Predigt Talkirche, Sonntag, 17. November 2024

Gottesdienst für den vorletzten Sonntag des Kirchenjahres

Text: Römer 14,7-9

Ich möchte Ihnen heute die Familie Singel vorstellen. Sie steht weder im Telefonbuch noch lässt sie sich googeln, denn ich habe sie mir aus­gedacht. Aber wenn es sie gäbe, könnte sie durchaus in unserer Nähe wohnen, in Setzen vielleicht, im Wenscht oder auf dem Schießberg.

Das jüngste Mitglied der Familie ist Marvin Singel. Marvin ist drei­zehn Jahre alt. Er ist das einzige Kind seiner Eltern. Bis zum letzten Schuljahr war Marvin auf dem Gymnasium, aber jetzt geht er auf die Gesamtschule. Er kam in Englisch und Deutsch einfach nicht mehr mit, und die Nachhilfe hat nichts gebracht. Wenn Marvin aus der Schule nach Hause kommt, steht sein Mittagessen in der Mikrowelle, oder er holt sich noch was an der Döner-Bude. Seine Eltern kom­men erst später von der Arbeit. Den Nachmittag verbringt er in sei­nem Zim­mer mit Computer-Spielen. Gegen Abend werden dann noch schnell die nötigsten Hausaufgaben gemacht. Manchmal trifft er sich mit ein paar Kumpels aus der Klasse zum Skaten oder so. Aber eigentlich kann er nicht so schrecklich viel mit denen anfan­gen. Ab und zu unternimmt er am Wochenende was mit seinen El­tern. Sie fahren auch zusammen in Urlaub – Holland oder Mallorca. Aber irgendwie ist das auch lang­weilig, nur zu dritt. Was er mal wer­den will, weiß er noch nicht. Es werden ja dringend Fachkräfte ge­sucht, aber es ist so schwer, sich für irgendwas zu entscheiden – und die Noten müssen auch erst mal stimmen! Manchmal sehnt sich Marvin nach einem richtig guten Freund.

Markus und Marion Singel, Marvins Eltern, sind beide berufstätig. Er ist Bankangestellter, sie arbeitet als Sekretärin. Sie brauchen die zwei Gehälter. Denn schließlich müssen sie beide ein Auto haben für den Weg zur Arbeit, das Haus muss abbezahlt werden, und der Urlaub geht auch ins Geld. Da muss man zusehen, dass man den Job nicht verliert, und auch mal Überstunden in Kauf nehmen. Mehr als ein Kind war da nicht drin. Nach der Arbeit muss natürlich noch der Haushalt erledigt werden – das meiste davon bleibt an Marion hän­gen. Den Rest des Feierabends hocken sie dann meistens vor dem Fernseher. Bevor Marvin kam, waren sie auch schon mal abends unter­wegs – Kino oder Kneipe oder so; aber als Marvin klein war, ging’s nicht, und jetzt sind sie meistens zu k.o., um sich noch mal aufzuraf­fen. Außerdem leben sie inzwi­schen beide ihr eigenes Leben: jeder hat seine Arbeit, seine Freunde, seine Hobbys. Wenn sie mal Zeit füreinander haben – am Wochen­ende oder im Urlaub – wird ihnen erst bewusst, wie wenig sie sich noch zu sagen haben. Manch­mal tut ihnen das leid. Manchmal hat Marion auch ein schlechtes Gewissen, weil sie so wenig Zeit für Marvin hat. Aber dann fragt sie sich: „Wa­rum haben eigentlich immer nur die Mütter das schlechte Gewis­sen?“

