GOTTESDIENST FÜR DEN VIERTEN SONNTAG NACH TRINITATIS
Text: Röm 12,17-21
Vergeltet niemandem Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann. Ist‘s möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden. Rächt euch nicht selbst, Geliebte, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben: »Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.« Vielmehr, »wenn deinen Feind hungert, so gib ihm zu essen; dürstet ihn, so gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln«. Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.
Die beste Auslegung dieses Textes, die ich kenne, ist ein Gedicht, eine Ballade von Conrad Ferdinand Meyer. Vielleicht kennen Sie die noch aus der Schule. Sie spielt zur Zeit der Hugenottenverfolgung in Frankreich und heißt „Die Füße im Feuer“. Weil sie im Original am besten wirkt, trage ich sie einfach mal vor:
Wild zuckt der
Blitz. In fahlem Lichte steht ein Turm.
Der Donner rollt. Ein Reiter kämpft mit seinem Roß,
Springt ab und pocht ans Tor und lärmt. Sein Mantel saust
Im Wind. Er hält den scheuen Fuchs am Zügel fest.
Ein schmales Gitterfenster schimmert goldenhell
Und knarrend öffnet jetzt das Tor ein Edelmann…
– »Ich bin ein
Knecht des Königs, als Kurier geschickt
Nach Nîmes. Herbergt mich! Ihr kennt des Königs Rock!«
– »Es stürmt. Mein Gast bist du. Dein Kleid, was kümmert’s mich?
Tritt ein und wärme dich! Ich sorge für dein Tier!«
Der Reiter tritt in einen dunkeln Ahnensaal,
Von eines weiten Herdes Feuer schwach erhellt,
Und je nach seines Flackerns launenhaftem Licht
Droht hier ein Hugenott im Harnisch, dort ein Weib,
Ein stolzes Edelweib aus braunem Ahnenbild…
Der Reiter wirft sich in den Sessel vor dem Herd
Und starrt in den lebend’gen Brand. Er brütet, gafft…
Leis sträubt sich ihm das Haar. Er kennt den Herd, den Saal…
Die Flamme zischt. Zwei Füße zucken in der Glut.
Den Abendtisch
bestellt die greise Schaffnerin
Mit Linnen blendend weiß. Das Edelmägdlein hilft.
Ein Knabe trug den Krug mit Wein. Der Kinder Blick
Hangt schreckensstarr am Gast und hangt am Herd entsetzt…
Die Flamme zischt. Zwei Füße zucken in der Glut.
– »Verdammt! Dasselbe Wappen! Dieser selbe Saal!
Drei Jahre sind’s… Auf einer Hugenottenjagd…
Ein fein, halsstarrig Weib… „Wo steckt der Junker? Sprich!“
Sie schweigt. „Bekenn!“ Sie schweigt. „Gib ihn heraus!“ Sie
schweigt
Ich werde wild. Der Stolz! Ich zerre das Geschöpf…
Die nackten Füße pack ich ihr und strecke sie
Tief mitten in die Glut.. „Gib ihn heraus!“.. Sie schweigt…
Sie windet sich… Sahst du das Wappen nicht am Tor?
Wer hieß dich hier zu Gaste gehen, dummer Narr?
Hat er nur einen Tropfen Bluts, erwürgt er dich.«
Eintritt der Edelmann. »Du träumst! Zu Tische, Gast…
Da sitzen sie. Die
drei in ihrer schwarzen Tracht
Und er. Doch keins der Kinder spricht das Tischgebet.
Ihn starren sie mit aufgerißnen Augen an-
Den Becher füllt und übergießt er, stürzt den Trunk,
Springt auf: »Herr, gebet jetzt mir meine Lagerstatt!
Müd bin ich wie ein Hund!« Ein Diener leuchtet ihm,
Doch auf der Schwelle wirft er einen Blick zurück
Und sieht den Knaben flüstern in des Vaters Ohr…
Dem Diener folgt er taumelnd in das Turmgemach.
Fest riegelt er
die Tür. Er prüft Pistol und Schwert.
Gell pfeift der Sturm. Die Diele bebt. Die Decke stöhnt.
Die Treppe kracht… Dröhnt hier ein
Tritt?… Schleicht dort ein Schritt?…
Ihn täuscht das Ohr. Vorüberwandelt Mitternacht.
Auf seinen Lidern lastet Blei und schlummernd sinkt
Er auf das Lager. Draußen plätschert Regenflut.
Er träumt.
»Gesteh!« Sie schweigt. »Gib ihn heraus!« Sie schweigt.
Er zerrt das Weib. Zwei Füße zucken in der Glut.
