Predigt, Tal- und Wenschtkirche, Sonntag, 9. März 2025

Gottesdienst für den Sonntag Invokavit

Text: Hebr 4,14-16

Weil wir denn einen großen Hohenpriester haben, Jesus, den Sohn Gottes, der die Himmel durchschritten hat, so lasst uns festhalten an dem Bekenntnis. Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte mit leiden mit unserer Schwachheit, sondern der ver­sucht worden ist in allem wie wir, doch ohne Sünde. Darum lasst uns freimütig hinzutreten zu dem Thron der Gnade, damit wir Barmher­zigkeit empfangen und Gnade finden und so Hilfe erfahren zur rech­ten Zeit.

Das Schimpfen über „die da oben“ hat immer Kon­junktur. Jeder­mann und jede Frau erregt sich gern über die astronomi­schen Gehäl­ter von Spitzenmanagern, über die man­gelnde Steuermoral der Rei­chen, über die Politik der Re­gierung, die – je nach Geschmack – zu wenig für die Umwelt, zu wenig für die sozial Schwachen oder zu wenig gegen Zuwanderung tut. Viele Men­schen haben das Gefühl, dass „die da oben“ gar nicht wissen, wie es bei „uns hier unten“ wirklich zugeht. Deshalb haben Populisten von rechts und von links so großen Erfolg. Denn die behaupten, dass sie die Interessen der „klei­nen Leute“ vertreten und es den abgehobenen Eliten mal so richtig zeigen wollen. Und dafür können sie mit großem Beifall rechnen, auch wenn sie ansonsten den größten Blödsinn verzapfen.

Oft allerdings sind die Vorwürfe an „die da oben“ ziemlich unfair. Denn wer von „uns hier unten“ möchte so einen Job schon ma­chen: mit einer 80-Stunden-Woche einem Konzern vorstehen oder eine Regierung führen und dabei Probleme lösen müssen, die so komplex sind, dass auch die Fähigsten damit nicht klarkommen? Ich je­denfalls nicht, nicht für alles Geld der Welt! Und davon ganz abge­sehen: Aus der Sicht eines Großteils der Menschheit gehö­ren wir in Deutschland alle zu „denen da oben“. Deshalb wollen ja so viele hierher, um we­nigstens einen Zipfel von unserem Wohlstand abzu­kriegen.

Andererseits ist natürlich auch was dran an den Vorwürfen: Wenn Menschen zu Reichtum, Macht und Einfluss gelangen, dann stehen sie leicht in der Ge­fahr, dem Größenwahn zu verfallen und die Bo­denhaftung zu verlieren. Wer dächte dabei im Moment nicht an die neuen Machthaber in den USA? Aber so war es auch schon beim biblischen König David. Gott musste ihn gelegentlich daran erinnern, dass er ihn von den Schafhürden weggeholt hatte, um ihn zum König von Israel und Juda zu machen.

Der heutige Predigttext handelt allerdings von einem, der solche Er­innerung nicht nötig hat. Und das, obwohl er es wirklich bis ganz nach oben geschafft hat: Er ist der „Sohn Gottes“. Er ist der „große Hohepriester“. Er hat die Himmel durchschritten wie der irdi­sche Hohepriester die Vorhänge zum Allerheiligsten im Tempel von Jeru­salem. Sein Platz ist der „Thron der Gnade“, der Ort, an dem der gnädige und barmherzige Gott gegenwärtig ist. Was gehen den noch unsere menschlichen Sorgen an, könnte man denken. Was weiß der auf seinem Thron zur Rechten Gottes noch von seinem Schrei am Kreuz: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich ver­lassen“? Was weiß er noch von Krieg, Flucht und Verfolgung, von Hunger und Armut? Was versteht er noch von unserem täglichen Kampf: von dem Leistungsdruck, dem schon Kinder oft ausgesetzt sind, von den Zerreißproben zwischen Beruf und Familie, von der Angst der Ärme­ren vor wachsender Konkurrenz um Wohnungen und Arbeits­plätze, von der Belastung der Älteren durch eigene Ge­brechen, aber auch durch die Pflege von Angehörigen? Wie kann er, der mit dem Vater und dem heili­gen Geist lebt und re­giert in Ewigkeit, sich noch in unsere Lage ver­setzen? Wie kann er das noch nachempfinden: die ständige Gefahr, Gott abzusagen, weil wir ein­fach nichts sehen, nichts spüren, nichts erfahren von seiner All­macht und Liebe?

Und doch, sagt der Hebräerbrief, ist dieser Sohn Gottes, dieser große Hohepriester immer der Mensch Jesus geblieben. Der Jesus, der all das mitgemacht hat, was wir mitmachen, und das ohne den ganzen Komfort, den wir uns heute leisten können. Er bleibt das arme Flüchtlingskind, das neben einem Futtertrog zur Welt kam und dann mit seinen Eltern in Ägypten Asyl beantragen musste. Er bleibt der Zimmermann aus dem Kaff Nazareth, den wir uns weniger als selb­ständigen Handwerker vorstellen sollten, sondern eher als Bau­arbei­ter, der für kärglichen Lohn Häuser für die Reichen baut. Er bleibt der mit­tel­lose Prediger und Heiler, der ohne Geld und ohne Zuhause durch Galiläa zog. Er bleibt das Opfer der römischen Besat­zungs­macht und ihrer Kollaborateure, gefoltert, verhöhnt und ans Kreuz geschlagen. Er ist einer von uns, und er bleibt es auch zur Rechten Gottes.