Margret Singel ist die Mutter von Markus. Sie ist 79. Seit ihr Mann vor ein paar Jahren gestorben ist, lebt sie allein in ihrem Haus, das ihr jetzt eigentlich viel zu groß ist. Ihr Tagesablauf ist immer gleich: um halb sieben aufstehen, Kaffee ko­chen, Zeitung lesen, Haus in Ord­nung bringen, einkaufen, Essen kochen, Mittagsschlaf, ein bisschen Garten- oder Handarbei­t, Abendessen, fernsehen, ins Bett gehen. So hält sie es seit Jahr­zehnten. Nur dass heute nicht mehr so viel zu tun ist wie frü­her. Manchmal trifft sie Bekannte und plaudert ein Weil­chen mit ihnen. Aber viele sind von den Alten nicht mehr übrig. Oft trauert sie der guten Nachbarschaft nach, die sie mal hatten – damals, als sie noch jung waren und froh, endlich ein ordentliches Dach überm Kopf mit genug Platz für die Familie zu haben. Damals saßen irgend­wie alle noch im selben Boot, waren in der gleichen Le­benslage und bereit, einan­der zu unterstützen. Heute wird man bestenfalls noch flüchtig gegrüßt. Ansonsten sitzen alle in ihren Häu­sern, und keiner weiß viel über den anderen. Sonntagnachmittags kommen die Kinder, ab und zu. „Könnten sie ruhig öfter tun“, denkt Margret Singel oft. „Sie haben’s doch gar nicht so weit.“ Und sie erin­nert sich an die Zeit, als die Kin­der noch klein waren – wie viel Ar­beit das war, und worauf sie und ihr Mann alles verzichtet haben. Aber dann versucht sie sich zu beschwichtigen: „Die haben halt ihr eigenes Leben – was sollen sie auch mit einer alten Frau wie mir noch anfan­gen?“ Wenn nur die Gesundheit weiter mitspielt! Was passiert, wenn’s mal schlimmer wird mit den Schmerzen im Rücken oder mit der Vergesslichkeit – daran traut sie gar nicht zu denken.

Wie gesagt – die Familie Singel habe ich frei erfunden. Aber wenn Ihnen trotzdem das Eine oder Andere bekannt vorkommt, dann ist das natürlich kein Zufall. In meine Beschreibung sind viele Be­obachtungen eingeflossen, die ich so mache, wenn ich in der Ge­meinde herumkomme. Etwas überspitzt könnte ich diese Be­obach­tungen so zusammenfassen: „Jeder lebt sich selber und jeder stirbt sich selber. Leben wir, so leben wir allein, und sterben wir, so sterben wir allein. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir allein.“ Viel­leicht denken Sie jetzt: Das kommt mir doch irgendwie bekannt vor. Sie haben Recht. Nur dass das Original aus der Bibel etwas an­ders lautet:

Denn unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber. Le­ben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn. Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er über Tote und Lebende Herr sei.

So schreibt Paulus an die Christen in Rom. Und er widerspricht da­mit allem, was wir täglich beobachten und erfahren. Jeder lebt sein eige­nes Leben? Jede ist für sich selbst verantwortlich, im Guten wie im Schlechten? Nein, sagt Paulus. Ihr gehört euch gar nicht; ihr ge­hört einem anderen; ihr habt euch sozusagen nur geliehen. Eine ziemlich verrückte Vorstellung, schon damals. Aber erst recht heute, wo wir nichts mehr von Sklave­rei halten und wo Freiheit und Selbst­bestim­mung als Recht jedes Menschen gelten. Wie kann Paulus so etwas sagen?

Er kann es des­halb, weil er davon überzeugt ist, was am Schluss des Textabschnitts steht: „Dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er über Tote und Lebende Herr sei.“

Diese Überzeugung des Paulus geht uns nicht so glatt runter. Wir haben nicht gern jemanden über uns, erst recht keinen, der uns völlig in der Hand hat. Und wenn es um menschliche Herren geht, um Aus­beuter und Tyrannen, dann haben wir damit auch völlig Recht. Aber ich glaube, es hat auch seine Schattenseiten, dass wir am liebsten un­ser eigener Herr sind. Denn wer sein eigener Herr ist, der ist auch niemandem mehr verantwortlich. Der wird zum Einzelkämpfer für sein Lebensglück. Manche haben damit Erfolg. Aber viele geraten auch unter die Räder. Denn wenn jede und jeder für sich kämpft, dann setzen sich die Schlaueren und Stärkeren durch. Die anderen haben das Nachsehen. So wie Margret Singel gegenüber ihren Kindern. Oder wie Marion Singel gegenüber ihrem Mann. Aber eins gilt für beide, die erfolgreichen und die erfolglosen Einzelkämpfer: sie alle werden einsam dabei. Und wenn das zu Lebzeiten noch nicht so auffällt: spä­testens, wenn‘s ans Sterben geht, wird es offenbar. Wer sich im­mer nur allein durchs Leben geschlagen hat, der ringt auch allein mit dem Tod. Aber diesen Kampf kann auch der beste Einzelkämpfer nicht gewinnen.

