Predigt Talkirche, Sonntag, 11.11.2018

GOTTESDIENST ZUM DRITTLETZTEN SONNTAG DES KIRCHENJAHRS
mit Gedenken an den 100. Jahrestag des Endes des 1. Weltkriegs

Text: Mi 4,1-5

Nun sind sie also vorübergehend wieder in der Kirche zu sehen: die Gedenktafeln für die Klafelder Gefallenen des Ersten Weltkriegs. Von 1925 bis 1954, hatte die zum Gottesdienst versammelte Gemeinde sie immer vor Augen. Nach einem zweiten, noch schrecklicheren Weltkrieg traten dann die Erinnerungen an den ersten in den Hintergrund, und das „Heldengedenken“ im Stil der Zwischenkriegszeit erschien nicht mehr zeitgemäß. Also wurden die gußeisernen Tafeln bei der letzten Kirchenrenovierung entfernt. Ganz wollte man sie freilich nicht entsorgen. Sie wurden später an der Außenwand der Kirche angebracht. Aber spätestens, seit die letzten nahen Angehörigen sind, nimmt so dort kaum noch jemand wirklich wahr. Aus dem gegebenen Anlass schien es mir allerdings richtig, sie noch mal in Erinnerung zu bringen.
268 Namen stehen wie gesagt auf diesen Tafeln. Vornamen, die heute wieder Konfirmanden tragen wie Paul oder Emil oder Friedrich. Familiennamen, die uns hier immer noch vertraut sind: Achenbach, Heinbach, Ohrndorf, Schnutz, Stötzel, Stutte und so weiter. Aber die Träger dieser Namen sind nun schon seit einem Jahrhundert tot. Es lebt auch niemand mehr, der sie persönlich gekannt hat. Vielleicht hat der eine oder andere noch Bilder von ihnen in einem alten Fotoalbum, so wie ich von meinen Großvätern: ernst blickende junge Männer mit Pickelhaube und geschultertem Karabiner oder Säbel in der Hand – Theaterwaffen aus dem Fundus des Fotografen, machtlos gegen die Mörser und Granatwerfer an der Front. Sie hatten das Leben noch vor sich, standen am Anfang des Berufs, waren verlobt oder frisch verheiratet, hatten kleine Kinder, hatten Eltern und Freunde, die sich um sie sorgten. Aber sie starben in der Blüte ihrer Jahre einen grausamen, sinnlosen Tod – oft nur für ein paar Meter Geländegewinn in einem Krieg, der in Wahrheit verloren war, sobald er begonnen hatte – und das für alle beteiligten Nationen.
Heute vor 100 Jahren war dieser Krieg vorbei. Es war das größte und furchtbarste Gemetzel, das die Menschheit bis dahin erlebt hatte, aber es war wahrlich nicht das erste und erst recht nicht das letzte. Im zweiten Weltkrieg starben noch mehr Menschen, darunter viel mehr Zivilisten, darunter auch die sechs Millionen Juden, die von Deutschen ermordet wurden – auch an sie hat uns vorgestern erst ein runder Jahrestag erinnert. Und danach ging es weiter: Korea, Vietnam, Afghanistan, Jugoslawien, Irak, Syrien, Ukraine, Jemen – das sind nur ein paar von über hundert Kriegen seit 1945 mit mindestens 25 Millionen Toten. Die allermeisten davon fanden ohne deutsche Beteiligung statt, aber die deutsche Waffenindustrie verdient daran immer noch kräftig mit.
„When will they ever learn?” seufzte Pete Seeger schon vor über sechzig Jahren in seinem Antikriegslied “Where have all the flowers gone“ („Sag mir, wo die Blumen sind“). Wann werden sie es je begreifen, dass Krieg einfach nur ein Verbrechen ist? Wann wird die Menschheit endlich lernen, wie man Frieden hält?
Die alte biblische Verheißung, die wir als Lesung gehört haben, sagt uns etwas darüber:

