Predigt Talkirche, Sonntag, 16. Februar 2014

Gottesdienst für den Sonntag Septuagesimae

Text: Röm 9,14-24

Was sollen wir nun hierzu sagen? Ist denn Gott ungerecht? Das sei ferne! Denn er spricht zu Mose: »Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig; und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich.« So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Got­tes Erbarmen. Denn die Schrift sagt zum Pharao: »Eben dazu habe ich dich erweckt, damit ich an dir meine Macht erweise und damit mein Name auf der ganzen Erde verkündigt werde.« So erbarmt er sich nun, wessen er will, und verstockt, wen er will.
Nun sagst du zu mir: Warum beschuldigt er dann noch? Wer kann seinem Willen widerstehen? Ja, lieber Mensch, wer bist du denn, dass du mit Gott rechten willst? Spricht auch ein Werk zu seinem Meister: Warum machst du mich so? Hat nicht ein Töpfer Macht über den Ton, aus demselben Klumpen ein Gefäß zu ehrenvollem und ein anderes zu nicht ehrenvollem Gebrauch zu machen? Da Gott seinen Zorn erzeigen und seine Macht kundtun wollte, hat er mit großer Geduld ertragen die Gefäße des Zorns, die zum Verderben bestimmt waren, damit er den Reichtum seiner Herrlichkeit kundtue an den Gefäßen der Barmherzigkeit, die er zuvor bereitet hatte zur Herrlichkeit. Dazu hat er uns berufen, nicht allein aus den Juden, sondern auch aus den Heiden.

Ist Gott ungerecht? Viele Menschen, vielleicht auch einige von Ih­nen, würden diese Frage wohl mit Ja zu beantworten. Und dafür gibt es ja auch Gründe. Oder ist es etwa gerecht, dass die ärmsten Regio­nen der Erde obendrein noch besonders häufig von Naturkatastro­phen heimgesucht werden – so wie zum Beispiel beim Erdbeben in Haiti vor ein paar Jahren oder letztens bei dem furchtbaren Taifun auf den Philippinen? Ist es gerecht, dass Näherinnen in Bangladesch für wenig Lohn in maroden Textilfabriken schuften, die dann schon mal über ihnen zusammenbrechen – während wir uns über billige Textilien freuen und die Hersteller gut verdienen? Ist es gerecht, dass in Syrien jeden Tag Menschen in einem Bürgerkrieg sterben, den offenbar niemand beenden kann und will? Wenn Gott allmächtig ist, dann könnte er das alles doch verhin­dern. Und wenn er wirklich diese Welt liebt, wie wir eben gesun­gen haben, dann müsste er es sogar verhindern.

Man kann dagegen natürlich einiges einwenden. Zum Stichwort „Naturkatastrophen“ kann man sagen, dass Gott einfach die Gege­benheiten seiner Schöpfung akzeptiert – und zu denen gehören eben Stürme ebenso wie bewegliche Erdplatten, die sich aneinander reiben und Beben verursachen. Und man könnte sagen, dass Gott den Men­schen eben Handlungsspielräume überlassen hat, die sie zum Guten nutzen können, aber auch zum Bösen wie Ausbeutung, Unterdrü­ckung und Krieg. Das sind immerhin brauchbare Argumente, auch wenn sie vielleicht nicht völ­lig überzeugend sind – erst recht nicht für direkt Betroffene.

Aber wenn Paulus in unserem Predigttext die Frage stellt, ob Gott ungerecht ist, dann reicht diese Frage noch viel tiefer. Und sie ist auch noch viel schwieriger zu beant­worten. Denn für Paulus geht es nicht um Dinge, bei denen man auf die Naturgesetze oder auf menschliche Handlungsfreiheit verweisen könnte. Für Paulus geht es um etwas, das nach der Bibel einzig und allein Gottes Sache ist: nämlich Menschen das Heil zu schenken oder es ihnen zu versagen. Und Heil meint nicht nur irdisches Wohlerge­hen, sondern Rettung in Zeit und Ewigkeit. Es geht um Himmel oder Hölle, um ewiges Leben oder ewigen Tod. Kann es sein, dass Gott bei dieser seiner ureigens­ten Sache ungerecht ist? Dass er Heil und Verderben völlig willkür­lich verteilt wie ein Lehrer, der die Noten seiner Schüler durch Wür­feln festlegt?
Damit wir ermessen können, wie ernst dieser Einwand ist, dem Pau­lus sich hier ausgesetzt sieht, muss ich etwas weiter ausholen.

