Predigt, Talkirche, Sonntag, 22. März 2015

GOTTESDIENST FÜR DEN SONNTAG JUDIKA

Text: Hiob 19,21-27

Erbarmt euch über mich, erbarmt euch, meine Freunde;

denn die Hand Gottes hat mich getroffen!

Warum verfolgt ihr mich wie Gott

und könnt nicht satt werden von meinem Fleisch?

Ach dass meine Reden aufgeschrieben würden!

Ach dass sie aufgezeichnet würden als Inschrift,

mit einem eisernen Griffel in Blei geschrieben,

zu ewigem Gedächtnis in einen Fels gehauen!

Aber ich weiß, dass mein Erlöser lebt,

und als der letzte wird er über dem Staub sich erheben.

Und ist meine Haut noch so zerschlagen

und mein Fleisch dahingeschwunden,

so werde ich doch Gott sehen.

Ich selbst werde ihn sehen,

meine Augen werden ihn schauen und keinen Fremden.

Danach sehnt sich mein Herz in meiner Brust.

Ich weiß, dass mein Erlöser lebt“ – wenn ich diese Worte höre, habe ich sofort Georg Friedrich Händel im Ohr: die berühmte Sop­ran-Arie aus dem „Messias“. Sie eröffnet dort den dritten und letz­ten Teil, der von den Letzten Dingen handelt: von der Auferstehung der Toten und dem ewigen Leben. So, als Kernwort christlicher Aufer­stehungshoffnung, steht Hiob 19,25 auch auf Händels Grabmal in Westminster Abbey – und auf vielen anderen, weniger prominen­ten Grabsteinen. Denn für uns Christen scheint der Sinn von Hiobs Worten sofort klar: der Erlöser, der lebt, das kann nur der auferstan­dene Christus sein, und wenn ich trotz zerschlagener Haut und dahinge­schwundenem Fleisch Gott noch sehen werde, dann nur, wenn auch ich schließlich durch Christus von den Toten auferweckt werde. Entsprechend hat Martin Luther den Text ursprünglich über­setzt: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebet, und er wird mich hernach aus der Erden auferwecken. Und werde danach mit dieser meiner Haut umgeben werden und werde in meinem Fleisch Gott sehen. Ich selbst werde ihn sehen, meine Augen werden ihn schauen und kein Fremder.

Aber ist denn schon Ostern? Nein, wir befinden uns noch mitten in der Passionszeit. Und das Buch Hiob steht im Alten Testament. Es weiß weder etwas von Jesus Christus noch von der Hoffnung auf Auferstehung. Was Hiob wirklich über dieses Thema denkt, das sagt er uns mehrmals in wünschenswerter Klarheit. Zum Beispiel in Kapi­tel 7 (V.9-10): „Eine Wolke vergeht und fährt dahin; so kommt nicht wieder herauf, wer zu den Toten hinunterfährt; er kommt nicht zu­rück, und seine Stätte kennt ihn nicht mehr.“ Also: mit dem Tod ist es aus und vorbei. Für immer. Und Hiob findet diesen Gedanken noch nicht mal erschreckend. Im Gegenteil: Er sehnt sich nach dem Tod, damit er endlich seine Ruhe hat und nicht mehr leiden muss.

Also: zum Stichwort „Auferstehung“ müssen wir uns andere Bibelstel­len suchen, und bis Ostern müssen wir uns noch zwei Wo­chen gedulden. Dass dieser Hiob-Text für die heutige Predigt vorge­schlagen wird, hat eher etwas mit dem Namen des Sonntags zu tun: „Judica – schaffe mir Recht, Gott!“ So beginnt der Wochenpsalm, den wir vorhin gesprochen haben, und genau darum geht es auch Hiob. Denn er ist der festen Überzeugung, dass ihm von Gott himmel­schreiendes Unrecht angetan wurde. Keiner hatte Hiob je an Frömmigkeit und Gottesfurcht übertroffen. Und scheinbar war er dafür von Gott gesegnet geworden, wie es sich gehörte: mit großem Reichtum und mit zahlreichen Nachkommen. Aber dann kam alles völlig anders: Hiobs Viehherden wurden geraubt, seine Kinder ka­men allesamt ums Leben und er selbst wurde mit schlimmer Krank­heit geschlagen. Nichts ist ihm geblieben als das nackte Leben – und das quält ihn eher noch mehr, als dass es ein Trost wäre.

