Predigt Talkirche, Sonntag, 02. Juni 2013

GOTTESDIENST

FÜR DEN ERSTEN SONNTAG NACH TRINITATIS

 Talkirche, 2.6. 2013

Text: Mt 9,35-10,7

Wenn man als Pfarrer aufmerksam durch die Gemeinde geht, kann man schon manchmal an seinem Beruf verzweifeln: So viele Men­schen, die Hilfe und Zuspruch brauchen, so viele wichtige Aufgaben, und immer ist nur ein Bruchteil davon zu schaffen. Da sind die Kon­firmanden, von denen manche viel intensivere und persönlichere Aufmerk­samkeit brauchen würden, weil sie sich selber und anderen im Weg stehen. Da sind die Familien, die einfach nie auf einen grü­nen Zweig kom­men, arm, arbeitslos, frustriert und oft auch zerstrit­ten, wie sie sind – Geld aus der Diakoniekasse hilft da nur ganz ober­flächlich. Da sind die vielen Kranken und Pflegebedürftigen, etliche von ihnen früher treue Kirchgänger, die es verdient hätten, dass ihr Pastor sie öfter mal besucht. Da sind die Wohnungslosen, die an der Tür schellen, ein bisschen Geld und manchmal ein Butterbrot be­kommen, die einen aber zu nervösen Blicken auf die Uhr verleiten, wenn sie anfangen, lang und breit von ihren Probleme zu erzählen. Dabei haben sie wahrscheinlich sonst niemanden, der ihnen zu­hört. Früher mal, als ich noch für 1000 Gemeindeglieder weniger zustän­dig war, konnte ich etwas mehr für all diese Menschen tun, aber auch da war es nie genug.

Wahrscheinlich geht das nicht nur Pfarrern so. Es gibt ja gottlob gar nicht so wenige mitfühlende Menschen, die anderen gerne helfen und Mut zuspre­chen, bestimmt auch unter denen, die heute hier sind. Aber auch sie stoßen mit ihrer Hilfsbereitschaft rasch an Grenzen. Es scheint in Anbetracht dessen nur drei Alternativen zu ge­ben, und die sind allesamt wenig verlockend: Entweder man verfällt dem Helfer­syndrom: Man mutet sich viel mehr an Mitmenschlichkeit zu als man bewältigen kann, bis man irgendwann zusammenklappt. Oder man läuft permanent mit schlechtem Gewissen durch die Ge­gend. Oder man resigniert, stumpft ab und verschließt schließlich vor der Not der anderen die Augen.

Der heutige Predigttext verheißt uns Trost in dieser misslichen Lage. Denn er lässt uns erstens wissen, dass es dem Herrn Jesus auch nicht anders ging, und er zeigt uns zweitens einen Weg, wie wir unserem Dilemma entkommen können. Er steht im Matthäusevangelium, im 9. und 10. Kapitel:

Und Jesus ging ringsum in alle Städte und Dörfer, lehrte in ihren Synagogen und predigte das Evangelium von dem Reich und heilte alle Krankheiten und alle Gebrechen.

Und als er das Volk sah, jammerte es ihn; denn sie waren ver­schmachtet und niedergeschlagen wie die Schafe, die keinen Hirten haben. Da sprach er zu seinen Jüngern: „Die Ernte ist groß, aber wenige sind der Arbeiter. Darum bittet den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter in seine Ernte sende.“

Und er rief seine zwölf Jünger zu sich und gab ihnen Macht über die unreinen Geister, dass sie die austrieben und heilten alle Krankhei­ten und alle Gebrechen. Die Namen aber der zwölf Apostel sind diese: zuerst Simon, genannt Petrus, und Andreas, sein Bruder; Ja­kobus, der Sohn des Zebedäus, und Johannes, sein Bruder; Philippus und Bartholomäus; Thomas und Matthäus, der Zöllner; Jakobus, der Sohn des Alphäus, und Thaddäus; Simon Kananäus und Judas Iska­riot, der ihn verriet. Diese Zwölf sandte Jesus aus, gebot ihnen und sprach: „Geht nicht den Weg zu den Heiden und zieht in keine Stadt der Samariter, sondern geht hin zu den verlorenen Schafen des Hau­ses Israel. Geht aber und predigt und sprecht: Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.“

