Predigt, Tal- und Wenschtkirche, Sonntag, 31.10.2021, Reformationstag

Text: Gal 5,1

Sie kennen sicher diese gelben Schilder, die man oft an Gara­gentoren und Hauseingängen findet: „Ausfahrt freihalten“ steht da drauf. Das ist jetzt nicht weiter wichtig. Aber wenn man die beiden Wörter et­was umbaut, wie es wohl zuerst der Kabarettist Richard Rogler getan hat, dann wird eine interessante Botschaft daraus (zeigen): „Freiheit aushalten!“ steht dann da, und das gibt mir zu denken.

„Freiheit aushalten“, das scheint erstmal nicht zusammenzupassen. Denn Freiheit ist uns doch ein höchsterwünschtes Gut. „Freiheit, die ich meine“ – wer hat sie nicht alles besungen? Wer sehnt sich nicht nach Freiheit, wenn er unterdrückt und bevormundet wird? Und wer genießt seine Freiheit nicht, wenn er selbstbestimmt und ohne Zwänge leben kann? „Aushalten“ muss man doch eher Dinge, die einem lästig und beschwerlich sind. Corona-Schutzmaßnahmen zum Beispiel. Aber wenn ich länger darüber nachdenke, komme ich zu anderen Schlüssen. Ja, es stimmt, denke ich dann, Freiheit ist anschei­nend nicht so einfach auszuhalten, wie man meinen sollte.

Das fängt schon bei der eigenen Freiheit an. Als in Osteuropa 1989/90 politische Freiheit einkehrte, waren die Menschen dort glück­lich. Aber heute wählen viele von ihnen freiwillig Leute wie Victor Orban, die offen für eine „illiberale“ – also unfreie – Demokra­tie eintreten. Denn Freiheit – vor allem, wenn man sie nicht gewohnt ist – macht auch unsicher. Und da sucht man sich eben doch gern wie­der einen „starken Mann“, der einem sagt, wo’s lang geht, und einem vom Leib hält, wovor man Angst hat.

Und wenn viele schon die eigene Freiheit schlecht aushalten, dann ist es bei der Freiheit der anderen erst recht so. Alle fanden es klasse, als wir endlich frei und ohne Grenzkontrollen durch Europa fahren konn­ten. Aber seit über diese offenen Grenzen vermehrt Menschen zu uns gekommen sind, die auch gern Freiheit, Frieden und Wohl­stand hät­ten, heißt es allenthalben: „Grenzen dicht und abschieben, was geht“. Anderes Beispiel: Alle Christen sind froh und dankbar, dass sie hierzu­lande ihren Glauben frei und ungehindert leben kön­nen. Aber wenn Muslime diese Religionsfreiheit auch in Anspruch nehmen, Moscheen bauen und sichtbar in Erscheinung treten, dann heißt es: „Hilfe, wir werden islamisiert!“ und „Der Islam gehört nicht zu Deutschland!“ Okay, natürlich wird Freiheit auch missbraucht – so sind Menschen nun mal. Und natürlich muss man dagegen was tun. Aber trotzdem muss ich es vielleicht erst mal aushalten, ohne die Freiheit gleich abzuschaffen – für andere oder auch für mich selbst.

„Freiheit aushalten“, das fiel auch schon denen schwer, an die Paulus den Galaterbrief geschrieben hat. Sonst müsste dort nicht folgender Satz stehen, der zum heutigen Predigttext gehört:

Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!

Worum ging es damals? Und warum war dieser Aufruf nötig?

Nun, Jahre zuvor war Paulus durch Galatien gezogen, hatte dort gepre­digt und das Evangelium von Jesus Christus verkündigt. Und dieses Evange­lium war für ihn ganz entscheidend eine Botschaft, die frei macht. Als Jesus starb und auferstand, so sah es Paulus, da be­siegte Gott durch ihn Sünde, Tod und Teufel. Da überwand er alles, was Men­schen von Gott trennt. Und da erfüllte er stellvertretend für uns auch das Gesetz, wie Gott es Mose übermittelt hatte – ein Ge­setz, das der Mensch niemals halten kann, sondern das ihn nur immer wieder als Sünder überführt. Wer an diesen Gott glaubt, wer sich auf das ver­lässt, was er in Jesus Christus für uns getan hat, der – so Pau­lus – ist frei: frei von der Macht der Sünde, die Menschen zu ihren Sklaven macht; frei von allen Versuchen, aus eigener, unzureichen­der Kraft mit Gott ins Reine zu kommen; frei damit auch vom Gesetz Gottes – jedenfalls frei davon, dieses Gesetz erfüllen zu müssen, um mit Gott im Bund zu bleiben, um von ihm gerettet zu werden. Wer glaubt, ist aber auch dazu frei, diesen Glauben nun zu leben und in die Tat umzuset­zen. Denn, so schließt der heutige Predigttext, christli­cher Glaube ist nur echt, wenn er in der Liebe wirksam ist.

