Predigt Wenschtkirche, Freitag, 18.April 2014

Text: Jes 52,13-53,12

„Danke, dass Sie mit der Deutschen Bahn reisen!“ Die nette Stimme aus dem Lautsprecher beendete ihre Durchsage, während der ICE geräuschlos aus dem Bahnhof rollte. „Endlich“, dachte Herr Mohr und machte es sich bequem. Die Tagung in Berlin war anstrengend gewesen, aber nun war er in ein paar Stun­den zu Hause und hatte vier freie Tage vor sich. Er freute sich auf die Spaziergänge in der Frühlingssonne, auf die blühen­den Obst­bäume im Garten, auf das Ostereiersuchen mit den Kindern. Als Kämme­rer einer großen Stadt blieb ihm für so etwas viel zu wenig Zeit. Umso mehr wollte er es genießen.

Er langte in die Aktentasche nach seinem Tablet, um eben noch die letzten Mails zu checken, aber er griff ins falsche Fach und hatte statt des PCs ein Buch in der Hand. „Ach ja, richtig“, fiel es ihm ein, „die Bibel!“ Er zögerte kurz, dann nahm er das Buch heraus.

Gestern hatte er während einer Tagungspause einen Abstecher nach Wittenberg gemacht. Er war nicht besonders gläubig, aber Orte, die was mit Religion zu tun hatten, zogen ihn magisch an. Er war schon in Rom gewesen, in Jerusalem, auf dem Jakobsweg, hatte zahlreiche Tempel, Kirchen und Moscheen besichtigt. Verglichen damit hatte er die Lutherstadt nicht besonders eindrucksvoll gefun­den. Aber immerhin hatte er als Andenken diese Lutherbibel ge­kauft. Vielleicht brachte sie ihm ja den Reformator näher, als seine Wirkungsstätte es vermocht hatte.

Er schlug die Bibel einfach da auf, wo das Einlegeband lag – und blieb mit seinen Augen gleich an ein paar fett gedruckten Zeilen haf­ten:

Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gedemütigt wäre. Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt. 

Ja wirklich, eine kraftvolle Sprache hatte er, der alte Luther. Und die Worte kamen ihm sogar vage bekannt vor. Gab’s da nicht auch Mu­sik zu? Irgendwas von Bach oder Händel? Neugierig las er noch ein Stück weiter:

Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeder sah auf seinen Weg. Aber der Herr warf unser aller Sünde auf ihn. Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird; und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer. Er ist aus Angst und Gericht hinweggenommen. Wer aber kann sein Geschick ermessen? Denn er ist aus dem Lande der Lebendigen weggerissen, da er für die Missetat seines Volkes geplagt war. 

Herr Mohr zog die Stirn in Falten. Ziemlich rätselhaft, das Ganze! Von wem war da eigentlich die Rede? Jesus? Von dem hieß es doch auch immer, dass er „für unsere Sünden“ gestorben sei. Aber das hier stand doch bei Jesaja – Altes Testament, soweit er wusste. Kam Jesus da überhaupt vor? Zum ersten Mal in seinem Leben wünschte sich Herr Mohr, dass er im Konfirmandenunterricht besser aufge­passt hätte.

„Entschuldigung, ist der Platz noch frei?“

Herr Mohr schreckte aus seinen Gedanken und schaute in das fra­gende Gesicht eines jungen Mannes in Jeans und Fleece-Jacke, der einen großen Rucksack trug. Eigentlich war ihm ge­rade nicht nach Gesellschaft, aber der Junge machte einen sympathi­schen Eindruck, auch wenn er nicht unbedingt nach erster Klasse aussah.

„Normalerweise fahre ich ja zweite“, las der junge Mann seine Gedan­ken. „Aber der Zug ist rappelvoll wegen der Feiertage – da hab ich halt schweren Herzens den Zuschlag gezahlt, weil ich nicht die ganze Zeit stehen wollte. Aber wenn ich Sie störe …“

„Nein, nein“, sagte Herr Mohr und nahm seine Aktentasche vom Sitz, „nehmen Sie ruhig Platz!“ „Danke“, sagte der junge Mann, verstaute seinen Rucksack und setzte sich. Dann fiel sein Blick auf das aufgeschlagene Buch auf Herrn Mohrs Schoß. „Sie lesen in der Bibel? Cool! Gibt nicht so viele, die das tun heutzutage!“

