Predigt Talkirche, Sonntag, 1. September 2013

Gottesdienst für den vierzehnten Sonntag nach Trinitatis 

Text: Gen 28,10-19a

Aber Jakob zog aus von Beerscheba und machte sich auf den Weg nach Haran und kam an eine Stätte, da blieb er über Nacht, denn die Sonne war untergegangen. Und er nahm einen Stein von der Stätte und legte ihn zu seinen Häupten und legte sich an der Stätte schlafen.

Und ihm träumte, und siehe, eine Leiter stand auf Erden, die rührte mit der Spitze an den Himmel, und siehe, die Engel Gottes stiegen daran auf und nieder. Und der Herr stand vor ihm und sprach: „Ich bin der Herr, der Gott deines Vaters Abraham, und Isaaks Gott; das Land, darauf du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben. Und dein Geschlecht soll werden wie der Staub auf Erden, und du sollst ausgebreitet werden gegen Westen und Osten, Norden und Süden, und durch dich und deine Nachkommen sollen alle Ge­schlechter auf Erden gesegnet werden. Und siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst, und will dich wieder herbringen in dies Land. Denn ich will dich nicht verlassen, bis ich alles tue, was ich dir zugesagt habe.“

Als nun Jakob von seinem Schlaf aufwachte, sprach er: „Fürwahr, der Herr ist an dieser Stätte, und ich wusste es nicht!“ Und er fürchtete sich und sprach: „Wie heilig ist diese Stätte! Hier ist nichts anderes als Gottes Haus, und hier ist die Pforte des Himmels.“ Und Jakob stand früh am Morgen auf und nahm den Stein, den er zu sei­nen Häupten gelegt hatte, und richtete ihn auf zu einem Steinmal und goss Öl oben darauf und nannte die Stätte Bethel.

„Und Jakob zog aus von Beerscheba und ging nach Haran.“ Hinter diesem schlichten Satz steckt eine lange Geschichte – ganz und gar nichts Erbauliches, sondern ein höchst unerquickliches Familien­drama. Jakobs Reise nach Haran ist eine Flucht. Sein eigener Bruder will ihn umbringen und hat auch allen Grund dazu. Nicht nur, dass Jakob ihm für einen Topf Linsen sein Erstgeburtsrecht abgeluchst hatte – das konnte er zur Not noch seiner eigenen Dummheit zu­schreiben –, sondern jetzt hatte er Esau auch noch um den väterli­chen Segen gebracht. Kaum war er aus dem Haus, um dem Vater das gewünschte Wildbret zu schießen, da war Jakob zur Stelle gewesen, hatte sich vor dem alten, blinden Isaak für seinen Bruder ausgegeben und sich so den Segen ergaunert, der ihm nicht zustand. Dass seine Mutter Rebekka ihn dazu angestiftet hatte, machte die Sache auch nicht besser. Nun hat sie ihn vorsichtshalber außer Landes geschickt, zu ihrer Verwandtschaft ins ferne Haran. Da soll er ab­warten, bis Gras über die Sache gewachsen ist.

Das hat Jakob jetzt also von seinem erschlichenen Segen: Todfeind­schaft mit dem Bruder, Trennung von Eltern und Zuhause und eine ungewisse Zukunft in einem Land, das er nur vom Hörensagen kennt. Hals über Kopf zieht er los, ohne großes Gepäck, und mar­schiert immer weiter und weiter, bis ihn irgendwo auf freiem Feld die Nacht überrascht. Erschöpft wirft er sich hin, sucht sich einen großen Stein als Kopfschutz, und irgendwann schläft er ein.

Was mag ihm noch alles durch den Kopf gegangen sein? Isaaks Se­gensworte, gesprochen mir zittriger Stimme und zweifelndem Un­terton? Esaus Wutgeheul und seine Racheschwüre? Die hastigen Anweisungen seiner Mutter über Flucht und Rückkehr? – Wenn es denn je eine Rückkehr geben wird! „Gott gebe dir vom Tau des Himmels und von der Fettigkeit der Erde und Korn und Wein die Fülle“, so hatte Isaaks Segen gelautet. Aber hatte Jakob das nicht jetzt schon alles verspielt? Würde Gott überhaupt noch etwas von ihm wissen wollen? Ich würde Albträume kriegen, wenn ich mit sol­chen Gedanken einschlafen würde!

Aber was Jakob dann tatsächlich träumt, scheint von alledem weit weg zu sein: Er sieht eine Leiter, genauer übersetzt: eine große, breite Treppe, die vom Himmel bis zu ihm herunter reicht. Engel steigen hinauf und hinab wie Boten in einem Königspalast, die Nach­richten bringen und Befehle hinaustragen. Kein Zweifel: diese Treppe ist eine Nahtstelle; hier spielt sich der ganze Verkehr zwi­schen Himmel und Erde ab. Und dann steht plötzlich Gott vor Jakob – kein fremder Gott, wie man es in einem fremden Land erwarten könnte, sondern der Gott seiner Väter Abraham und Isaak. Und was ihm Gott für die Zukunft verheißt, das übertrifft alles, was er sich vom väterlichen Segen je erträumt hat. Aber nicht nur von fernen Zeiten spricht der Herr, von Landbesitz, von unzähligen Nachkom­men, vom Segen für alle Völ­ker. Nein es geht auch um das, was Ja­kob gerade umtreibt: „Ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst, und will dich wieder herbringen in dies Land“. „Ich bin mit dir“, trotz allem, was gesche­hen ist – damit wird für Jakob alles anders. Nun wird aus der heillo­sen Flucht ein Weg mit einem Ziel, ein Weg mit Gott.

