, dass wir sie eigentlich gar nicht wollen. Sie würden merken, dass wir sie nicht wirklich lieb haben, sondern sie nur satt und sauber halten und sie ansonsten un­seren Regeln unterwerfen, damit sie uns möglichst we­nig stören. Das selbstverständliche Ver­trauen zu ihren Eltern, das alle Kinder mit auf die Welt bringen, würde dadurch ziemlich schnell zerstört. Im Grunde wären sie dann keine Kinder mehr, sondern nur noch Zög­linge. Und aus Zöglingen werden vielleicht Menschen, die gut funktionieren, weil sie es ge­wohnt sind, sich unterzuordnen und an­zupassen; aber es werden dar­aus keine freien Persönlichkeiten, die selbst- und verantwortungsbe­wusst ins Leben gehen.

Leider war diese Art Erziehung viel zu lange die Regel, und viele Eltern haben sich auch noch auf Gott berufen, wenn sie ihre Kinder zu Zöglingen de­gradiert haben. Sie haben zwar vielleicht vom „lie­ben Gott“ geredet, aber gemeint haben sie einen stren­gen Gott, der vor allem will, dass man ihm gehorsam ist und sich sei­nen Ge­boten unterwirft. „Der liebe Gott sieht alles“, hieß es dann zum Bei­spiel mit erhobenem Zeigefinger. Dadurch wollten die Eltern sicher­stellen, dass ihre Kinder auch dann noch parierten, wenn sie selbst mal nicht hinschauen konnten. Oder man ließ die Kinder beten: „Lie­ber Hei­land mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm!“ – Und „fromm“ zu sein hieß nur zu oft, brav das zu tun, was die El­tern sa­gen. Gott sei Dank sind solche Erzie­hungsmethoden heute selten geworden. Aber viele, die es so erlebt und erlitten haben, wollen bis heute nichts mehr von Glauben und Kirche wissen. Sie haben Gott nur als verlängerten Arm schlechter Erziehungsmetho­den kennen gelernt – als einen, vor dem man mindestens ge­nauso Angst haben muss wie vor einer Tracht Prügel. Und mit dem will man natürlich als erwachsener Mensch nichts mehr zu tun ha­ben.

Der Predigttext für den heutigen Sonntag redet ganz anders von Gott. In ihm beschreibt der Apostel Paulus den Christen in Rom das Ver­hältnis, in dem wir als Christen zu Gott stehen:

Welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder. Denn ihr habt nicht einen Geist der Knechtschaft empfan­gen, dass ihr euch aber­mals fürchten müsstet; sondern ihr habt einen Geist der Kindschaft empfangen, durch den wir rufen: Abba, lieber Vater! Der Geist selbst gibt Zeugnis unserm Geist, dass wir Gottes Kin­der sind. Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben und Mit­erben Christi, da wir ja mit ihm leiden, damit wir auch mit ihm zur Herrlichkeit erhoben werden.

Paulus gebraucht hier ein Bild aus dem gesellschaftlichen Leben sei­ner Zeit. Damals bestand eine Familie nicht nur aus Vater, Mutter, Kind, sondern aus viel mehr Menschen: dem Hausvater als Familien­oberhaupt, sei­ner Frau, seinen Kindern, vielleicht noch seinen alten Eltern und auch aus Bediensteten und Sklaven – je nachdem, ob und wie viele man sich lei­sten konnte. Paulus ver­gleicht nun die Kinder, vor allem die Söhne, und die Sklaven mitein­ander: Beide gehören zur Familie, beide sind vom Hausvater abhängig. Sie haben ihn zu res­pektieren und müssen ihm gehorchen. Aber die Sklaven sind zu nichts anderem bestimmt als Sklaven zu sein und zu bleiben. Die Söhne dagegen werden eines Tages das Erbe ihres Vaters antreten. Sie werden selbst Hausvä­ter sein und über Sklaven gebieten. Die einen ste­hen in der Familie nur in einem Arbeitsverhältnis, die ande­ren in einem Ver­trauensverhältnis. Die einen haben das Familien­oberhaupt mit „Herr“ anzureden, die ande­ren dürfen „Vater“ oder sogar „Papa“ zu ihm sagen.