Herr Mohr fühlte sich ertappt. Plötzlich war ihm seine Reiselektüre peinlich. Andererseits fragte er sich, warum eigentlich. Also ergriff er die Flucht nach vorn: „Ich hab sie gestern in Witten­berg gekauft. Dachte, ich schließ mal eine Bildungslücke. Aber ehrlich gesagt ver­steh ich nur Bahnhof.“

Der junge Mann nickte. „Das war Ihnen auch anzusehen. Aber viel­leicht kann ich Ihnen ja behilflich sein. Ich studier nämlich Theolo­gie.“

„Na gut, Herr Theologiestudent, dann erklären Sie mir doch mal diese Stelle hier!“ Dann las Herr Mohr ihm die Zeilen vor, die ihn gerade beschäftigt hatten.

„Ah, Jesaja 53, das vierte Gottesknechtslied“, sagte der Theologie­student. „Trifft sich gut – hab gerade erst ein Seminar dazu besucht. Und nennen Sie mich ruhig einfach Philipp.“

„Okay, Philipp“, sagte Herr Mohr, „zuerst wüsste ich gern, von wem hier eigentlich die Rede ist. Ich hätte auf Jesus getippt, aber der kommt im Alten Testament ja wohl nicht vor, oder?“

„Nein, da haben Sie Recht; aber ihr Tipp ist trotzdem nicht falsch.“

„Wie soll ich denn das verstehen?“

„Passen Sie auf: Der Text, den Sie gerade gelesen haben, ist um 500 vor Christus entstanden. Da wusste noch niemand was von Jesus, auch kein Prophet. Aber als die ersten Christen in ihrer jüdischen Bibel diesen Text gelesen haben, da waren sie trotzdem überzeugt: Damit ist niemand anderes als Jesus gemeint.“

„Aber wie kamen sie denn darauf?“

„Dadurch, wie der Gottesknecht geschildert wird: Als Jammerge­stalt, die entsetzlich leiden und elend sterben musste und noch nicht mal ehrenvoll begraben wurde. Nach damaligem Verständ­nis konnte das alles nur eine verdiente Strafe Gottes gewesen sein. Aber denen, die von diesem Gottesknecht erzählen, ist im Nach­hinein etwas anderes aufgegangen: Es war nicht seine eigene Schuld, dass es ihm so ergangen ist, sondern es war unsere Schuld, die er an unserer Stelle getragen hat. Er ist unschul­dig und wider­standslos in den Tod gegangen, damit wir le­ben können. Und dafür wird Gott ihn reich belohnen. Wer dieser Knecht Gottes ist, das bleibt bewusst vieldeutig. Manche haben an einen Propheten ge­dacht, manche eher an einen König, manche auch an eine Symbol­gestalt für das Volk Israel.“

„Schön und gut“, hakte Herr Mohr nach, „aber warum dann Jesus?“

„Na, stellen Sie sich doch mal vor, Sie gehören zu einer der ersten christlichen Gemeinden. Sie wissen, wie Jesus gestorben ist: wie er sich ohne Gegenwehr hat verhaften lassen, wie er nach schlimmen Misshandlungen am Kreuz verreckt ist. Sie sind aber auch zu der Überzeugung gekommen, dass Gott sich zu Jesus bekannt hat, dass er ihn auferweckt hat von den Toten, dass Jesus lebt und in seiner Gemeinde gegenwärtig ist. Trotzdem fragen Sie sich immer noch: Warum musste Jesus auf so furchtbare Weise sterben? Warum ausge­rechnet am Kreuz, so dass jeder fromme Jude denken musste, er sei von Gott verflucht? Und dann lesen Sie diesen Text, der für Sie ein heiliges Wort Gottes ist. Da hätte es sicher auch bei Ihnen Klick gemacht: Dieser geheimnisvolle Gottesknecht, der so leiden und sterben muss, das ist niemand anderes als Jesus.“

„Das kann ich nachvollziehen“, sagte Herr Mohr. „Aber wie konnte jemand 500 Jahre vor Christus etwas schreiben, was so gut auf Jesus passt?“