Jesus tut, was er kann – ihm wird das wohl keiner abstreiten. Er lehrt und predigt und heilt. In allen Städten und Dörfern und Synagogen. Damit fängt der Text an. Und man könnte schon denken: Ja, Jesus, der konnte das! Aber der musste die­ses Arbeitspensum ja auch höchstens ein paar Jahre lang durchhalten. Und außerdem war er ja etwas ganz Besonderes: Gottes Sohn, der Heiland, der Retter der ganzen Menschheit.

Aber auch Jesus packt der Jammer, wenn er sich umschaut in den Städten und Dörfern Galiläas: Überall geplagte und niedergeschla­gene Menschen. Mehr als selbst Jesus bewältigen kann. Schafe ohne Hirten. Ein riesiges reifes Kornfeld. Einer allein könnte es niemals recht­zeitig abmähen: „Die Ernte ist groß, aber wenige sind der Ar­beiter.“

Doch Jesus resigniert nicht. Er verfällt auch nicht in Aktionismus. Er heuert auch nicht gleich alle Erntehelfer an, die er kriegen kann. Sondern er beschränkt sich fürs erste auf zwölf Leute, und auch die schickt er nicht gleich los, sondern fordert sie erst einmal zum Beten auf: „Bittet den Herrn der Ernte, das er Arbeiter in seine Ernte sende.“

Dahinter steht die Einsicht: Wir schaffen es nicht allein. Wir würden es aber auch nicht schaffen, wenn wir ganz viele wären. Und es ist überhaupt der falsche Weg, wenn wir einfach loslegen mit unse­rem Zuspruch und unserer Hilfsbereitschaft. Uns muss erst einmal je­mand schicken. Gott, der Herr der Ernte, muss Menschen in Dienst nehmen und aussenden. Nicht, weil wir nur als Befehlsempfänger funktionieren können. Nicht weil wir sozusagen Beamte sind, die nur das tun, was in der Dienstanweisung steht. Sondern, weil wir wissen müssen, weshalb wir eigentlich anderen Menschen helfen, weshalb wir ihnen die Botschaft vom Gottesreich in Wort und Tat vermitteln. Wir brauchen eine Vollmacht für unser Tun. Etwas, womit wir uns ausweisen können und was uns zum Handeln motiviert.

Ich glaube, ohne eine solche Vollmacht, die uns trägt und hält, kön­nen wir nicht lange gute Mitmenschen sein. Ohne sie bleibt nur das dumpfe Gefühl: Irgendwie müsstest du dem oder der jetzt helfen. Und vielleicht versuchen wir auch, dieses dumpfe Gefühl in die Tat umzusetzen. Aber wir werden mit ziemlicher Sicherheit dabei schei­tern, wenn wir nicht wissen, weshalb wir das jetzt tun und was wir damit erreichen wollen. Ich denke, es sieht anders aus, wenn wir Gottes Sendung im Rücken haben. Wenn uns bewusst ist: Gott liebt diesen Menschen, der meine Hilfe braucht, genauso wie mich, und deshalb tu ich mein Bestes, um ihm zu helfen, damit er diese Ge­wissheit auch spürt. Die Gewissheit, die mich trägt, ist auch eine Entlastung. Denn dass Gott den Menschen liebt, den ich vor mir habe, das gilt auch dann, wenn ich es nicht schaffe, ihm zu helfen. Ich kann dann immer noch hoffen, dass Gott andere Menschen, an­dere Mittel und Wege findet, um diesem Menschen seine Liebe nahe zu bringen.

Es mag ja sein, dass Menschen mit Sendungsbewusstsein heutzutage eher auf Misstrauen stoßen. Aber dass sie überzeugend wirken, weil sie von ihrer Sache überzeugt sind, das müssen wir ihnen zuge­stehen. Und wenn diese Überzeugung wirklich die Liebe Gottes zu den Men­schen zum Inhalt hat, dann kann sie auch kaum für persönliche Machtgelüste missbraucht werden. Christen, die sich ihrer Sendung durch Gott bewusst sind, könnte es in unserer Gesellschaft und unse­rer Kirche jedenfalls ruhig mehr geben. Vielleicht wüssten die Men­schen in der Kirche und um die Kirche herum dann wieder besser, was sie an ihr haben.