Paulus ist davon überzeugt, dass Gott in Jesus Christus zum Heil aller Menschen gehandelt hat. Und damit hat Gott alle Verheißungen erfüllt, die wir in unserem Alten Testament finden. Diese Verheißun­gen sind aber ursprünglich an das Volk Israel gerichtet. Gott hat Is­rael zu seinem Volk erwählt, und nichts und niemand kann diese Er­wählung aufheben. Umso unbegreiflicher ist es für Paulus, dass aus­gerechnet Israel von seinem Messias nichts wissen will. Nur ganz wenige Juden kommen zum Glauben an Jesus Christus. Einer von ihnen ist Paulus selbst. Und nichts macht ihm mehr zu schaffen, als dass er mit seiner Verkündigung ausgerechnet bei seinen Landsleu­ten auf soviel Ablehnung stößt. Am Anfang von Römer 9 versteigt er sich sogar zu der Beteuerung, dass er selber verflucht und von Christus getrennt sein will, wenn dafür seine Mitisraeliten zum Glauben kommen und gerettet werden. Wenn Paulus also die Frage stellt, ob Gott ungerecht ist, dann zitiert er damit nicht nur ei­nen Einwand, den er von seinen theologischen Gegnern zu hören bekam, sondern er benennt ein Problem, das ihn auch selber um­getrieben hat: Ist Gott nicht ungerecht, wenn er so viele Heiden zum Glauben kommen lässt, während sein erwähltes Volk größtenteils draußen vor der Tür bleibt?

Paulus hat mit diesem Problem lange gerungen. Er hat nachgedacht, seine Bibel gewälzt und sicher auch gebetet. Und schließlich hat er für sich zu einer Lösung gefunden. Wir können sie in den Kapiteln 9-11 des Römerbriefs nachlesen.

Diese Lösung lautet zunächst, dass nicht alle, die sich Israel nennen, auch tatsächlich Israel sind. Gottes Verheißungen gelten nicht ein­fach allen biologischen Nachkommen des Stammvaters Abraham, sondern nur denen, die Gott erwählt hat. Wenn man das erste Buch Mose liest, entdeckt man, dass Abraham im ganzen acht Söhne hatte: Ismael von seiner Magd Hagar, Isaak von seiner Frau Sara und dann noch mal sechs andere aus seiner zweiten Ehe mit Ketura. Aber nur einem dieser Söhne galten die Verheißungen Gottes, und das war Isaak. Und in der nächsten Generation war es genauso, diesmal sogar bei zwei Söhnen der gleichen Mutter: Isaaks Frau Rebekka brachte Zwillinge zur Welt. Aber schon bevor sie geboren wurden, sprach Gott: „Der Ältere wird dem Jüngeren dienen.“ Und so wurde Jakob erwählt und Esau verworfen, ohne dass es dafür irgendeine Begrün­dung gäbe.

Nachdem Paulus das dargelegt hat, kommt der Einwand, mit dem unser Predigttext beginnt: Ist Gott nicht ungerecht, wenn er so ver­fährt? Nein, sagt Paulus, denn Gott ist in seinem Handeln völlig frei. Er kann erwählen, wen er will: „Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig“, sagt er zu Mose, „und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich.“ Und genauso kann er das Herz eines Menschen verhärten, so dass der gar nicht mehr anders kann, als sich Gott und seinem Wort zu widersetzen. So wie er es zum Beispiel mit dem Pha­rao gemacht hat: Je länger der sich weigerte, Israel aus Ägypten zie­hen zu lassen, desto größer war am Ende der Sieg Gottes, und das war genau die Rolle, die Gott dem Pharao zugewiesen hatte.

An dieser Stelle ist aber wieder ein Einwand fällig: Wenn Gott einen Menschen so verhärtet, dass er gar nicht anders kann, als Nein zu ihm zu sagen, wie kann er ihn dann noch für dieses Nein verantwort­lich machen? Ist er dann nicht nur noch ein willenloses Werkzeug, jemand, der Böses tut, weil Gott das so will? Was unterscheidet Gott dann noch vom Satan? Der hat zum Beispiel vor einigen Jahren ei­nem Ehepaar aus Witten angeblich be­fohlen, einen ahnungslosen Freund umzu­bringen, so dass die bei­den sich danach für völlig un­schuldig hielten.
Spätestens bei dieser modernen Parallele merken wir, was für einen gefährlichen Gedanken Paulus hier formuliert. Gott droht zum Urhe­ber des Bösen zu werden; aber dann wäre er nicht mehr Gott, son­dern der Teufel. Paulus scheint selbst zu merken, auf welches Glatt­eis er sich begeben hat. Deshalb verzichtet er auf weitere Argu­mente und weist den Einwand einfach schroff zurück: „Wer bist du denn, du kleiner Mensch, dass du mit Gott einen Rechtsstreit begin­nen könntest?“ Genauso absurd wäre es, wenn ein Nachttopf seinen Her­steller verklagen würde, weil er keine Blumenvase ist!