„Na ja“, meinte Philipp, „es passt ja gar nicht alles. So was wie Auferste­hung wird bei Jesaja höchstens angedeutet. Und dass Gott seinem Knecht Nachkommen und Beute verheißt, das kann man mit Bezug auf Jesus höchstens im übertragenen Sinne verstehen. Es ist eher so, dass der Text und die Geschichte Jesu sich gegenseitig ausle­gen und ein neues Licht aufeinander werfen. Das trifft weder bei Jesus noch beim Gottesknecht auf alle Einzelheiten zu. Entschei­dend ist, dass Jesaja 53 den ersten Christen half, den grausamen Tod Jesu besser zu verstehen.“

„Mag sein“, sagte Herr Mohr, „aber ich verstehe diesen grausamen Tod ganz und gar nicht. Ich hab das ja auch so gelernt, dass Jesus sich für unsere Sünden geopfert hat. Aber ich finde diese Vorstel­lung furchtbar! Was ist das denn für ein Gott, der ein blutiges Opfer braucht, an dem er sich austoben kann, damit alle anderen ver­schont bleiben? Das kommt mir vor wie bei einem hungri­gen Tiger, dem ich ein Stück rohes Fleisch vorwerfe, damit er mich nicht selber frisst. Ehrlich gesagt: An einen solchen Gott kann und will ich nicht glauben!“

„Ich auch nicht!“

„Sie auch nicht? Aber warum studieren Sie dann Theologie, wenn Sie gar nicht an Gott glauben?“

„Moment, da haben Sie mich jetzt missverstanden! Ich glaube sehr wohl an Gott, aber ich glaube nicht, dass Gott so ist, wie Sie ihn ge­rade beschrieben haben. Und ich glaube auch nicht, dass die Bibel so von Gott redet.“

„Nicht? Ab er das steht da doch so: ,der Herr warf unser aller Sünde auf ihn‘ und hier unten heißt es noch, dass der Gottesknecht ,sein Leben zum Schuldopfer‘ gab!“

„Ja, aber dazu muss man bedenken, dass es im Hebräischen für Schuld und Strafe nur ein Wort gibt. In der Schuld liegt die Strafe also schon mit drin. Sie ist nichts anderes als die Konsequenz der bösen Tat. Wenn da also auf Deutsch steht, dass Gott Menschen straft, dann heißt das nicht, dass er wutentbrannt Rache nimmt, weil ihm die Menschen ihm nicht gehorcht haben. Sondern es heißt ganz einfach, dass er sie die Folgen ihres Handelns tragen lässt. So wie bei jemandem der Schulden macht: Der muss ja auch irgend­wann zurückzahlen, und wenn er’s nicht tut, wird alles nur noch schlimmer.“

„Das müssen Sie mir nicht erzählen“, sagte Herr Mohr. „Ich bin Stadt­kämmerer – mit Schulden kenne ich mich aus! Aber deshalb weiß ich auch bestens, dass man ums Schuldenmachen oft gar nicht herumkommt und dann meistens keine Chance hat, diese Schulden jemals abzuzahlen. Wenn das bei Gott auch so ist, dann gute Nacht!“

„Ist es aber nicht“, gab Philipp zurück. „Und dazu gibt es die Opfer. Das Vorurteil haben Sie ja eben gut auf den Punkt gebracht: Tier- oder gar Menschenopfer sind der menschliche Versuch einen blutrünsti­gen Gott zu besänftigen. Im Alten Testament steht aber was ganz anderes: Da setzt Gott von sich aus die Tieropfer ein als Möglichkeit, wie die Men­schen mit ihm ins Reine kommen können. Um im Bild von vorhin zu bleiben: Die Schulden müssen nicht abbe­zahlt werden – was oft ja gar nicht geht –, sondern sie werden durch eine symboli­sche Handlung aus der Welt geschafft.“

„Aber dafür müssen unschuldige Tiere sterben“, warf Herr Mohr ein.

