Gottesdienst für den vierten Advent
Text: Jes 52,7-10
30. September 1989: Auf dem Gelände der Deutschen Botschaft in Prag herrschen katastrophale Zustände. Tausende von DDR-Bürgern haben in den Wochen zuvor dort Zuflucht gesucht, um aus der DDR ausreisen und endlich in Freiheit leben zu können. Haus und Garten sind hoffnungslos überfüllt, das Botschaftspersonal kann die Versorgung der vielen Menschen kaum noch bewältigen, und niemand weiß, wie es weitergehen soll. Da betritt um 18.58 Uhr der Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher den Balkon. Er kommt direkt von Verhandlungen mit seinem sowjetischen Amtskollegen am Rande der UN-Vollversammlung. Und er hat gute Nachrichten: „Liebe Landsleute“, ruft er der dichtgedrängten Menge zu, „wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise …“ – „in die Bundesrepublik Deutschland möglich geworden ist“, wollte er noch sagen, aber diese Worte gehen schon in ohrenbetäubendem Jubel unter. Endlich ist der Weg in die Freiheit offen, jedenfalls für die „Botschaftsflüchtlinge“ – und was noch niemand wissen kann: Nur wenige Wochen später wird er für alle Menschen in der DDR offenstehen. Da kann man den Jubel verstehen: So ähnlich müssen sich die Kinder Israel gefühlt haben, als der Pharao sie endlich aus Ägypten ziehen ließ. Und der sonst eher nüchterne und sachliche Minister ist zu einem echten Freudenboten geworden.
Viele von Ihnen werden diese Szene damals in den Nachrichten verfolgt haben, oder Sie haben sie später bei einer der zahllosen Wiederholungen gesehen haben. Mir kam sie wieder in den Sinn, als ich mich mit dem heutigen Predigttext aus Jesaja 52 beschäftigt habe. Denn auch dort tritt ein Freudenbote auf und hat noch viel Größeres mitzuteilen als Genscher in Prag:
Wie lieblich sind auf den Bergen die Füße des Freudenboten, der da Frieden verkündigt, Gutes predigt, Heil verkündigt, der da sagt zu Zion: Dein Gott ist König! Deine Wächter rufen mit lauter Stimme und rühmen miteinander; denn alle Augen werden es sehen, wenn der Herr nach Zion zurückkehrt. Seid fröhlich und rühmt miteinander, ihr Trümmer Jerusalems; denn der Herr hat sein Volk getröstet und Jerusalem erlöst. Der Herr hat offenbart seinen heiligen Arm vor den Augen aller Völker, dass aller Welt Enden sehen das Heil unsres Gottes.
„Der Herr kehrt zum Zion zurück“ – das hatte kein Israelit mehr für möglich gehalten – weder in der Verbannung in Babylon, noch im verwüsteten Judäa. Denn der Zion war nun schon seit über vierzig Jahren ein Trümmerhaufen. Die Eroberer hatten den Tempel des Herrn dem Erdboden gleichgemacht und seine heiligen Geräte als Beute nach Babylon geschafft. Der Ort, den der Gott Israels sich zum Wohnsitz erwählt hatte, existierte nicht mehr. Hier hatte Israel seine Gegenwart gefeiert, ihm Opfer dargebracht, ihn als König des Himmels verehrt. Nun waren davon nur noch Klagegesänge übrig. Dazu versammelten sie sich noch, die verbliebenen Bewohner von Jerusalem und die Verbannten in Babylon, aber die Hoffnung hatten sie längst aufgegeben. Mit dem Tempel, mit der Heimat war ihnen auch ihr Gott entschwunden. Auf dem Zion herrschte Schweigen. Entweder wollte der Herr von seinem Volk nichts mehr wissen, oder Marduk, der Staatsgott von Babylon, war eben doch der Stärkere, wie die Sieger behaupteten.
Aber dann trat jener unbekannte Prophet auf, der sich in der Tradition des Propheten Jesaja sah, und schlug mit seiner Freudenbotschaft ein ganz neues Kapitel auf: Die Zeiten ändern sich. Das babylonische Reich wird zerfallen, und der neue starke Mann, der Perserkönig Kyros, ist das Werkzeug, mit dem der Herr für sein Volk Israel die Wende bringt. Ausreise wird möglich werden. Triumphal werden die Verbannten zum Zion heimkehren, jubelnd werden sie die Daheimgebliebenen empfangen, und gemeinsam werden sie Stadt und Tempel wiederaufbauen. Aber nicht nur das: Der Herr selbst kehrt zum Zion zurück. Er nimmt wieder Wohnung inmitten seines Volkes, und alle Welt wird es sehen und ihn als Herrn anerkennen. Denn das ist die entscheidende Erkenntnis, die dem zweiten Jesaja aufgegangen ist: Der Herr ist nicht nur der Gott des kleinen Israel. Er ist auch nicht nur König über die anderen Götter, wie es früher schon mal im Überschwang geheißen hatte. Nein, er allein ist Gott und sonst keiner. Er hat Himmel und Erde erschaffen, auch die Sterne, die die Babylonier so verehren. Er lenkt die Geschichte, lässt Weltreiche untergehen und neue Herrscher auftreten, aber er tut es nicht als unnahbares Schicksal, sondern aus Liebe zu den Menschen, die immer noch sein Volk sind – das Volk, mit dem er eine besondere, unauflösliche Beziehung eingegangen ist. Niemand weiß, was er gerade an Israel findet – diesem unbedeutenden Spielball der Großmächte, der nun noch nicht mal mehr ein Zuhause hat. Er muss wohl eine Schwäche für die Schwachen haben, will sich gerade an ihnen als der Herr erweisen, der die Gewaltigen vom Thron stößt und die Niedrigen erhebt, wie es Maria so treffend besungen hat.
