Predigt Talkirche, Sonntag, 21.08.2016

GOTTESDIENST FÜR DEN DREIZEHNTEN SONNTAG NACH TRINITATIS

Text: 1. Joh 4,7-12

Ihr Geliebten, lasst uns einander lieben; denn die Liebe ist von Gott, und wer liebt, der ist von Gott geboren und kennt Gott. Wer nicht liebt, der kennt Gott nicht; denn Gott ist Liebe. Darin ist erschienen die Liebe Gottes unter uns, dass Gott seinen einzigen Sohn gesandt hat in die Welt, damit wir durch ihn leben sollen. Darin besteht die Liebe: nicht, dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt hat und gesandt seinen Sohn zur Versöhnung für unsre Sünden.

Ihr Geliebten, hat uns Gott so geliebt, so sollen wir uns auch unter­einander lieben. Niemand hat Gott jemals gesehen. Wenn wir uns untereinander lieben, so bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollkommen.

Menschen unserer Tage haben es gern schlicht und knapp. Kaum jemand macht sich noch die Mühe, komplizierten Gedankengängen zu folgen. Niemand hört gern lange Vorträge oder Predigten. Und dicke Bücher müssen wenigstens spannend und unterhaltsam sein. Wer dem Durchschnittsbürger von heute eine Botschaft vermitteln will, tut also gut daran, die 140 Zeichen einer Twitter-Nachricht nicht zu überschreiten. Noch besser ist es, wenn man alles Wesentli­che mit drei bis vier Wörtern sagen kann. Unschlagbar sind in dieser Hinsicht die BILD-Zeitung („Wir sind Papst!“) oder die Werbung (Geiz ist geil!“). Und politische Botschaften werden auch gern ent­sprechend eingedampft („Yes we can!“ zu Deutsch: „Wir schaffen das!“ Oder „Wir sind das Volk!“). Da stellt sich doch die Frage, ob das nicht auch mit der christlichen Botschaft geht; denn uns hört ja auch keiner mehr lang genug zu, um alle Aus­sagen des Glaubensbe­kenntnisses mitzubekommen. Also: Kann man mit drei Wörtern sa­gen, worauf es ankommt im christlichen Glau­ben?

Sie mögen es vielleicht erstaunlich finden, aber ich glaube in der Tat, dass es geht. Wenn ich das, was ich glaube, auf Schlagzeilen­kürze bringen müsste, dann würde ich auf drei Wörter aus dem heu­tigen Predigttext zurückgreifen: „Gott ist Liebe“. Damit ist im Grunde alles gesagt. Wer das für sich annehmen und glauben kann, der weiß genug über Gott und die Welt, der weiß, worauf er sich im Leben und im Sterben verlassen kann. Mich jedenfalls haben diese bedeut­samen drei Wörter von klein auf begleitet und geprägt. Zuerst sind sie mir wahrscheinlich in Form eines schlichten Sonntagschul-Liedes begegnet, das die Älteren unter Ihnen sicher auch noch ken­nen: „Gott ist die Liebe, lässt mich erlösen; / Gott ist die Liebe, er liebt auch mich.“ Später, im Studium, habe ich gemerkt, das man dar­über auch hoch gelehrte theologische Abhandlungen von mehr als 500 Seiten schreiben kann. Aber auch auf all diesen vielen Seiten wird letztlich nicht mehr und nichts anderes über Gott gesagt. Und die noch viel zahlreicheren Andachten, Predigten und Ansprachen, die ich in mei­nem Pfarrerleben bis jetzt geschrieben habe, landen ebenfalls immer wieder bei dieser einen Aussage – unschlagbar kurz und doch allum­fassend.

„Gott ist Liebe“. Darauf könnte ich also eigentlich jetzt schon Amen sagen und die Kanzel verlassen. Aber keine Angst oder keine fal­schen Hoffnungen! Ich hab dann doch noch ein bisschen mehr zu sagen. Denn so treffend dieser Satz die christliche Botschaft auf den Punkt bringt, so gründlich kann er leider auch missverstanden wer­den. Einige gängige Missverständnisse möchte ich deshalb anspre­chen und, wenn möglich, ausräumen.