„Okay“, gab Philipp zu, „aber der Tierschutz war halt noch nicht erfun­den – und außerdem: für unseren heutigen Fleischkonsum sterben viel mehr unschuldige Tiere. Oder sind Sie Vegetarier?“

„Nein, bin ich nicht, geb ich zu. Aber hier in diesem Text wird ein Mensch geopfert und kein Tier. Und ich finde, das geht gar nicht.“

„Das findet die Bibel auch. Deshalb lehnt sie Menschenopfer strikt ab.“

„Aber hier opfert sich ja doch einer!“

„Genau, er wird nicht geopfert, sondern er opfert sich selbst, aus freien Stücken. Das ist ein großer Unterschied. Denken Sie doch mal an Feuerwehrleute: Die setzen oft ihr Leben ein, um andere zu ret­ten, und manchmal verlieren sie es dabei. Davor habe ich großen Respekt, und Sie doch bestimmt auch!“

„Ja, schon, aber wie kann sich denn ein Mensch opfern, um die Schuld eines ganzen Volkes sühnen – oder gar der ganzen Mensch­heit? Das kann man doch mit der Feuerwehr gar nicht vergleichen!“

„Stimmt. Das ist ein kühner Gedanke – so kühn, dass kein real existie­render Mensch ihn je verwirklichen könnte.“

„Und Jesus? Der soll ihn ja dann verwirklicht haben!“

„Allerdings. Aber deshalb hängt für den christlichen Glauben alles daran, dass Jesus ein Mensch, aber nicht nur ein Mensch war. In Jesus hat Gott selber unser Leben gelebt und ist unseren Tod gestor­ben, damit uns nichts mehr von ihm trennen kann. Also: Gott hat nicht das Opfer Jesu gebraucht, um von seinem Zorn abzulassen, sondern Gott ist selber das Opfer. Und wenn das stimmt, dann kann ich mir auch vorstellen, dass dieses Opfer für alle Welt und alle Zei­ten gilt.“

„Aber das ist doch absurd“ protestierte Herr Mohr. „Wie kann denn jemand zugleich Mensch und Gott sein? Nichts für ungut, aber auf so einen Blödsinn können nur Theologen kommen!“

„Okay, es waren Theologen, die das so formuliert haben. Aber sie wollten damit nur in Worte fassen, was der Kern ihres Glaubens ist. Es war ihnen klar, dass menschliche Sprache und Logik da an ihre Grenzen stoßen.“

„Na gut“, sagte Herr Mohr, „ich versuch mal, mich drauf einzulas­sen: Jesus war Gott, und Gott war das Opfer. Also ist Gott jetzt tot, oder was?“

„Nein“, sagte Philipp, „denn wenn Gott, der Schöpfer allen Lebens, und der Tod aufeinander­tref­fen, dann geht das nicht für Gott böse aus, sondern für den Tod. Deshalb feiern wir ja Ostern: den Tag, wo Gott Jesus auferweckt und den Tod besiegt hat.“

„Stopp“, sagte Herr Mohr und schlug die Bibel zu, „jetzt reicht‘s! Mir schwirrt der Kopf. Ich muss das jetzt erst mal sacken lassen. Aber ich geb zu, dass die Bibel einen auf spannende Gedanken bringen kann. Hätt ich nie gedacht!“

Philipp grinste. „Na, dann freut es mich, dass ich Ihnen ein wenig auf die Sprünge helfen konnte! Und fürs weitere Nachdenken gebe ich Ihnen einen guten Rat: Feiern Sie doch Karfreitag und Ostern die­ses Jahr mal bewusst! Gehen Sie in den Gottesdienst, lassen Sie Texte und Gebete, Lieder und Musik auf sich wirken und feiern Sie das Abendmahl mit. Vielleicht bringt das Ordnung in Ihre Gedanken, und vielleicht begegnet Ihnen Gott so noch mal auf ganz andere Weise.“

„Na gut“, sagte Herr Mohr, „ich nehm’s mir vor. Spazierengehen und Eier suchen kann ich ja hinterher noch. Vielen Dank jedenfalls.“

„Nichts zu danken“, sagte Philipp. „Bei solchen Gesprächen merkt man doch wenigstens, wofür sich das Studieren lohnt. Ich sag dann übrigens auch gleich Tschüss. Wir sind schon fast in Hannover – da muss ich umsteigen.“

„Schade“, sagte Herr Mohr, „aber es hat mich gefreut, Sie kennen zu lernen. Alles Gute fürs weitere Studium!“

„Danke, und Ihnen wünsche ich ein frohes Osterfest!“

„Das werde ich haben, ganz bestimmt“, antwortete Herr Mohr. Und während Philipp seinen Rucksack aus dem Gepäckfach wuchtete, ging ihm auf, dass er das genauso meinte, wie er es gesagt hatte.

(Pfarrer Dr. Martin Klein)