Predigt Tal- und Wenschtkirche, Sonntag, 29. Dezember 2013

Gottesdienst am Sonntag nach Weihnachten

Text: Jes 49,14-20

Zion aber sprach: Der Herr hat mich verlassen, der Herr hat mei­ner vergessen. Kann auch ein Weib ihres Kindleins vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und ob sie seiner vergäße, so will ich doch deiner nicht vergessen. Siehe, in die Hände habe ich dich gezeichnet; deine Mauern sind immerdar vor mir. Deine Erbauer eilen herbei, aber die dich zerbrochen und zerstört haben, werden sich davonmachen. Hebe deine Augen auf und sieh umher: Diese alle sind versammelt und kommen zu dir. So wahr ich lebe, spricht der Herr: du sollst mit diesen allen wie mit einem Schmuck angetan werden und wirst sie als Gürtel um dich legen, wie eine Braut es tut. Denn dein wüstes, zerstörtes und verheertes Land wird dir alsdann zu eng werden, um darin zu wohnen, und deine Verderber werden vor dir weichen, so dass deine Söhne, du Kinder­lose, noch sagen werden vor deinen Ohren: Der Raum ist mir zu eng; mach mir Platz, dass ich wohnen kann.

Kann eine Mutter ihr Kind vergessen? Eigentlich ist das unvorstell­bar. Wer könnte jemals das ganz besondere Band zerschneiden, das eine Frau mit ihrem Kind verbindet? Neun Monate hat sie es unter ihrem Herzen getragen und dann meist unter Schmerzen geboren. Danach hat es oft noch an ihrer Brust getrunken und dabei tiefe Ge­borgenheit erfah­ren. Dank Geburtsvorbereitungskursen, Zulassung zum Kreißsaal und Erfindung des Fläschchens können Väter an die­sen Dingen zwar heute viel stärkeren Anteil nehmen als früher, und viele tun es auch, aber so mit Leib und Seele wie die Mütter werden sie doch nie am Geschehen beteiligt sein. Und sie müssen dann auch damit leben, das kleine Kinder, wenn sie die Wahl haben, doch lieber zur Mama als zum Papa laufen, wenn sie Halt und Trost brauchen. Umso schlimmer ist es, wenn dieses ganz besondere Band zwischen Mutter und Kind dann doch gewaltsam getrennt wird – durch eine Schei­dung vielleicht oder gar durch den Tod. Für eine Mutter kann es wohl kei­nen schlimmeren Verlust geben, als das eigene Kind für immer zu verlieren.

Und doch kommt es vor, dass Mütter ihr Kind vergessen und miss­achten. Dass sie ihr Neugeborenes in eine Mülltonne werfen oder ein Dreijähriges verhungern lassen. Uns kommt so etwas ungeheuerlich vor. Und dicke, gehässige Schlagzeilen, sind den Müttern sicher, die so etwas tun. Auch im zu Ende gehenden Jahr haben wir wieder manche davon zu lesen bekommen. Weniger hören wir dagegen von den verzweifelten Notlagen, in denen sich solche Mütter oft befin­den. Oder von den seelischen Wunden, die ihnen selber zugefügt wurden, bevor sie ihren Kindern Schlimmes antun. Denn instinktiv haben wir mit unserer Empörung ja recht: Un­ter normalen Umstän­den würde keine Mutter ihr Kind erbarmungslos dem Tode preisge­ben.

Ich finde es deshalb faszinierend, dass die Bibel in unserem Predigt­text Got­tes Beziehung zu seinem Volk mit einer Mutter-Kind-Bezie­hung vergleicht. Denn es ist ja nun mal so, dass die Bibel meistens männ­liche Bil­der für Gott gebraucht: König, Herr der Heerscharen, Rich­ter, Hirte, Vater und so weiter. Aber es gibt eben auch die weni­gen Stellen, wo Gott weibliche Züge trägt, und die sind nicht nur mir besonders kostbar: „Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet“, heißt es eben­falls im Jesaja-Buch. Und „wie oft habe ich deine Kinder versam­meln wollen wie eine Henne ihre Küchlein“, klagt Jesus über Jerusa­lem. Und so ist es auch hier: Das stärkste Band, das zwischen zwei Menschen bestehen kann, ist gerade gut genug, um die Bindung Gottes an sein Volk zu umschreiben. Gott liebt es so sehr wie eine Mutter ihr Kind, das sie in sich getragen und zur Welt gebracht hat. Ein­ziger Unterschied: Was schon unter Men­schen ungeheuerlich ist, das ist bei Gott erst recht unmöglich: Nichts und niemand wird dieses Band zerreißen. „Ich werde dich nicht ver­gessen“, sagt Gott, und das gilt.

Aber gilt es wirklich? Oder ist Gott in Wirklichkeit doch eine Ra­benmutter, die ihre Kinder verwahrlosen lässt und dann nur mit den Achseln zuckt, wenn sie keine Grenzen kennen und gewalttätig wer­den? Wo war Gott denn am 11. September 2001 oder am 9. Novem­ber 1938 oder an all den anderen Schreckensdaten der Welt­ge­schichte und unserer Lebensgeschichte? Was hat Gott je dagegen unternommen, dass gerade solche, die sich für seine liebsten Kinder halten, anderen diese Kindschaft absprechen und gehässig bis brutal auf sie einschlagen – in Wort und Tat? Wenn man das alles Re­vue passieren lässt, dann können einem massive Zweifel kommen, ob da tatsächlich ein guter Vater oder eine gute Mutter im Himmel ist, die uns liebt und nicht vergisst und auch schon mal zur Räson bringt. Nur schwer lässt sich die Welt, wie wir sie erleben, mit dem Glauben vereinbaren, auf den wir getauft worden sind.