Jakob wacht auf. Hinter ihm liegt der große Stein, um ihn herum die einsame Landschaft. War doch alles „nur“ ein Traum? Gehörte die Himmelstreppe zu einem Luftschloss, erbaut aus Wünschen und Sehnsüchten? Nein, Jakob ist sicher: der Traum war Wirklichkeit, wirklicher als das, was seine wachen Augen sehen: „Fürwahr, der Herr ist an dieser Stätte, und ich wusste es nicht!“ Ehrfurcht und Entsetzen packen ihn: hier, ausgerechnet hier, ist das Tor des Him­mels. Hier ist Gott gegenwärtig und ausgerechnet ihm, Jakob dem Betrüger, erschienen. Nichts war davon zu ahnen gewesen, als ihn die Nacht überraschte! Aber nun soll dieser heilige Ort nicht länger unkenntlich bleiben. Sobald es hell wird, nimmt Jakob den Stein und richtet ihn als Zeichen auf, so wie man es damals an vielen heiligen Stätten tat. Er salbt ihn mit Öl und sondert den Ort damit für Gott aus. Die Verheißung der Nacht nimmt er mit auf den Weg; den Stein lässt er zurück als Zeichen für die Spur Gottes, die hier seinen Le­bensweg gekreuzt hat.

Manches an dieser Geschichte ist uns fremd; schließlich stammt sie aus einer fernen Vergangenheit, als die Menschen ihre Welt noch ganz anders wahrnahmen. Aber die Menschen selbst haben sich seit­dem erstaunlich wenig geändert, und so fällt es uns nicht allzu schwer, uns in Jakob hineinzuversetzen. Denn das kennen wir doch alle: Situationen im Leben, wo alles schief zu laufen scheint, wo wir vor dem Scherbenhaufen unserer Pläne stehen, weil andere uns den Weg verbaut haben oder weil wir selbst uns verrannt und in Schuld verstrickt haben. Punkte, wo wir von lieben Menschen oder von lieb­gewordener Umgebung Abschied nehmen müssen, wo der Wind uns ins Gesicht bläst und schon die nächsten Schritte im Dunkeln liegen. Meist ist dann die Frage nicht weit: Wo ist eigentlich Gott bei alle­dem? Stehe ich allein da mit meinem Schmerz, meiner Angst, meiner Schuld? Oder gibt es wenigstens einen kleinen Fingerzeig dafür, dass Gott trotzdem da ist, wie es doch die Pastoren immer behaupten? Es ist vielleicht bezeichnend, dass die „Jakobsleiter“ im Volksmund aus einer breiten, massiven Treppe zu einer dünnen, schaukelnden Strickleiter geworden ist. Aber was gäben wir darum, wenn wir we­nigstens eine Strickleiter zum Himmel vor uns hätten!

Vielleicht hilft uns ein Wort aus dem Neuen Testament, eine Brücke zu bauen von den fernen Zeiten Jakobs in unsere Gegenwart: „Wahrlich, wahrlich“, sagt Jesus im Johannesevangelium, „ihr wer­det den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf und herab fahren auf den Menschensohn“. Es gibt sie also noch, die Nahtstelle zwischen Himmel und Erde, wo Gott den Menschen begegnet. Was für Jakob Bethel war, das ist für uns Jesus Christus. Sein Kreuz stand genauso sichtbar in unserer Welt wie das alte Steinmal; und es gilt nicht nur für Jakob und seine Nachkommen, sondern für alle Men­schen.

Damit scheint alles gesagt zu sein, aber trotzdem ist unsere Brücke erst halbfertig. Gott begegnet uns in Jesus Christus – auch das sagen die Pastoren immer, aber wie geschieht das konkret in meinem Le­ben? Bei genauer Betrachtung hat uns der Text aus dem alten Testa­ment dazu noch einiges zu sagen, denn der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs ist ja kein anderer als der Vater Jesu Christi. Drei Dinge möchte ich dazu noch ansprechen.

Das erste: Gott setzt einen neuen Anfang. Ich habe eben viel von Jakobs Schuld erzählt. Erstaunlicherweise ist in unserer Geschichte davon aber gar nichts zu hören. Wir könnten uns gut vorstellen, dass Gott dem Jakob erst einmal seine ganze Schlechtigkeit vorhält und ihm dann vielleicht nach entsprechenden Reuebekundungen und Besserungsversprechen noch einmal eine Chance gibt, sich seinen Segen zu verdienen. Aber kein Wort davon! Was gewesen ist, das ist vergeben und vergessen. Gott hat Großes mit Jakob vor und lässt sich durch eigenmächtige Irrwege nicht davon abhalten.