Hältst du immer noch fest an deiner Frömmigkeit?“, fragt ihn seine Frau, die auch kein Trost ist. „Sage Gott ab und stirb!“ Aber das tut Hiob nicht. Er lässt seinen Glauben nicht fahren. Er macht es nicht wie so viele Menschen heute. Er sagt nicht: „Wenn Gott so viel unschul­diges Leiden zulässt, dann will ich nichts mit ihm zu tun ha­ben oder dann kann es ihn nicht geben.“ Nein, er bleibt dran. Er fordert Gott heraus. Er hört nicht auf, ihm sein „Warum?“ ins Ohr zu schreien. Er besteht auf seiner Unschuld, und er besteht auf einer Antwort: „Gott, schaffe mir Recht!“

Hiobs Freunde kommen, um ihn zu trösten. Als sie sehen, wie groß sein Schmerz ist, sitzen sie erst einmal sieben Tage und Nächte bei ihm auf der Erde und sagen nichts. Besser wären sie wohl dabei geblie­ben. Aber Hiobs Anklagen gegen Gott fordern sie heraus. Die können sie als fromme Männer so nicht stehen lassen. „Dass Gott einen Unschuldigen so leiden lässt, das kann nicht sein“, sagen sie. „Also geh in dich Hiob: Irgendetwas musst du doch vor Gott verbro­chen haben, wenn er dich so straft! Versündige dich nicht noch mehr, indem du Gott die Schuld an deinem Elend gibst.“

Sie meinen es ja nur gut. Aber gerade deshalb merken sie nicht, wie sehr sie Hiob mit ihren Worten noch zusätzlich quälen. „Es reicht doch, wenn Gott mich zu Unrecht verfolgt“, sagt er ihnen. „Warum müsst ihr denn auch noch wie die Aasgeier über mich herfallen? Habt doch wenigstens ihr Erbarmen mit mir und lasst mich in Ruhe!“

Sie halten ihn für einen Lügner oder zumindest für einen, der sich selbst betrügt. Aber Hiob weiß, dass er die Wahrheit sagt – so si­cher, dass man seine Worte getrost in Stein meißeln könnte wie die Zehn Gebote. Für die Freunde klingt das arrogant und vermessen. Aber wir Leser wissen, wie Recht Hiob hat. Denn anders als er ken­nen wir die ganze schreckliche Wahrheit hinter seinem Leiden, dass da nämlich schlicht und einfach zwischen Gott und dem Satan eine Wette läuft: „Hiob verehrt dich doch nur, weil du’s ihm so gut gehen lässt“, hatte der Satan gesagt. „Wetten, dass er dir ins Angesicht absagt, wenn er alles verliert?“ – „Bitte“, hatte Gott geantwortet, „probier’s aus! Wetten, dass Hiob mir treu bleibt?“ Hiob leidet also nicht, obwohl, sondern weil er so fromm und gottesfürchtig ist. Gott und der Satan treiben ihr Spiel, und Hiob muss es ausbaden.

Ist es nicht unglaublich, dass ausgerechnet die Bibel so von Gott redet? Dieses Buch, das sonst nicht müde wird, seine Barmherzig­keit und Gnade preisen, seine Geduld und große Güte? Dieses Buch, das uns Gott sonst als den liebenden Vater im Himmel vorstellt? Was hat dieser zynische Wetten-dass-Gott bei Hiob damit gemein?

Aber die Bibel schildert uns eben Gott so, wie Menschen ihn erle­ben. Und da gehört die Erfahrung Hiobs ganz elementar dazu. Wie viele Menschen haben schon genauso unschuldig gelitten! Wie viele haben sich schon nach ihm heiser geschrien und keine Antwort bekom­men! Wie viele mussten schon den Eindruck haben, einem blinden Schicksal hilflos ausgeliefert zu sein! Und wie viele mussten es schon als blanken Hohn empfinden, wenn man ihnen dieses Schick­sal als Gottes guten Plan verkaufen wollte – sei es als ver­diente Strafe, sei es als auferlegte Prüfung, sei es als nötiges Übel, das einem höheren Ziel dient. Die Freunde Hiobs sollten uns ein warnendes Beispiel sein, wieviel Schaden man bei einer gequälten Seele mit solchen gut gemeinten Richtigkeiten anrichten kann.