Aber so ist unser christlicher Glaube nun einmal beschaffen: Es gibt ihn nicht ohne diese Zweifel. Im Gegenteil: Je stärker und intensiver der Glaube desto größer werden meist auch die Anfechtungen. So­lange wir als Christen auf Erden leben, haben wir damit zu kämpfen, dass die raue Wirklichkeit eine völlig andere Sprache spricht als die Verheißungen der Bibel, und wir werden damit irgendwie klar kom­men müssen.

Aber genauso ging es den ersten Hörern unseres Predigttextes ja auch schon: „Zion sprach: Der Herr hat mich verlassen, der Herr hat mei­ner vergessen“, heißt es da. Und Zion-Jerusalem hatte allen Grund so zu spre­chen: Die Stadt war bis auf die Grundmauern zer­stört, und das seit vielen Jahren. Vom Tempel des Gottes Israels war kein Stein auf dem anderen geblieben. Nur wenige Menschen lebten noch in dieser Trümmerwüste, und die meisten ehemaligen Bewoh­ner waren ins ferne Babylon verschleppt worden. Dort saßen sie und weinten, wenn sie an Jerusalem dachten – wenn sie überhaupt noch lebten, denn viele von ihnen waren schon in der Fremde gestorben. Zweifel und Resignation prägten auch ihren Glauben.

Aber dann meldete sich Gott wieder zu Wort. Durch den unbekann­ten Propheten, den wir den zweiten Jesaja nennen. Und er gab ihnen dadurch wieder Zuversicht und Hoffnung. Hoffnung, die auch dann nicht starb, als die Erfüllung wesentlich bescheidener ausfiel als die Verheißung. Die Verbannten durften heimkehren, und Jerusalem wurde wieder aufgebaut, aber es strömten nicht Scharen von Israeli­ten aus allen Himmelsrichtungen dorthin, und es bekannten sich auch nicht alle Völker der Welt zum Gott Israels. Aber immerhin: Gott hatte einen Anfang gemacht. Und dieser Anfang machte die Men­schen gespannt auf das, was noch kommen würde.

Ich denke, für uns gilt das Gleiche. Auch mit uns hat Gott einen An­fang gemacht. Er ist selbst Mensch geworden. Seine Liebe zu uns Menschen, das Urbild aller Mutterliebe, hat ihn selber das Kind einer irdischen Mutter werden lassen. Nun ist er tatsächlich durch ein leib­liches Band mit uns verbunden wie eine Mutter mit ihrem Kind. Niemals wird er das vergessen können oder wollen. Damals beim zweiten Jesaja war es der Name „Zion“, den Gott sich bildlich ge­sprochen in die Hand tätowiert hatte, um ihn nicht vergessen zu kön­nen. Heute ste­hen dort im Namen Jesu unser aller Namen. Keinen von uns wird der menschgewordene Gott je vergessen oder allein lassen. Sicher, unsere Zweifel daran werden nie ganz verstummen. Aber auch das zeigt sich ja immer wieder, wenn schreckliche Er­eig­nisse über Menschen hereinbrechen: dass man bei diesem Gott auch in schlimmer Lage Zuflucht finden kann. Nach dem 11. Sep­tember 2001 zum Beispiel sah man auch hierzulande Menschen in Gedenkgottesdiensten und Frie­densgebeten, die sonst nicht mal zu Weih­nachten eine Kirche betreten. Sie waren natürlich nicht alle plötzlich gläubig geworden. Aber sie hatten wohl keinen besseren Ort, um wenigstens ihre bohrenden Fragen loszuwerden. Und sie waren damit an der richtigen Adresse. Denn Gott ist da, wo Men­schen hilflos sind, weil Jesus als hilfloser Säugling in einer Krippe gelegen hat, und Gott mit ihm. Gott ist da, wenn Menschen leiden, weil Jesus gelitten hat, und Gott mit ihm. Und Gott ist auch da, wo Menschen sich von ihm ver­lassen fühlen – so wie Jesus, als er am Kreuz seine Not hinausschrie.

Deshalb möchte ich mich durch alle Zweifel hindurch auf diesen Trost verlassen, dass Gott mir beisteht, dass ich ihm gehöre im Leben und im Sterben. Ich möchte die Hoffnung nicht verlieren, dass eines Tages wirklich Ge­rechtigkeit und Frieden auf Erden einkehren wer­den. Und ich möchte die Kraft behalten, Tag für Tag entsprechend zu handeln. Gottes Verheißungen haben diese Hoffnungen geweckt. Gottes Menschwer­dung hat ihr festen Boden unter den Füßen gege­ben. Und Gottes Treue wird unsere Hoffnung nie zuschanden werden lassen. Amen.

(Pfarrer Dr. Martin Klein)