Deshalb wage ich mit Paulus die Behauptung: Es tut uns gut, wenn wir nicht uns selbst gehören. Und es tut uns gut, wenn wir nicht ir­gendjemandem gehören, sondern dem einen Herrn Jesus Christus. Denn seine Herrschaft ist ganz anders als alles, was wir kennen. Sie beginnt nämlich damit, dass er erst einmal auf sie verzichtet. Er ver­zichtet dar­auf, der allmächtige Gott zu sein, und wird ein Mensch wie wir. Aber er wird kein Einzelkämpfer. Er kämpft für andere, für uns. Seine Waffen sind seine mitreißenden Worte und seine heilenden Hände – und seine Bereitschaft, seinen Weg bis zum bitteren Ende zu gehen. Nur so konnte er seinen Kampf gewinnen. Nur so konnte er sogar den Tod besiegen. Also: Wenn Jesus Christus unser Herr ist, dann drückt er uns nicht nieder, sondern er steht uns bei und richtet uns auf. Wenn er unser Herr ist, dann lässt er uns nicht seine Macht füh­len, sondern teilt unsere Ohnmacht. Wenn er unser Herr ist, dann können wir gegenüber allen irdischen Herren getrost unsere Freiheit bewahren. Wenn wir ihm gehören, dann sorgt er für unser Leben und macht uns damit den Blick frei für das, was die anderen brauchen. Und wenn er über Tote und Lebende Herr ist, dann fallen wir am Ende nicht ins Nichts, sondern in seine Hände. Diese Herrschaft ziehe ich gern allen anderen Herrschaften vor, auch meiner eigenen.

Übrigens müssen wir uns gar nicht groß darum bemühen, dass Jesus Christus unser Herr wird. Er ist es nämlich längst. Seit unserer Taufe gehören wir ihm. Seitdem gilt für uns: „Fürchte dich nicht, ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein.“ Wir brauchen nichts anderes zu tun als das für uns zu akzeptieren und wahr sein zu lassen.

Marvin Singel ist wahrscheinlich gerade Konfirmand – ich hoffe, dass er dort etwas von Jesus und seiner ganz anderen Herrschaft erfährt. Vielleicht gibt es ihm Orientierung und den nötigen Mut, sich seinen Platz im Leben zu suchen. Ich hoffe, dass auch Markus und Marion etwas da­von mitbekommen. Vielleicht hilft es ihnen, die Gewichte in ihrem Leben neu zu verteilen – unter Umständen mit weniger Geld, aber mit mehr Zeit füreinander und für die Familie. Und ich hoffe, dass auch Margret Singel nicht vergisst, was sie in ihrer Jugend mal ge­lernt hat. Viel­leicht gibt es ihr Kraft, die Beschwerden des Alters zu ertragen und getrost auf das Lebensende zuzugehen. Und was ich meiner er­funde­nen Familie wünsche, das wünsche ich erst recht uns allen hier: Möge es uns immer neu bewusst werden, dass wir nicht unser eigener Herr sind, sondern dass unser Leben und Sterben in anderen, viel besseren Händen liegt. Und was Menschen angeht, die wirklich oder vermeintlich Macht über uns haben, so mögen sie sich der Einsicht Gustav Heinemanns erinnern: „Die Herren dieser Welt gehen – unser Herr kommt!“ „Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er über Tote und Lebende Herr sei.“ Amen.

Ihr Pastor Martin Klein