Predigt Talkirche, Sonntag, 19. Januar 2025

Gottesdienst für den zweiten Sonntag nach Epiphanias

Text: Röm 12,9-16

Die Liebe sei ohne Falsch. Verabscheut das Böse, hängt dem Guten an. Die geschwisterliche Liebe untereinander sei herzlich. Einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor. Seid nicht träge in dem, was ihr tun sollt. Seid brennend im Geist. Befolgt das Gebot der Stunde. Seid fröhlich in Hoffnung, standhaft in Bedrängnis, beharr­lich im Gebet. Nehmt euch der Nöte der Heiligen an. Übt Gastfreund­schaft. Segnet, die euch verfolgen; segnet, und verflucht sie nicht. Freut euch mit den Fröhlichen, weint mit den Weinenden. Seid eines Sinnes unter­einander. Trachtet nicht nach hohen Dingen, sondern haltet euch zu den niedrigen. Haltet euch nicht selbst für klug.

Nicht wahr, da schwirrt einem ganz schön der Kopf, wenn man das hört. Zwanzig Ermahnungen in acht Bibelversen! Wer soll sich das bloß alles merken? Es klingt ein wenig wie die vielen guten Rat­schläge, die Eltern ihren Kindern mitgeben, wenn die zum ersten Mal allein verreisen: „Sei schön artig, pass auf dich auf, geh sorgfäl­tig mit deinen Sachen um, vergiss das Zähneput­zen nicht“ und so weiter. Da hilft auch nur eins: Zu allem verständ­nisvoll nicken und die Ohren auf Durchzug schalten.

Dass Paulus das so schreibt, hat natürlich seinen Grund. Er möchte eben nicht nur Allgemeinplätze über christliches Verhalten von sich geben, sondern er will möglichst konkret werden. Aber auch Paulus geht selbstverständlich nicht davon aus, dass wir seine ganzen Er­mah­­nungen schon nach einmaligem Lesen verinnerlicht haben oder dass man sie alle in einer Viertelstunde Predigt abhandeln könnte. Also greife ich für heute nur einen Satz heraus, weil ich ihn für be­sonders bedenkenswert halte. Er steht fast am Ende der lan­gen Rei­he:

Trachtet nicht nach hohen Dingen,
sondern haltet euch zu den niedri­gen.

Dieser Satz hat es in sich, finde ich. Um das zu verdeutlichen, mache ich einen kleinen Umweg über ein längst vergangenes aber noch sehr präsentes Schiffsunglück: In der Nacht vom 14. auf den 15. April 1912 stieß der Schnelldampfer Titanic vor Neufundland mit einem Eisberg zusammen und sank. 1500 Menschen kamen dabei ums Le­ben. Das ist inzwischen mehr als hundert Jahre her. Und doch beschäf­tigt diese Katastrophe immer noch die Gemüter: Das Titanic-Museum in Belfast, wo das Schiff gebaut wurde, ist die Haupt-Attrak­tion der Stadt. Demnächst gibt es auch in Köln eine große, multi­medi­ale Titanic-Ausstellung – der Vorverkauf läuft prächtig. Und der Film „Titanic“ von James Cameron, 1997 gedreht, ist immer noch einer der erfolgreichsten Filme aller Zeiten. Ich denke, die meis­ten hier haben ihn mindestens einmal gesehen.

Warum ist das so? Warum fasziniert das Schicksal dieses Schiffes immer noch so viele Menschen? Es liegt wohl nicht zuletzt daran, dass der Untergang der Titanic zu einem eindrücklichen Sinnbild für menschliche Überheblichkeit geworden ist. Schon der Name „Tita­nic“ war ja Programm. Die Titanen, das waren die Riesen der griechi­schen Sage, die sich gegen die Götter erhoben, um sich an ihre Stelle zu setzen. Als das größte, modernste und angeblich sicher­ste Schiff der Welt war die Titanic ein Symbol für grenzenlosen Fortschritts­glauben. Mit den neuen technischen Errungenschaften glaub­te man keine Naturgewalt mehr fürchten zu müssen und kei­nen Gott mehr nötig zu haben. „Nicht einmal Gott selbst könnte dieses Schiff versenken“, soll der Eigentümer der Titanic gesagt ha­ben. Was aus solchen Sprüchen wurde, ist bekannt: Schon auf seiner ersten Fahrt versank das vielgepriesene Wunderwerk der Technik in den Fluten des Atlantik. Nicht der Eisberg war daran schuld, sondern Fehler in der Konstruktion und Ausrü­stung und menschliches Versagen. Von den mehr als 2200 Menschen an Bord wurden nur 700 geret­tet. Die anderen ertranken oder erfroren im eiskalten Wasser. Die meisten von ihnen waren in der dritten Klasse unterwegs: Aus­wande­rer, die in Amerika ein besseres Leben finden wollten. Als man sie endlich an Deck ließ, waren die meisten der zu wenigen Rettungsboote schon weg.

Das ist lange her, wie gesagt. Heute mag es andere Symbole gren­zenlo­sen Fortschritts geben, aber die Überheblichkeit ist noch die gleiche. „Klonen ist der erste ernsthafte Schritt des Menschen, wie Gott zu werden.“ Das hat ein amerikanischer Wissenschaftler schon vor 27 Jahren verkündet, und er wollte dabei auch vor dem geneti­schen Kopieren von Menschen nicht haltmachen. Andere arbei­ten daran, das Altern zu überwinden und den Menschen unsterb­lich zu machen. Künstliche Intelligenz entwickelt sich in rasen­dem Tempo. Geo-Engineering soll den Klimawandel stoppen. Und Elon Musk will unbedingt zum Mars. Viele weisen zwar auch auf die Gefahren hin, die in alledem stecken, und manche rufen nach Beschränkungen und Verboten. Aber was die Wissenschaft einmal erdacht hat, das wird sie auch tun – Verbot hin oder her. Wen dies­mal die negativen Folgen treffen, weiß noch kei­ner. Aber sicher sind es wieder die, die am wenigsten dafür können.