Aufsprüht und zischt ein Feuermeer, das ihn verschlingt…
– »Erwach! Du solltest längst von hinnen sein! Es tagt!«
Durch die Tapetentür in das Gemach gelangt,
Vor seinem Lager steht des Schlosses Herr – ergraut,
Dem gestern dunkelbraun sich noch gekraust das Haar.
Sie reiten durch
den Wald. Kein Lüftchen regt sich heut.
Zersplittert liegen Ästetrümmer quer im Pfad.
Die frühsten Vöglein zwitschern, halb im Traume noch.
Friedsel’ge Wolken schwimmen durch die klare Luft,
Als kehrten Engel heim von einer nächt’gen Wacht.
Die dunkeln Schollen atmen kräft’gen Erdgeruch.
Die Ebne öffnet sich. Im Felde geht ein Pflug.
Der Reiter lauert aus den Augenwinkeln: »Herr,
Ihr seid ein kluger Mann und voll Besonnenheit
Und wißt, daß ich dem größten König eigen bin.
Lebt wohl. Auf Nimmerwiedersehn!« Der andre spricht:
»Du sagst’s! Dem größten König eigen! Heute ward
Sein Dienst mir schwer.. Gemordet hast du teuflisch mir
Mein Weib! Und lebst!… Mein ist die Rache, redet Gott.«
„Vergeltet niemand Böses mit Bösem“, „rächt euch nicht selbst“, „wenn deinen Feind hungert, gib ihm zu essen“, „lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem“. Die Ballade macht, wie ich finde, unübertrefflich klar, was es einem Christenmenschen abverlangen kann, wenn er die Worte des Römerbriefs wirklich ernst nimmt. Sie macht aber auch klar, welche Verheißung in diesen Worten liegt: Hier schafft es einer, den Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt zu durchbrechen. Und er sammelt dadurch wirklich „glühende Kohlen“ auf das Haupt seines Feindes. Es bleibt zwar unausgesprochen, aber der Kurier des Königs wird diese Nacht sicher nicht vergessen: seine Angst vor der Rache, das Bewusstsein ihrer Berechtigung und die Erleichterung über ihr Ausbleiben. Und zumindest, wenn er noch einen Funken Anstand hat, wird er wohl nicht noch einmal unschuldigen Menschen Gewalt antun.
Wenn ich darüber nachdenke, kommen mir deprimierende Nachrichten in den Sinn: Aus Israel und Palästina, wo die israelischen Annexionspläne womöglich eine neue Welle von Anschlägen und Vergeltungsmaßnahmen auslösen. Aus den USA, wo immer wieder Schwarze durch brutales Vorgehen von Polizisten sterben und wo ein verantwortungsloser Präsident die Wut darüber noch anheizt, bis die Proteste nicht mehr friedlich bleiben. Aus Syrien oder Afghanistan, wo die Kämpfe einfach kein Ende nehmen. Immer weiter und weiter dreht sich die Spirale der Gewalt, überall auf der Welt, scheinbar ohne Ende. Und wo die Konflikte auch noch religiös motiviert sind, da wird es besonders schlimm.
Ach, möchte man da rufen, wenn das doch anders wäre! Wenn wenigstens gläubige Menschen Böses nicht mit Bösem vergelten würden! Wenn sich doch jüdische Israelis auf das besinnen würden, was ja auch in ihrer Bibel steht: „Mein ist die Rache, ich will vergelten, spricht der Herr“ oder „Dürstet deinen Feind, so tränke ihn mit Wasser, und der Herr wird dir’s vergelten“. Wenn doch Muslime das Gericht über Gut und Böse Gott überlassen würden, wie es der Koran immer wieder betont! Wenn doch mehr Christen so wären, wie jener hugenottische Edelmann!
Natürlich: Von den direkt Betroffenen kann ich das nicht verlangen. Oder könnte die Familie von George Floyd den Polizisten gastlich aufnehmen, der ihn bei einer Festnahme ohne Not ersticken ließ? Könnten zwei Mütter gemeinsam um ihre Kinder trauern, wenn das eine von ihnen die Bombe am Leib getragen hat, von der sie beide zerfetzt wurden? Wohl kaum! Aber die Politiker, die religiösen Führer, die, die Verantwortung tragen oder jedenfalls tragen müssten, die könnten doch endlich mal zur Besinnung kommen, oder?