Aber damit ist das Entscheidende noch nicht gesagt. Bis jetzt ist das noch nicht mehr als die übliche Aufsteiger-Story, wenn auch in größtmöglicher Steigerung: armer Wanderprediger aus ein­fachen Verhältnissen macht Karriere im himmlischen Hofstaat – und bleibt sich dabei treu. Der Knackpunkt ist vielmehr, dass Jesus auch ganz anders gekonnt hätte. Denn für den Hebräerbrief wie für das ganze Neue Testament wurde Jesus nicht erst durch seine Auferste­hung Gottes Sohn, auch nicht durch seine Taufe, sondern er war es von Anfang an. „Bist du Gottes Sohn, so sprich, dass diese Steine Brot wer­den“, sagte der Versucher. Und Jesus hätte das gekonnt! Er hätte die Bitte ums tägliche Brot ein für alle Mal erfüllen können – und was hätte ihm das für eine Macht gegeben! Auf ein Wort von ihm hätten tatsächlich zwölf Legionen Engel bereitgestan­den – nicht nur, um ihn auf Händen zu tragen, sondern um mit ihnen die römi­schen Legionen zu besiegen und Roms Erbe als Herr­scher der Welt anzu­treten. Und noch viel weniger hätte es ihn ge­kostet, nach dem Passamahl in Jerusalem einfach aufzustehen und zu gehen – nicht nach Getsemane sondern ab nach Jericho und dann über die Grenze. Er hätte das schlicht nicht mit sich machen lassen müssen, was der Hohe Rat und Pontius Pilatus mit ihm vorhatten. Dann hätte er viel­leicht tatsächlich Maria Magdalena geheiratet, wäre mit ihr nach In­dien gegangen und dort hoch betagt im Kreise seiner Kinder und Enkel gestorben. Er hätte seinem Vater im Himmel je­derzeit sagen können: „Ich steig aus, ich mach nicht mehr mit! Sieh zu, wie du die Menschheit rettest – aber nicht mit mir!“

Von dieser Möglichkeit erzählt die Versuchungsgeschichte, die wir vorhin gehört haben. Von ihr handelt auch die Bitte Jesu im Garten Getsamene: „Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch an mir vo­rüber.“ Und diese Möglichkeit steht auch dem Hebräerbrief vor Au­gen. „Jesus war versucht wie wir“, sagt er. Er stand genauso in der Gefahr, Gott abzusagen und ohne ihn zu leben, wie wir das tun. Aber er tat es nicht, niemals. Er vollzog die Trennung von Gott nicht. Er blieb ohne Sünde. Nur deshalb steht er am Gnadenthron Gottes – nicht nur als einer von uns, sondern als einer, der für uns ein­treten kann, der mit uns leidet in unserer Schwachheit, unseren An­fechtun­gen, unserer Gottverlassenheit, einer, der uns hilft und beisteht.

„Dazu bekennen wir uns“, sagt der Hebräerbrief, „und an diesem Bekenntnis lasst uns festhalten.“ Wenn wir am liebsten mit Gott bre­chen und unseren Glauben wegwerfen würden, dann lasst uns den anrufen, der dafür mindestens so viel Grund hatte wie wir, aber der es nicht getan hat. Er kennt das, er versteht uns, und er kann uns da he­raushelfen – und das „zur rechten Zeit“ und nicht erst, wenn es zu spät ist.

„Glaubst du das wirklich?“ So fragen Sie mich jetzt vielleicht im Stillen. Und ich muss ehrlich zugeben: Nein, ich kann das auch nicht immer glauben. Manchmal denke ich: Wenn da einer ist zur Rechten Gottes, der einer von uns ist und mit uns leidet, dann müsste er doch auch anders handeln. Er müsste eingreifen, dem Bösen in den Arm fallen, der Wahrheit und der Vernunft zum Durchbruch verhelfen, für Gerechtigkeit und Frieden sorgen, verhindern, dass Menschen leiden, die es nicht verdient haben, und Menschen sterben, die noch nicht dran sind.

Wenn es so weit ist mit mir, dann bleibt mir nur eins: trotzdem am Bekenntnis festhalten, trotzdem darauf bestehen, dass da ein menschlicher Gott im Himmel ist und für mich eintritt. Es bleibt mir nur, so lange daran festzuhalten, bis ich es wieder glauben kann und dann auch wieder erlebe, dass es so ist. Das kann sehr schwer wer­den. Und es kann lange dauern. Aber der Hebräerbrief macht mir Mut, es trotzdem zu versuchen. „Werft euer Vertrauen nicht weg“, sagt er einige Kapitel später, „denn es hat eine große Belohnung. Geduld aber habt ihr nötig, auf dass ihr den Willen Gottes tut und das Verhei­ßene empfangt.“ (Hebr 10,35-36) Und noch zwei Kapitel später fügt er hinzu: „Lasst uns laufen mit Geduld in dem Kampf, der uns be­stimmt ist, und aufsehen zu Jesus, dem Anfänger und Vollen­der des Glaubens“ (Hebr 12,1-2) Denn, so heißt es dann im letzten Kapitel, „Jesus Christus ist derselbe gestern und heute und auch in Ewigkeit“ (Hebr 13,8). Und ich möchte dabei sein, wenn dieser Satz sich als wahr erweist – sichtbar vor aller Welt. Amen.

Ihr Pastor Martin Klein