Uns passt es natürlich gar nicht, dass Paulus die Diskus­sion so auto­ritär für beendet erklärt. Wir sind halt gewohnt, alles und jedes kri­tisch zu hinterfragen. Wenn sich jemand kritische Be­merkungen ein­fach verbittet, dann ist das für uns eher ein Zeichen der Schwäche als der Stärke. Wenn einer uns so kommt, dann hat er schon verloren.
Aber ehe wir entsprechend über Paulus urteilen, sollten wir noch einmal bedenken, vor welchem Hintergrund er so redet. Am Anfang des Römerbriefs hat er dargelegt, dass kein Mensch das Heil Gottes ver­dient hat. Wir sind alle Sünder, wir leben alle so, als ob es Gott nicht gäbe, wir haben von vornherein Nein gesagt zu dem, was er von uns will. Vor diesem Hintergrund wäre Gott nur dann „gerecht“, wenn er uns allesamt verwerfen würde: „Ihr wollt von mir nichts wissen, also will ich jetzt auch von euch nichts mehr wissen. Macht doch, was ihr wollt, raubt euch meinetwegen gegenseitig aus und bringt einer den anderen um, und das ohne Hoffnung, dass nach dem Tod noch ir­gendetwas kommt – mir ist das alles egal, denn ihr habt es nicht an­ders verdient.“ Wer könnte es Gott, dem Schöpfer, ver­wehren, wenn er so reagieren würde? Kein Mensch hat ein Recht auf Gottes Barm­herzigkeit. Sie ist immer ein unverdientes Geschenk. Nichts gegen gute Werke. Sie können viel bewirken in unserer Welt. Aber sie kön­nen den breiten Graben nicht überwinden, der uns von Gott trennt.

Gott selbst ist es, der diese Trennung aufgehoben hat. Er hat Gnade vor Recht ergehen lassen und uns mit seiner Barmherzigkeit be­schenkt. Er hat uns erwählt, indem er einer von uns geworden ist. Nicht weil wir das verdient hätten, sondern weil er uns lieb hat – trotz allem.
Deshalb muss sich auch niemand mehr mit dem Gedanken quälen, er könnte von Gott verworfen sein. Gott hat die Welt mit sich versöhnt, sagt Paulus im zweiten Korintherbrief. Die Erwählten Gottes sind kein exklusiver Club. Das mögen die Zeugen Jehovas glauben, das mag sogar beim alten Calvin so geklungen haben, aber es ent­spricht nicht der biblischen Botschaft. Die Er­wählten Gottes – das sind wir alle. Keiner von uns ist ausgeschlossen von dem Heil, das Gott in Jesus Christus erwirkt hat. Wir alle sind dazu eingeladen, uns dieses Heil schenken zu lassen.

Bleibt die Frage, was dann mit denen ist, die ein verhärtetes Herz haben. Denn die gibt es ja. Es gibt genug Menschen, die mit Goethes Faust sagen: „Die Botschaft hör ich wohl, allein, mir fehlt der Glaube.“ Was die Bibel von Gott und Jesus Christus erzählt, kommt bei ihnen einfach nicht an. Sie können es nicht für sich als wahr an­erkennen, auch wenn sie es vielleicht gern möchten. Und wenn es stimmt, dass Gott es ist, der uns den Glauben schenkt, dann ist er es auch, der diesen Menschen den Weg zum Glauben verschlossen hat. Und wir können nicht begreifen und ergründen, warum er das tut.

Wenn wir allerdings im Römerbrief weiterlesen bis zum 11. Kapitel, können wir doch wieder Hoffnung schöpfen für die Verstockten und Verhärteten. Denn dort sagt Paulus, dass die Verstockung nicht Got­tes letztes Wort über Israel ist. Er hat zwar einem Großteil des Vol­kes Israel den Glauben an Jesus Christus verwehrt. Aber nach Paulus hat er das nur getan, damit dieser Glaube den Weg zu den anderen Völkern findet. Und ich denke, er hat recht damit. Denn wenn alle Juden damals Christen geworden wären, dann wäre wohl keiner der ersten Missionare auf die Idee gekommen, stattdessen zu den Heiden zu gehen. Erst die Ablehnung ihrer jüdischen Landsleute hat sie zu den Nichtjuden getrieben. Nur so konnten alle Menschen, etwas von Jesus Christus erfahren, auch wir hier und heute. Wenn aber dann eines Tages das Evangelium zu allen Völkern gelangt ist, dann kommt der Tag, sagt Paulus, an dem auch ganz Israel gerettet wird. Dann wird Gott ihre Verstockung aufheben und sie werden Jesus Christus als ihren Messias erkennen. Denn Gottes Verheißungen an Israel bleiben gültig, und eines Tages werden sie sich an ihnen er­füllen.

Was Paulus hier über Israel sagt, das lässt mich auch für den Rest der ungläubigen Menschheit hoffen. Denn auch für sie gilt ja das, was Gott in Jesus Christus getan hat. Wird er eines Tages auch ihnen die Augen und Herzen öffnen für sein Heil, so dass alle Menschen ge­rettet werden? Paulus hat diese Konsequenz nicht gezogen, und auch das übrige Neue Testament nicht. Deshalb möchte ich es ebenfalls bei der Frage belassen. Ich weiß nicht, was Gott mit denen vorhat, die bei ihrem Unglauben bleiben, und ich tue gut daran, wenn ich es seinem Urteil überlasse. Aber ich glaube, ich würde Gott klein ma­chen, wenn ich ihm nicht zutrauen würde, das Heil, das allen Men­schen gilt, auch allen Menschen zukommen zu lassen. Und dem Teu­fel – dem geschähe doch recht, wenn seine Hölle leer bliebe, oder? Amen.

(Pfarrer Dr. Martin Klein)