Dieses Bild wendet nun Paulus auf das Verhältnis der Christen zu Gott an: Wir stehen zu Gott nicht in einem Sklavenverhältnis, sagt er, son­dern in einem Kindschaftsverhältnis. Wir gehören zu seinen Er­ben und dürfen ihn Vater nennen. Heute sind wir es gewohnt, Gott so anzureden, tun es mit jedem Vaterunser. Aber damals muss das selt­sam geklungen haben: Wir arme, kleine Menschen sollen Kinder Gottes sein, Adoptivkinder sozusagen? Wir sollen uns nicht vor ihm in den Staub werfen wie vor den Bildern unserer bisherigen Götter, sondern vertrauensvoll „lieber Vater“ zu ihm sagen? Und wir sollen sogar seine Erben sein? Aber Gott stirbt doch nicht, und wir können doch nicht an seiner Statt Gott werden!

Paulus hätte auf solche Fragen geantwortet: Es geht auch gar nicht darum, dass ihr Gott werden sollt. Es geht vielmehr darum, dass Gott Mensch geworden ist. Jesus kam von Gott her und war doch ein Mensch wie wir. Deshalb ist er zugleich Gottes Sohn und unser Bru­der. Jesus ist der, den Gott zum Erben eingesetzt hat. Ihn hat er er­höht und zum Herrn der Welt gemacht. Aber wir, die an Jesus Christus glauben, sind seine Geschwister, und deshalb erben wir mit ihm zusammen. Und sozusagen als Anzahlung auf das Erbe hat er uns seinen Geist gegeben. Wir können in der Gewissheit leben, dass wir unlöslich mit Gott verbunden sind wie ein Kind mit seinen El­tern. Und deshalb können wir ihn voll Vertrauen als unseren Vater anreden – so wie Jesus es tat, so wie er es uns mit dem Vaterun­ser beige­bracht hat.

Genau darum geht es auch bei der Taufe. Als wir ge­tauft wurden, da hat Gott uns zugesprochen: „Du bist mein lie­bes Kind. Ich habe dich genauso lieb wie Jesus, meinen Sohn, und ich möchte mit dir ge­nauso eng verbunden sein, wie ich mit ihm ver­bun­den bin.“ Seitdem haben wir außer unseren leibli­chen Eltern auch noch einen guten Vater im Himmel. Und so wie man die Taufe nicht rück­gängig ma­chen kann, so bleibt Gott auch dann unser himmli­scher Vater, wenn wir nicht so gute Eltern hatten, wie wir es uns ge­wünscht hätten und wie sie viel­leicht auch sein wollten, aber nicht konnten. Denn für Gott ist kein Mensch nur das unabänderliche Ergebnis seiner Her­kunft oder seiner Erziehung, ob sie nun eher gelungen oder eher da­nebengegan­gen ist. Ich wünsche allen Kindern, die getauft werden, dass sie von ihrem guten himmlischen Vater etwas erfahren in ihrem Leben. Und ich wünsche ihren Eltern und uns Erwachsenen allen, dass wir ihn nie vergessen und an ihm festhalten trotz allem, was uns von ihm weg zieht und was gegen ihn zu sprechen scheint.

Und wie gesagt: Gott ist nicht der Vater, vor dessen Tracht Prügel man Angst haben muss, wenn er abends nach Hause kommt. Er ist nicht der Vater, vor dessen strengem Blick man sich mit schlechtem Gewissen verstecken muss. Er ist auch nicht der Vater, für den seine Kinder eine lästige Verpflichtung sind, für die man bestenfalls einen flüchtigen Gute-Nacht-Kuss und ein paar Euro Taschengeld übrig hat. Und erst recht nicht der, den sein Kind nie wirklich kennen lernt, weil er eines Tages plötzlich weg ist und womöglich nicht mal Un­terhalt zahlt. Nein, wir alle sind Got­tes Wunschkinder. Er hat unsere Geburt herbeigesehnt und freut sich darüber, dass wir da sind. Er möchte, dass wir selbstbewusste, freie Menschen werden, dass wir das Beste aus den Gaben machen, die er uns mitgegeben hat. Er lässt uns er­wachsen werden, auch wenn un­sere Wege dann von ihm weg­füh­ren. Er ist aber auch immer bereit, uns mit offenen Armen zu emp­fangen, wenn wir bei ihm Zuflucht suchen. Alle leiblichen Väter können sich diesen Vater im Himmel zum Vorbild nehmen – üb­ri­gens auch seine mütterlichen Züge, obwohl von denen in der Bibel seltener die Rede ist. Und sie dürfen darauf vertrauen, dass ihre Kin­der dadurch trotz ihrer Fehler er­fahren, dass Gott sie liebt. Amen.

Ihr Pastor Martin Klein