In den letzten Tagen wird der Berg, darauf des Herrn Haus ist, fest stehen, höher als alle Berge und über alle Hügel erhaben. Und die Völker werden herzulaufen, und viele Heiden werden hingehen und sagen: „Kommt, lasst uns hinauf zum Berge des Herrn gehen und zum Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir in seinen Pfaden wandeln!“ Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des Herrn Wort von Jerusalem. Er wird unter vielen Völkern richten und mächtige Nationen zurechtweisen in fernen Landen. Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen machen und ihre Spieße zu Sicheln. Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen. Ein jeder wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen, und niemand wird sie schrecken.

„Schwerter zu Pflugscharen, Spieße zu Sicheln“ – dieses starke Bild hat noch die Friedensbewegung der 1980er Jahre inspiriert. Aus Mordinstrumenten werden Werkzeuge für die Landwirtschaft. Statt dem Tod dienen sie nun dem Leben, dem Wachsen und Gedeihen. Statt für Vernichtung und Zerstörung sorgen sie nun dafür, dass alle genug zu essen haben, dass niemand mehr um Haus und Hof und Ernte fürchten muss, dass jeder „unter seinem Weinstock und Feigenbaum“ sicher wohnen kann und nicht mehr von Terror und Gewalt in die Flucht getrieben wird. Und das Schönste ist: Der Friede bleibt kein historischer Glücksfall, er ist nicht nur eine Atempause bis zum nächsten Gewaltausbruch. Denn der Krieg wird schlicht verlernt. Strategie und Waffentechnik, das ist Wissen, das niemand mehr braucht. Befehl und Gehorsam weren abgeschafft. Kampf- und Schießtraining finden nicht mehr statt, bis keiner mehr weiß, wie Krieg geht.
Stattdessen lernen die Menschen nun die Wege Gottes, heißt es bei Micha. Sie pilgern alle zum Tempel von Jerusalem, zur Wohnstatt des Gottes Israels. Sie wollen von ihm erfahren, was es bedeutet und wie man das macht: „Du sollst nicht töten“ und „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“. Und wenn es zum Streit kommt zwischen Menschen und Völkern, dann greifen sie nicht mehr zu den Waffen, sondern rufen Gott als Richter und Schlichter an. Denn „er wird den Erdkreis richten mit Gerechtigkeit“ (Ps 96,13) – viel besser als die UNO das jemals könnte.
Das ganze hat nur einen Haken: Es soll erst „in den letzten Tagen“ geschehen, und bei denen sind wir offenbar noch lange nicht angekommen. Im ersten Weltkrieg wurden nicht Schwerter zu Pflugscharen, sondern Glocken zu Munition verarbeitet. Auch das Geläut der Talkirche, mit dem Pastor Bergmann zu Beginn des Krieges noch jeden „Sieg der deutschen Waffen“ gefeiert hatte, wurde 1917 zum Einschmelzen abtransportiert. Noch heute gibt mancher Despot viel lieber Geld für Waffen aus als für Bildung und landwirtschaftliche Entwicklung. Von Jerusalem geht leider auch keine Weisung zum Frieden aus, sondern eher das Gegenteil. Und ob Europa seine lange Friedenszeit dazu genutzt hat, den Krieg untereinander wirklich gründlich zu verlernen, dafür möchte ich die Hand nicht ins Feuer legen.
Also sind es doch nur schöne Worte, die uns bei Micha und Jesaja überliefert werden? Worte, die Sehnsüchte ausdrücken und vielleicht auch wecken, die aber keine Aussicht auf Erfüllung haben? Auch bei Micha endet das Ganze ja mit einem Satz der Ernüchterung: „Ein jedes Volk wandelt im Namen seines Gottes“. Die Völkerwallfahrt zum Zion findet also nicht statt. Niemand außerhalb Israels hört auf die Weisung des Herrn, sondern alle machen weiter wie bisher und verehren ihre eigenen Götzen der Macht und der Stärke. Und wenn Israel von sich selber sagt: „aber wir wandeln im Namen des Herrn, unseres Gottes“, dann klingt das zwar tapfer, aber es ändert nichts an den traurigen Tatsachen.