„Trachtet nicht nach hohen Dingen“, sagt Paulus. Auf meine Bei­spiele angewandt heißt das: Spielt euch nicht als Titanen auf und versucht nicht, wie Gott zu werden. Nicht nur deshalb, weil es euch nicht zusteht und auch nicht gelingen wird. Sondern vor allem des­halb, weil Gott gar nicht so ist, wie ihr gern sein wollt. Denn Gott hat uns genau das vorgemacht, was Paulus uns empfiehlt. Er hat sich nicht eifersüchtig an seine Göttlichkeit geklammert, sondern hat sich zu den Niedrigen gehalten. Damit hält er uns den Spiegel vor, nicht nur den selbsternannten Halbgöttern des Fortschritts, sondern uns allen:

Wir Menschen wollen Reichtum und Erfolg, und sobald wir beides haben, sind uns die Armen und die Verlierer egal. – Gott gibt alles auf, kommt in einem Stall zur Welt und gesellt sich zu den Armen und Verachteten.

Wir Menschen maßen uns an, über alles und jeden urteilen zu kön­nen. – Gottes Sohn lässt sich ausgrenzen und verurteilen, und das zu unseren Gunsten.

Wir haben alle unsere Allmachtfantasien, und wehe der Welt, wenn wir die Mittel besitzen, um sie auszuleben. – Gottes Sohn lässt sich ohne Widerstand verhaften und ohnmächtig ans Kreuz schlagen.

Wir wollen 100 Jahre und älter werden, und das möglichst ohne Leiden und Schmerzen – Gottes Sohn stirbt als junger Mann einen qualvollen Tod.

Wenn wir also wirklich wie Gott sein wollen, dann sollten wir es so machen wie er. Wir sollten dem Rat des Paulus folgen und uns zu den Niedrigen halten. Vom Wortlaut her ist nicht ganz klar, ob er damit niedrige Dinge oder niedrige Menschen meint. Ich denke, dass beides zusammengehört.

Niedrige Dinge – darunter verstehe ich unsere ganz alltäglichen Auf­gaben: gewissenhaft unserer Arbeit nachgehen, unseren gesell­schaftli­chen Pflich­ten nachkommen, unseren Kindern und En­keln gute Eltern und Großeltern sein, mit Gottes Schöpfung verant­wort­lich umgehen. Das ist alles nichts Spektakuläres, nichts womit man Reichtümer oder Verdienstorden sammeln könnte. Aber ohne das alles könnten wir als Menschen nicht zusammenleben und letztlich auch nicht überleben.

Und niedrige Menschen – das sind die vielen, die auf der Schatten­seite unserer schönen neuen Welt gelandet sind. Die Menschen, über die der gewissenlose Fortschrittsglaube hinwegzugehen pflegt. Die vielen zum Beispiel, deren Arbeitskraft nicht mehr ge­fragt ist, weil Computer und Roboter ihre Jobs erledigen. Oder die Alten und Kranken, die mit dem allgemeinen Schönheits- und Fitness-Wahn nicht mithalten können. Oder die Armen im globalen Süden, die von unserem Fortschritt nur den Müll und die zerstörten Lebensgrundla­gen abbekommen. Haltet euch zu ihnen, sagt Paulus. Schaut hin und seht, dass sie Menschen sind wie ihr, dass ihnen ein lebenswertes Leben genauso zusteht wie euch. Hört ihnen zu, lasst euch von ihrer Not erzählen, die genauso gut eure sein könnte. Und dann tretet für ihre Rechte ein und helft ihnen so gut ihr könnt. Und wenn ihr dazu auf bestimmte Dinge verzichten müsst, dann lasst euch von dem Gott dafür die Kraft schenken, der auf alles verzich­tet hat, um euch und ihnen nahe zu sein.

Als die Titanic unterging, hat die Schiffskapelle bis fast zum Schluss weitermusiziert, um einer Panik vorzubeugen. Es wird überliefert, dass sie ganz zuletzt einen Choral gespielt hat: „Näher, mein Gott, zu dir, näher zu dir!“ So ist es auch in dem Film von James Cameron. Und dazu sieht man Bilder der Menschen, die bald Opfer der Katastro­phe sein werden: ein altes Ehepaar, das Hand in Hand auf den Untergang wartet; eine Mutter, die ihren Kindern im Angesicht des Todes Geschichten ge­gen die Angst erzählt; den Kapitän, der hilflos mitansehen muss, wie sein Schiff versinkt. Vielleicht ist die Botschaft dieser Bilder die gleiche wie die meiner Predigt: „Näher mein Gott zu dir“, das heißt: „Näher zu den Menschen, denen du, Gott, so nahe bist wie mir selbst.“ Um die Menschen geht es Gott, nicht um die hohen Dinge. Und deshalb können wir uns darauf verlas­sen: Wann immer wir auf Menschen zugehen, uns ihnen nä­hern, ist Gott schon bei ihnen. Amen.

Ihr Pastor Martin Klein