Diese Freudenbotschaft hat eingeschlagen damals. Wie ein Lauffeuer hat sie sich verbreitet, Hoffnung geweckt, Menschen in Bewegung gesetzt. Zumal das Verheißene tatsächlich einzutreffen schien: Kyros eroberte Babylon und gestattete den Israeliten die Heimkehr und den Wiederaufbau des Tempels. Dann allerdings gerieten die Dinge ins Stocken. Es dauerte Jahrzehnte, bis der Tempel fertig war und Judäa blieb eine unbedeutende Provinz des Perserreichs. Wenn das „das Heil unseres Gottes“ war, dann fiel es also eher bescheiden aus, und keineswegs nahmen „aller Welt Enden“ Notiz davon – geschweige, dass sie den Gott Israels als ihren Gott anerkannten.
Aber die Botschaft, die war nun einmal in der Welt. Und sie war nicht mehr tot zu kriegen. Immer wieder kam sie neu zur Sprache, auch und gerade nach Zeiten der Enttäuschung. Immer weiter hoffte Israel auf Trost und Erlösung, auf das Kommen Gottes, auf seine Heimkehr zum Zion.
Und wir? Nun, auch uns gilt diese Botschaft, denn sie sollte ja alle Enden der Erde erreichen. Vor den Augen aller Völker sollte die Macht des Herrn offenbar werden. Aber haben „die Füße der Freudenboten“ sich denn nach zweieinhalbtausend Jahren nicht längst tot gelaufen? Wo sind sie denn, der Trost und die Erlösung – in all dem Leid und all der Zerstörung, die die Welt immer noch heimsucht? Wo ist denn etwas vom Kommen Gottes zu spüren – in den Flüchtlingslagern, in den zerstörten Städten, in den Elendsvierteln? Wir hier im reichen Deutschland haben ja wenig Grund zur Klage, aber was sollen die Armen und Elenden dieser Erde mit einer Botschaft anfangen, die so gar nicht zu dem zu passen scheint, was sie tagtäglich erdulden müssen?
Aber genau für solche Menschen ist die Freudenbotschaft gemacht: damals für die Trümmer Jerusalems und die, die darin leben mussten, und heute für alle, denen es ähnlich ergeht. Und sie muss keineswegs über ihre Köpfe hinweggehen; denn sie hat dann ja noch mal einen entscheidenden Dreh bekommen, jedenfalls für uns Christen. Für uns kommt Gott nicht erst, sondern er ist schon da. Freilich hat er Jerusalem dabei links liegen lassen und ist in Bethlehem eingekehrt. Und er hat auch erst mal nicht „seinen heiligen Arm offenbart“, also seine Macht enthüllt, sondern hat sich ganz klein gemacht, so dass man ihn wickeln und in eine Krippe legen musste. Und statt der Augen aller Völker waren es zunächst nur ein paar arme Hirten und ein paar heidnische Sterndeuter, die etwas davon mitbekamen. Aber eigentlich hätte man es ja ahnen können: Wenn Gott wirklich eine Schwäche für die Schwachen hat, dann marschiert er nicht an der Spitze seiner himmlischen Heerscharen in die Welt ein, sondern kommt eher unauffällig durch die Hintertür. Und gerade so erringt er den Sieg über die gottfeindlichen Mächte dieser Welt, die damit nicht gerechnet haben. Ja, „dieses schwache Knäbelein soll unser Trost und Freude sein, dazu den Satan zwingen und letztlich Frieden bringen.“ Sie haben also allen Grund, die Geburt Jesu zu feiern, die Christen in Syrien oder in den Slums von Manila; denn Gott ist einer von ihnen geworden.
Aber auch zu uns ist sie unterwegs, die Freudenbotschaft. Zu uns, die wir vielleicht alles haben, und uns doch innerlich arm und leer fühlen. Zu uns, die gerade vielleicht die Angst oder Trauer um einen geliebten Menschen umtreibt – vielleicht auch Angst und Sorge um uns selber. Zu uns, die wir wieder mal nur auf dem Zahnfleisch über die Weihnachtsziellinie kriechen wegen all dem Stress, den wir uns machen oder gemacht bekommen. Zu uns mit unserem kleinen Glauben, unserer verkümmerten Liebe, unserer enttäuschten Hoffnung. „Seht, da ist das Heil unseres Gottes“, ruft sie uns zu, „schaut genau hin, dann entdeckt ihr es: im Lobpreis der Maria, in der Freude der Hirten, in der Huldigung der Weisen. Lasst euch von ihnen hinführen zum Kind in der Krippe, zu Gott, der sich ganz klein macht. Und findet dort den Trost, die Erlösung, die ihr sucht. Amen.
(Pfarrer Dr. Martin Klein)