Oder doch? Immerhin haben die, die so reden, es sich auf die Fahnen geschrieben, dem Herrn treu zu sein und auf seine Weisung zu hören. Und der Mund eben dieses Herrn ist es ja, aus dem die Verheißung des Friedens hervorgegangen ist. Ihr Treuebekenntnis heißt also auch: Wir fangen schon mal an. Wir machen uns auf zum Zion und hören auf Gottes Weisung. Und wenn es wirklich der Mund des Herrn war, der so gesprochen hat, dann werden wir nicht die einzigen bleiben. Irgendwann werden die letzten Tage da sein, und irgendwann wird wahr werden, was Gott verheißen hat.
Zu diesem Volk, das im Namen des Herrn wandelt, gehören wir durch Jesus Christus auch. In ihm wurde „des Herrn Wort“ Fleisch. Als Gott in ihm zur Welt kam, da sangen die Engel vom Frieden auf Erden. Und als er am Kreuz starb und nach drei Tagen auferstand, da versöhnte Gott Himmel und Erde, da hob er alle Feindschaft zwischen sich und den Menschen auf. „Er, Jesus Christus, ist unser Friede“, heißt es im Epheserbrief (2,14). Dort geht es um den Frieden zwischen Juden und Heiden. Aber genauso geht es um den Frieden zwischen Menschen, Völkern, Rassen und Religionen. Wer zu Jesus Christus gehört, in dem ist der Friede Gottes schon angebrochen und der ist bereit zum Frieden auf Erden.
Also: Kriege mögen andere führen, aber du, glückliches Volk Gottes, lass dich zum Werkzeug des Friedens machen. Verweigere dich der Logik von Gewalt und Gegengewalt. Schlichte Streit, wo du kannst. Trete dem Hass entschlossen entgegen. Setze Zeichen der Verständigung und der Versöhnung. Und wenn dich die Wut auf andere packt, dann bedenke, dass auch die, die dich so wütend machen, Gottes geliebte Kinder sind.
Im ersten Weltkrieg hat das bekanntlich nicht funktioniert. Da verweigerten sich die Christen auf allen Seiten nur höchst selten ihrer jeweiligen Kriegsmaschinerie. Da beteten sie überall um den Sieg und merkten nicht, dass sie dabei nicht zum Gott Israels und Vater Jesu Christi beteten, sondern zu ihrem eigenen nationalen Götzen. Aber immerhin: In den hundert Jahren seitdem ist die Einsicht unter Christen gewachsen, dass Krieg nach Gottes Willen nicht sein soll. Sicher, diese Einsicht hat sich noch nicht überall durchgesetzt. Noch immer gibt es Krieg und Gewalt im Namen Gottes. Es sollte aber inzwischen klar sein, dass ein Gott, in dessen Namen man Gewalt übt und Menschen verachtet, nur ein falscher Gott sein kann, auch dort, wo man ihm ein christliches Mäntelchen umhängt.
268 Namen stehen auf den alten Gedenktafeln. Die meisten von ihnen waren Glieder unserer Kirchengemeinde – getauft, konfirmiert, christlich erzogen. Man machte ihnen weis, und vielleicht waren sie auch davon überzeugt, dass sie mit Gott und fürs Vaterland in den Krieg zögen. Bald darauf waren sie tot, nachdem sie vielleicht selber andere getötet hatten. Sie mahnen uns auch nach hundert Jahren noch: zum Frieden, zur Versöhnung, zum Vertrauen auf Jesus Christus, der unser Friede ist. Vielleicht denken wir in Zukunft daran, wenn wir an den alten, unscheinbaren Tafeln vorbeigehen. Dann hat es seinen guten Sinn, dass sie immer noch dort hängen. Amen.

Ihr Pastor Martin Klein