Doch das Problem ist: Die Verantwortlichen sind selten die persönlich Betroffenen. Und solange man nicht persönlich betroffen ist, ist eben der Krieg bequemer als der Frieden, die Vergeltung einfacher als die Versöhnung. Wenn man sich damit abfindet, dass immer wieder zu- und zurückgeschlagen wird, kann man weitermachen wie bisher. Für Frieden und Versöhnung dagegen müsste man umdenken, Phantasie entwickeln, über den eigenen Schatten springen, Anfeindungen von den Unversöhnlichen in Kauf nehmen, der Gefahr des Scheiterns ins Auge sehen – womöglich gar mit dem Leben bezahlen wie Jitzchak Rabin oder Martin Luther King oder Mahatma Gandhi. Feinde lieben ist anstrengend und gefährlich, Feinde hassen geht von allein.
Das können wir ja auch an uns selber beobachten: Es ist viel leichter, sich mit dem schwierigen Nachbarn, Kollegen, Familienglied weiter zu zanken, als den Streit zu begraben. Es ist viel bequemer, negative Vorurteile zu pflegen, als sie durch persönliche Kontakte widerlegen zu lassen. Ohne ein paar schöne Feindbilder an der Wand kann offenbar kaum jemand leben. Deshalb werden diese Feindbilder gepflegt und poliert, so grob sie auch gemalt sein mögen. Sie sind in ihrer Schlichtheit eben einfacher zu begreifen als die komplizierte Wirklichkeit. Und wer macht sich schon gern mehr Denkarbeit als nötig? Wenn das nun schon uns so geht, die wir weithin in Frieden leben und ernsthafte Feinde gar nicht haben, wie schwer muss es dann erst für die sein, die Hass und Gewalt täglich hautnah erleben? Pauschalurteile aus der Ferne helfen da jedenfalls gar nicht.
Aber wenn das alles so ist, wie kann er dann überhaupt begangen werden, der schwere und steinige Weg zum Frieden? Wie kann man es schaffen, Böses nicht mit Bösem zu vergelten und das Böse durch Gutes zu überwinden? Im Predigttext steckt die Antwort in einem einzigen Wort, das man leicht überhört. Sie steckt in der Anrede, die Paulus für die Christen in Rom gebraucht: er nennt sie „Geliebte“. Und das heißt nicht „meine Lieben“, wie es in der Lutherbibel steht, oder „liebe Gemeinde“, wie die Pfarrer gerne sagen, sondern es bedeutet „von Gott Geliebte“. Gott liebt euch, sagt Paulus. Das hat er euch bewiesen, indem er in Jesus Christus zu euch gekommen ist, indem er in Christus für euch gestorben und auferstanden ist. Das ist so, unabhängig davon, wie ihr euch verhaltet. Gott hat und behält euch lieb. Aber nur, wenn ihr euch das auch bewusst macht und euch darauf einlasst, könnt ihr die Liebe auch zum Maßstab eures Lebens machen. Was das Gute ist, das wisst ihr. Denn dieses Gute sieht für Christen nicht viel anders aus als für Juden oder Muslime oder Atheisten: es bedeutet Achtung vor der Würde, dem Leben und dem Eigentum jedes Menschen. Aber die Liebe Gottes in Christus gibt euch die Motivation, dieses Gute auch in die Tat umzusetzen. Nichtchristen, die das Gute tun, mögen eine andere Motivation dafür haben, aber für uns als Christen gibt es keinen anderen Antrieb zur Nächstenliebe als die Liebe Gottes zu uns und allen Menschen.
Das heißt ja nicht, dass wir unseren Feinden um den Hals fallen müssten. Das wäre erstens naiv und zweitens kaum mit ehrlichen Gefühlen möglich. Für den hugenottischen Edelmann in der Ballade war Nächstenliebe nicht mehr als normale Gastfreundschaft und der Verzicht auf Rache. Und selbst das wäre unerträglich gewesen, wenn ihm nicht bewusst gewesen wäre, dass er Gott, dem „größten König“, gehört, und wenn dieses Bewusstsein nicht stärker gewesen wäre als der Drang nach Vergeltung. Auch heute müssen und können alte Feinde nicht gleich Freunde werden. Es wäre schon viel gewonnen, wenn sie sich wenigstens die gleichen Rechte zubilligen – und sei es zähneknirschend. Und auch wir müssen Menschen nicht gleich sympathisch finden, wenn sie uns nach Lebensart und Charakter fremd sind oder gar abstoßen. Aber wir sollten sie als Menschen akzeptieren und dann eben, soweit es an uns liegt, Frieden mit ihnen halten. Dafür gibt es noch viel zu tun – bei uns und überall auf der Welt. Aber es gibt auch viel zu gewinnen. Und Gott verlangt nicht mehr von uns, als dass wir, seine Geliebten, auf diesem Weg mit gutem Beispiel vorangehen. Amen.
Ihr Pastor Martin Klein