Diese Botschaft hatten die Galater mit Freuden aufgenommen. Denn viele von ihnen hatten sich vorher im Dunstkreis der jüdischen Synago­gen bewegt – als so genannte „Gottesfürchtige“. Sie fühlten sich angezogen vom jüdischen Glauben und vom Gott Israels, woll­ten gern zum Volk Gottes gehören. Aber die Juden waren an großem Zulauf nicht interessiert. Auch sie fürchteten sich schon vor Überfrem­dung. Und deshalb legten sie die Latte sehr hoch: Nur wer bereit war, die ganze Tora des Mose auf sich zu nehmen und sich beschneiden zu lassen, durfte ein volles Mitglied ihrer Gemeinschaft werden. Und man war gar nicht traurig darüber, dass dazu nur sehr wenige bereit waren. Von Paulus dagegen erfuhren die Gottesfürchti­gen nun, dass Gott in Christus auch die Grenze zwischen Juden und Heiden überwun­den hatte. Alle durften nun zum Volk Gottes gehö­ren, allein durch den Glauben an Jesus Christus. Und alle waren frei von irgendwel­chen Bedingungen, die sie dafür erfüllen mussten.

So weit, so gut. In Galatien entstanden vielerorts christliche Gemein­den, überwiegend aus Heidenchristen, die sich aber trotzdem als Teil des Volkes Gottes fühlten. Aber Paulus war noch nicht lange weitergezo­gen, da tauchten plötzlich andere Missionare auf: strenggläu­bige Judenchristen. Und die sagten nun: „Stimmt alles gar nicht! Paulus hat euch was vorge­macht. Ihr könnt nicht Christen sein, ohne auch Juden zu werden. Ihr müsst euch also beschneiden lassen und euch an das Gesetz halten. Jesus hat schließlich gesagt: ,Ich bin nicht gekommen, das Ge­setz aufzulösen, sondern es zu erfüllen. Und es wird kein I-Tüpfel­chen davon vergehen, bis es alles geschieht.’“ Da wurde es auch den Galatern schwer, ihre Freiheit auszuhalten. Sie ließen sich verunsi­chern. Ob diese Leute nicht recht hatten und Pau­lus unrecht? Immer­hin hatten sie beste Referen­zen aus Jerusalem. Und wenn doch Jesus selber gesagt hatte … Au­ßerdem: Was sollte so schlimm sein an dem bisschen Beschneidung? Und ein Gesetz mit festen Regeln war doch gut! Da wusste man wenigstens, woran man sich zu halten hatte, und musste nicht ständig selber entscheiden, wie man seinen Glauben am besten in die Tat umsetzt.

Als Paulus hörte, was in Galatien los war, schrillten bei ihm alle Alarm­glocken. Hier wollte jemand seine Gemeinden von ihm abspens­tig ma­chen und damit seine Arbeit zerstören! Aber was noch viel schlim­mer war: Die Galater drohten das Heil in Christus wieder zu verlieren, das sie gerade erst angenommen hatten. Denn für Pau­lus gab es an diesem Punkt nur ein Entweder-Oder, ein Wahr oder Falsch: entweder Jesus Christus ist der Weg zur Rettung oder das Gesetz. Beides zusammen geht nicht. Deshalb schrieb er ei­nen gehar­nischten Brief, um die Galater im letzten Moment von ih­rem Irrweg zurückzuholen.

Ob ihm das gelungen ist, wissen wir nicht. Aber wir haben dadurch einen Zeugnis in unserem Neuen Testament, das wie kein anderes die „Freiheit eines Christenmenschen“ hervor­hebt, die dann auch für Martin Luther so wichtig war. „Zur Freiheit hat uns Christus befreit“, schreibt Paulus. „Ein Christen­mensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan“, heißt es bei Luther. Wir müs­sen nicht wie die Sklaven für Gott schuften, ohne jemals sicher zu sein, ob wir seinen strengen Maßstä­ben genügen. Wir müssen uns nicht quälen mit der Frage: „Hab ich denn auch genug getan, um vor Gott bestehen zu kön­nen?“ Wir müssen uns auch nicht fragen: „Glaube ich über­haupt richtig? Ist mein Glaube, meine Gewissheit, mein Ver­trauen fest genug?“ Denn dadurch machen wir auch den Glauben zu einem menschlichen Werk, das wir selber hervorbringen können und müs­sen, statt ihn als Gottes Geschenk anzunehmen. Nein, wir sind wirk­lich frei, wenn wir zu Christus gehören: frei von allen Zwängen ge­genüber Gott, frei von allem Druck, den wir uns selber machen, auch frei gegenüber unseren Mitmenschen.