Das erste Missverständnis hält den Satz für eine Binsenwahrheit. „Gott ist Liebe – ja und? Das ist doch wohl sowieso klar, und ir­gendwie sagen das doch alle Religionen, oder?“ So mag es manchem vorkommen, der in einem christlichen Umfeld groß geworden ist und diese Worte immer wieder gehört hat. Aber in Wirklichkeit sind wir Christen die einzigen, die glauben, dass es die Liebe ist, die Gottes Wesen ausmacht. Auch für Buddhisten spielt die Liebe eine zentrale Rolle, aber sie glauben nicht an einen persönlichen Gott. Für Mus­lime ist Gott zwar auch „gnädig“ und „barmherzig“, aber wenn der Muezzin zum Gebet ruft, sagt er bezeichnenderweise „Gott ist groß“ und nicht „Gott ist Liebe“. Und Juden glauben zwar, dass Gott sein Volk liebt und auch gegenüber Menschen aus anderen Völkern barmherzig sein kann. Aber die Aussage „Gott ist Liebe“ geht einen entscheidenden Schritt weiter. Sie ist in der hebräischen Bibel, unse­rem Alten Testament, so nicht zu finden.

Ehe also glaubende Menschen sagen konnten, dass Gott Liebe ist, musste etwas Neues, etwas Unerhörtes passieren. Unser Predigttext sagt uns, was das war: „Darin ist erschienen die Liebe Gottes unter uns, dass Gott seinen einzigen Sohn gesandt hat in die Welt, damit wir durch ihn leben sollen.“ Dass Gott Liebe ist, das ist also keine Allerweltsweisheit, sondern es macht sich einzig und allein an Jesus Christus fest. Denn in ihm kam Gott selbst mit seiner Liebe zu den Menschen. Nur wer auf Christus schaut, nur wer in seiner bedin­gungslosen Liebe zu den Menschen Gott entdeckt, nur der kann wirklich ermessen, was es heißt, dass Gott Liebe ist. Und nur Gott selbst kann dafür sorgen, dass uns diese Wahrheit aufgeht, nur er kann uns den Glauben an seine Liebe schenken.

Nun zum zweiten Missverständnis: „Gott ist Liebe“ heißt nicht „Gott ist lieb“. Natürlich kann und darf ich ihn „meinen lieben Gott“ nen­nen. Aber nur, wenn ich damit sagen will, dass zwischen uns ein Liebesverhältnis besteht: dass ich ihn lieb habe, weil er mich lieb hat. Wenn ich aber ganz allgemein vom „lieben Gott“ rede, dann mache ich mir ein falsches Bild von ihm. Denn Gott ist weder ein gutmüti­ger Opa noch ein braves Kind, und er ist erst recht nicht der Weih­nachts­mann. Viele Menschen sehen ihn so, oft eher unbewusst als bewusst. Sie erwarten, dass Gott immer nur gut zu ihnen ist, dass er ihnen seelische Streicheleinheiten verpasst und ihnen alle ihre Wün­sche erfüllt. Damit wird Gott zu einem Dienstleister degradiert. Zu einer Lebensversicherung mit Rundum-Sorg­los-Paket. Aber das kann nicht gut gehen. Denn der Muezzin hat ja auch Recht: Gott ist groß – viel zu groß, als dass wir ihn einfach für unsere Bedürfnisse einspan­nen könnten. Er bleibt für uns unbegreiflich, und das spüren wir spätes­tens dann, wenn uns Böses widerfährt, das er zumindest zuge­lassen hat. An solchen Erfahrungen muss das Bild vom „lieben Gott“ zer­brechen. Und wenn wir dann kein anderes Bild von ihm haben oder finden, dann verlieren wir ihn ganz und mit ihm unseren Glau­ben.

Deshalb ist es gut, dass die Bibel nicht nur von Gottes Liebe spricht, sondern auch von seiner Heiligkeit, seinem Zorn und seiner zeitwei­ligen Ferne. Uns mögen solche Bibelstellen befremden. Aber so erle­ben wir Menschen ihn ja immer wieder, besonders wenn uns schwe­res Leid widerfährt. Und dann sehnen wir uns auch nicht nur nach Gottes Liebe, sondern ebenso nach seiner Gerechtigkeit, mit der er die Schuldigen zur Rechenschaft zieht und das Leid der Unschul­digen wendet. Auch das alles gehört zu dem lebendigen Gott, den uns die Bibel bezeugt. Nie können wir ihn ganz erfassen und ihn uns ge­fügig machen.