Auch mit uns hat Gott Großes vor. Er möchte dass jeder Einzelne von uns teilhat an seiner neuen Welt. Er will, dass uns nichts und nie­mand von ihm trennt. Daran lässt er sich auch durch Schuld und Ver­sagen nicht hindern. Am Kreuz Jesu dürfen wir getrost alles liegen lassen so wie Jakob in Bethel, denn dort hat Gott ein für alle Mal reinen Tisch gemacht. Bei Gott ist es also nie zu spät für einen neuen Anfang, solange wir leben. Mit ihm können wir immer noch einmal von vorn beginnen und von der Last der Vergangenheit frei sein.

Das zweite: Gott geht mit. Er bereinigt nicht nur unsere Vergangen­heit, sondern nimmt auch unsere Zukunft in die Hand. Äußerlich gesehen war Jakobs Lage nach der Nacht in Bethel auch nicht rosiger als vorher. Er stand immer noch allein da, den Zorn des Bruders im Nacken und die Reise ins Ungewisse vor sich. Aber das Geschehen dieser Nacht hat die äußere Sicht der Dinge für Jakob verändert. Er ist nun eben nicht mehr allein, sondern hat einen mächtigen Helfer: „Ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst“, hat Gott gesagt. Er bleibt also nicht in Bethel zurück, sondern geht mit nach Haran, mitten hinein ins Alltägliche und Allzumenschliche, das auch dort auf ihn wartet.

„Ich bin mit dir“ – das gilt auch uns, wenn wir vor schweren Ent­scheidungen stehen, wenn ein neuer Lebensabschnitt vor uns liegt, wenn wir ohne Menschen, die uns vertraut waren, weiterleben müs­sen, wenn die Sorge packt um die Zukunft unserer Welt. Gott geht mit – in Zeiten, wo tausend Dinge auf uns einstürzen und uns über den Kopf wachsen, aber auch in solchen, wo uns alles öde, leer und nutzlos erscheint. Er geht mit, wenn uns alle Türen offen stehen und sich uns ein weites Land von Möglichkeiten auftut, aber auch wenn Krankheit und Not uns enge Grenzen setzen. Gott geht mit, und er führt uns zum Ziel.

Und das dritte: Gottes Spuren werden sichtbar. Bethel war ein Wen­depunkt auf Jakobs Weg mit Gott. Hier hat Gott seine Spuren in Jakobs Leben hinterlassen. Der aufgerichtete Stein soll daran erin­nern – nicht nur ihn selbst, sondern auch andere, die dort vorüber­kommen. Gibt es solche Wegmarkierungen auch in unserem Leben? Gibt es Orte und Zeiten, von denen wir sagen können: Hier ist Gott gegenwärtig, dort ist er mir begegnet?

Manche Markierungen haben andere schon für uns gesetzt, und Gott hat sich an sie gebunden: Er ist bei uns, wenn wir in der Bibel lesen. Er ist bei uns hier im Gottesdienst, wo wir gemeinsam auf ihn hören, mit ihm reden und ihn loben und preisen. Er ist bei uns in Taufe und Abendmahl, den sichtbaren Zeichen seiner Zuwendung und Verge­bung. All diese Dinge gleichen dem Steinmal von Bethel: Sie geben uns Orientierung, wenn wir danach fragen, wo Gott zu finden ist.

Aber ich glaube, dass Gott nicht nur da ist, wo wir ihn suchen wür­den. Wenn es stimmt, dass er mit uns geht, dann ist er auf verborgene Weise auch in unserem Alltag da: in einer Begegnung, die uns Mut macht, oder auch in einem Dämpfer, der uns zurück auf den Teppich holt; in einem guten Rat, den uns jemand gibt oder in einem der so genannten „glücklichen Zufälle“, die uns vor Schlimmem bewahren. Auf solche Weise redet Gott auch noch, wenn in unserem Glaubens­leben das Schweigen herrscht: wenn uns die Bibel nichts mehr sagt, wenn wir mit dem Gottesdienst nichts mehr anfangen können, wenn wir die Ruhe zum Gebet nicht finden. Im Nachhinein können wir Gott gerade da entdecken, wo wir ihn am fernsten geglaubt haben. Auch Jakob wusste ja erst hinterher, was es mit jenem Fleckchen Erde irgendwo zwischen Beerscheba und Haran auf sich hatte: „Für­wahr, der Herr ist an dieser Stätte, und ich wusste es nicht!“ Machen wir uns doch einfach mal auf die Suche nach Gottes Gegenwart in unserem Leben – es könnte dabei noch mancher Grund zur Dankbar­keit zutage kommen: ein neuer Anfang, den er mit uns gemacht hat, ein schwerer Weg, den er mit uns gegangen ist, eine sichtbare Spur, die er bei uns hinterlassen hat. Ich denke, dann verstehen wir, was der Wochenspruch uns zuruft: „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.“ Amen.

(Pfarrer Martin Klein)