Aber: auch knapp 2000 Jahre nach Paulus und 504 Jahre nach Luther scheint diese Freiheit schwer auszuhalten zu sein. Auf der einen Seite nehmen viele ihre christliche Freiheit gar nicht mehr bewusst wahr; sie wissen weder, wovon Christus sie befreit hat, noch wozu sie be­freit sind. Auf der anderen Seite wird aber vielen immer noch schwinde­lig bei der Vorstellung, sie müssten „an freier Luft fromm sein“, wie es ein Theologe des 19. Jahrhunderts ausgedrückt hat. Der freie, aufrechte Gang des Glaubens fällt ihnen schwer; also suchen sie sich Stützen, an denen sie sich festhalten können. Manche klam­mern sich an den Buchstaben der Bibel, manche an kirchliche Autoritä­ten. Manche hängen an der christlichen Tradition, manche an ihrem Kirchgebäude. Manche berufen sich auf ihr anständiges Le­ben, manche auf ihre spirituellen Erfahrungen. Aber all diese Stützen sind irdischer und menschlicher Natur. Also sind sie nur schwache Krücken, die allzu leicht wegbrechen. Wie gehe ich denn mit den Widersprü­chen in der Bibel um, die sich gerade dann auftun, wenn ich sie buchstäblich verstehen will? Was passiert, wenn die Autoritä­ten, denen ich vertraut habe, ihre Glaubwürdigkeit verlieren, weil sie auch nur schwache Menschen sind? Was geschieht wenn Traditionen schwinden und kirchliche Gebäude aufgegeben werden müssen? Was mache ich, wenn meine anständige Fassade bröckelt? Was ist, wenn ich keine Erfahrungen mehr mit Gott mache, sondern er plötzlich ganz weit weg zu sein scheint? Nur zu leicht schwimmt mir dann der ganze Glaube fort, weil er eben nicht frei war, sondern festgebunden an Dinge, die letztlich keinen Halt geben.

Aber was dann? Bin ich denn mit meinem Glauben nur frei, wenn ich alles loslasse und irgendwie freischwebend in der Luft hänge? Nein, auch das funktioniert natürlich nicht. Aber ich bin dann frei, wenn ich an der richtigen Stelle festgebunden bin: nicht an Irdischem und Vergänglichem, sondern an Gott selber. Ich bin frei, wenn ich mit allem, was ich bin und habe, meinem Herrn Jesus Christus gehöre, wenn ich an ihm festen Halt habe. Wenn es anders wäre, müsste meine Freiheit immer in neuer Knechtschaft enden – oder im freien Fall. So aber kann ich all die untauglichen Stützen fahren las­sen, weil Gott mich hält und niemals loslässt.

Dann bin ich frei, hinter dem Buchstaben der Bibel nach ihrem Geist zu suchen, durch den Gott zu mir spricht. Dann bin ich frei, von vorbild­lichen Christen zu lernen, ohne mich von ihren Fehlern anfech­ten zu lassen. Dann kann ich Traditionen pflegen und dabei trotzdem für Neues offen sein. Ich kann ein anständiges Leben füh­ren, ich kann mit meinem Glauben in der Liebe wirksam sein, ohne mir damit etwas verdienen oder beweisen zu müssen. Und ich kann Erfahrungen mit meinem Glauben sammeln, ohne ihn zu verlieren, wenn die Erfahrungen einmal ausbleiben.

Also, liebe Christenmenschen: haltet eure Freiheit aus, haltet dieses wunderbare Geschenk fest, indem ihr euch an den haltet, der es euch gegeben hat. Dann wird niemand euch diese Freiheit nehmen kön­nen, auch wenn ihr äußerlich noch so unfrei seid. Und dann seid ihr auch frei, um für die Freiheit einzutreten: eure eigene, aber auch die der anderen. Denn zur Freiheit hat uns Christus befreit, und die macht weder an der Herzens- noch der Kirchentür halt. Amen.

Ihr Pastor Martin Klein