Und noch einen wichtigen Ratschlag entnehme ich den Worten Jesu: Wenn wir von vorhin noch den Missionsbefehl am Ende des Matthä­usevangeliums im Ohr haben, dann klingt der Auftrag, den die Jün­ger hier bekommen, eher beschränkt und bescheiden. Dort heißt es: „Geht hin in alle Welt und macht zu Jüngern alle Völker“. Hier steht: „Geht nicht den Weg zu den Heiden und zieht in keine Stadt der Sa­mariter, sondern geht hin zu den verlorenen Schafen des Hauses Is­rael.“

Historisch gesehen spiegeln sich hier zwei Stufen der Geschichte des frühen Christentums. Den ersten Christen, die ja aus dem Ju­dentum kamen, ging es erst einmal darum, ihre Landsleute, das Volk Israel, von Jesus als ihrem Messias zu überzeugen. Die Heidenvöl­ker, die Enden der Erde kamen erst später in den Blick.

Für uns heute ist das kein Thema mehr. Uns ist klar, dass die Bot­schaft von Gottes Liebe allen Menschen gilt. Und trotzdem können wir aus der Beschränkung, die Jesus seinen Jüngern zunächst mitgibt, etwas lernen: Mission, Verkündigung des Evange­liums, Mitmensch­lichkeit im Namen Jesu Christi fangen in unserer nächsten Umge­bung an. Wir persönlich müssen keine weltumspan­nende Missions­tätigkeit entfalten. Wir müssen uns auch nicht die Not und das Elend der ganzen Welt aufladen. Denn die Menschen, zu denen Gott uns schickt, das sind zuallererst die, mit denen wir in einer engen Bezie­hung stehen und für die wir deshalb Verantwortung tragen. Sie als Taufeltern und Paten sendet er zu David und natürlich auch zu Martha, damit Sie ihnen geben, was sie zum Leben brauchen und ihnen Gottes Liebe nahe bringen. Andere sendet er zu ihren alten Eltern oder zu Freunden und Nachbarn, die in Not sind. In unserer nächsten Umgebung gibt es also „verlorene Schafe“ genug – oder auch „Schafe“, die ohne uns verloren wären. Zu denen sind wir ge­sandt. Denn das sind die, um die sich sonst niemand kümmert. Das sind unsere Nächsten, die gerade uns brauchen. Wir müssen sie nicht lange su­chen. Sie sind schon da oder laufen uns über den Weg. Und wir werden jeweils schon wissen, dass wir selber jetzt gefragt sind und uns nicht nach jemand anderem um­schauen können. Wir müssen nicht mehr tun, als wir vermögen und verkraften können. Aber mit dem, was wir tun kön­nen, sollten wir nicht hinter den Berg halten.

Ich bin froh, dass das in den Familien, in Nachbarschaften und Freundeskreisen, in unserer Gemeinde immer noch vielfältig ge­schieht, wenn auch oft im Verborgenen. Bei manchen ist es be­wusst gelebter Glaube, der sie zum Handeln bringt, bei anderen ist es ein­fach Zuneigung und Mit­menschlichkeit. Aber ob ihnen das nun be­wusst ist oder nicht: Sie alle sind für mich Arbeiterinnen und Arbei­ter, die Gott in seine Ernte schickt. Und wenn ich solchen Menschen begegne, dann wird auch mir als Pfarrer wieder deutlich, das ich nicht alle seelsor­gerlichen Probleme meiner Gemeinde allein lösen muss, was ich ja auch gar nicht könnte. Andere nehmen mir da eine Menge Arbeit ab. Und auch wenn es hier und jetzt niemand merkt: Gott vergisst nicht einen Handgriff, der seiner großen Ernte dient. Und mit jedem dieser Handgriffe kommt sein Reich ein kleines Stück näher. Amen.