Umso erstaunlicher ist dann aber der Satz, mit dem ich meine Pre­digt begonnen habe: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt.“ Denn mit diesem Satz hat der Satan seine Wette verloren. Trotz all der furchtba­ren Erfahrungen, die Hiob mit Gott gemacht hat, sagt er ihm eben nicht ab. Für ihn wird die Frage „Warum leide ich?“ eben nicht zum „Fels des Atheismus“, wie für Georg Büchner. Vor dem Gott, der ihn heimsucht, flieht Hiob nicht in die Gott-Losigkeit, son­dern zu eben demselben Gott, seinem „Erlöser“.

Was ist damit eigentlich gemeint? Der „Löser“, von dem hier die Rede ist, war eine soziale Institution im alten Israel. „Wenn dein Bruder verarmt und etwas von seiner Habe verkauft“, heißt es im dritten Buch Mose (25,25), „so soll sein nächster Verwandter kom­men und einlösen, was sein Bruder verkauft hat.“ Ein solcher „Lö­ser“ soll Gott nun für Hiob werden. Er gibt damit zu, dass er am Ende ist – wie ein verarmter Schuldner, der den Offenbarungseid leistet. Aus eigener Kraft kommt er aus seinem Elend nicht mehr heraus. Aber wie sich ein verarmter Israelit aus den Händen von fremden Gläubigern wenigstens in die Hände eines Verwandten begibt, wenn er an einen Löser appelliert, so möchte Hiob lieber von Gott abhängig sein als von einem fremden und unpersönlichen Schick­sal. Denn seinen Gott kennt er, trotz allem. Ihm hat er sein Leben lang vertraut. In seinen Händen ist es für ihn immer noch bes­ser als irgendwo sonst: „Meine Augen werden ihn schauen und kei­nen Fremden“. Und das Beste ist: Wenn Hiob sich auf Gott als sei­nen Löser beruft, dann kann der sich nicht einfach entziehen. Denn ein Löser kann nicht frei entscheiden, ob er seinem Verwandten beisteht oder nicht, sondern er ist vom Gesetz dazu verpflichtet. So ist es auch hier. Du bist mein Löser, sagt Hiob zu Gott, und das heißt, du musst mir beistehen. Früher dachte ich, dass ich von gleich zu gleich mit dir handeln kann: Ich tu deinen Willen, und du segnest mich dafür. Jetzt weiß ich, dass das nicht funktioniert. Jetzt weiß ich: Du hast die Macht, und ich hab dir nichts mehr zu bieten – nur noch Haut und Knochen. Aber ich muss vor dir nicht auf Gedeih und Ver­derb um Gnade winseln. Denn du bist kein fremder Tyrann, sondern mein Verwandter, mein Löser: Ich gehöre zu dir und du zu mir. Und deshalb wirst du mich loskaufen und mir zu meinem Recht verhelfen – danach sehne ich mich, und darauf vertraue ich.

Und Gott lässt sich darauf ein. Er macht Hiob zwar noch mal unmissver­ständlich klar, dass es kein „gleich zu gleich“ gibt zwischen ihm, dem Schöpfer, und Hiob, seinem Geschöpf. Aber er gibt ihm Recht gegen seine Freunde, er bestätigt Hiobs Unschuld und er löst Hiobs verlorenen Besitz aus, indem er ihm neuen Reichtum und eine neue Familie gibt.

Und wir? Wie ist es, wenn wir unschuldig leiden oder wenn uns das unschuldige Leid anderer auf der Seele brennt? Nun, was Hiob konnte und durfte, das können und dürfen wir erst recht. Bei Hiob war es noch ein neuer und kühner Gedanke, die soziale Einrichtung des Lösers auf Gott zu übertragen. Aber wir wissen ja nun, dass un­ser Erlöser lebt – nicht nur weil Hiobs Reden tatsächlich aufgeschrie­ben wurden, sondern weil Gott sie uns im Neuen Testament eindrück­lich bestätigt hat, und damit bin ich nun doch bei Jesus: In Christus ist Gott unser aller Löser geworden, hat uns von der Macht der Sünde losgekauft und all unsere Schulden bezahlt: „Der Menschen­sohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, son­dern dass er diene und gebe sein Leben zur Erlösung für die Vielen.“ So sagt es der Wochenspruch, und auch das haben wir schriftlich. Wohl dem, der darauf vertrauen kann! Amen.

Pfarrer Dr. Martin Klein