Eins ist dabei aber ganz wichtig: Gott werden in der Bibel viele Ei­genschaften zugeschrieben, zum Teil auch widersprüchliche, die in unseren gegensätzlichen Erfahrungen wurzeln. Aber nur von einer einzigen Eigenschaft wird gesagt, dass er ganz mit ihr eins ist, und das ist die Liebe. Wenn Gott zornig ist, dann deshalb, weil es ihm ernst ist mit seiner Liebe und weil wir diese Liebe enttäuschen. Und wenn er ge­recht ist, dann deshalb, um seiner Liebe zum Durchbruch zu ver­hel­fen. Nirgendwo wird das so deutlich wie beim Tod Jesu am Kreuz: So zornig ist Gott über unsere Gottlosigkeit, dass nur durch den Tod hindurch Versöhnung möglich ist. Aber zugleich ist seine Liebe so unendlich groß, dass er seinen Zorn nicht an uns auslässt, sondern an sich selbst, dem Mensch gewordenen Gottessohn, und ihn so ein für alle Mal überwindet. Deshalb muss ich nicht mehr fürch­ten, dass Gott mir ewig zürnt oder fern bleibt, sondern ich darf mich darauf verlassen, dass seine Liebe alles übersteigt und dass sie alles aus dem Weg schafft, was mich von ihm trennt.

Bleibt noch das dritte und letzte Missver­ständnis: Wenn Gott Liebe ist, denkt mancher, dann kann man den Satz doch auch umdrehen und sagen: „Liebe ist Gott“ oder zumindest göttlich. Dann wäre die Fähigkeit zu lieben eine Art göttlicher Funke im Men­schen, mit dem er sich selber erlösen kann. Aber so ist es nicht ge­meint. Zwar sagt auch unser Text, dass Gott gegenwärtig ist, wo Menschen lieben. „Wer liebt, der ist von Gott geboren“ heißt es da, und „wenn wir uns untereinander lieben, so bleibt Gott in uns“. Aber der erste Johannes­brief hält dabei immer fest, dass diese Liebe von Gott ausgeht und dass die, von denen hier die Rede ist, Gott kennen und an ihn glau­ben. Liebe, die Menschen einander erweisen, ist Gottes Gabe, und sie kann ein Gleichnis für die Liebe Gottes sein, aber sie ist nicht selber göttlich und führt auch nicht zu Gott. Es bleibt dabei, dass Gott uns zuerst geliebt hat.

Ich denke, das ist eine große Entlastung für uns. Und die beginnt schon bei der Liebe zwischen Mann und Frau: Auch wenn mir da die viel be­schworene „große Liebe“ versagt bleibt oder ich an ihr schei­tere, bin ich ein ganzer, von Gott geliebter Mensch. Die Entlastung gilt aber erst recht für die Liebe zu meinen Mitmenschen: Auch da muss ich mich nicht in Liebe zu den Menschen verströmen, um mit Gott eins zu werden, sondern ich kann mir schlicht den barmherzigen Samariter zum Vorbild nehmen, von dem wir in der Lesung hörten: Ich kann den Bedürftigen nach Kräften helfen, die Gott mir als Nächste über den Weg schickt. Und schließ­lich muss ich mir auch nicht den Kopf zerbrechen, wie ich denn echte Liebe für Gott emp­finden soll, den ich doch nicht sehen und erfassen kann, sondern kann mich an den letzten Satz des Textes halten: „Wenn wir uns un­tereinander lieben, so bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollkommen.“

Jetzt habe ich natürlich doch wieder viel mehr Wörter für meine Pre­digt gebraucht als man per SMS versenden oder in eine Schlagzeile quetschen kann. Aber ich hoffe, dass es trotzdem keine verlorenen Worte waren. Denn es ging mir nicht darum, die schlichte Aussage „Gott ist Liebe“ mit Gerede zuzudecken, sondern sie in ihrer Groß­artigkeit und Tröstlichkeit zum Leuchten zu bringen. Ob mir das ge­lungen ist, mögen Sie selber beurteilen. Aber damit das Wesentli­che auf keinen Fall untergeht, sei zum Schluss noch mal der erste Johan­nesbrief zitiert, einige Verse nach unserem Predigttext: „Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“ Und jetzt sage ich wirklich Amen.

Pfarrer Dr. Martin Klein