Predigt Tal- und Wenschtkirche, Sonntag, 13.11.2022

Gottesdienst für den vorletzen Sonntag des Kirchenjahres

Text: Lk 18,1-8

Er sagte ihnen aber ein Gleichnis davon, dass man allezeit beten und nicht nachlassen sollte, und sprach: „Es war ein Richter in einer Stadt, der fürchtete sich nicht vor Gott und scheute sich vor keinem Menschen. Es war aber eine Witwe in derselben Stadt, die kam im­mer wieder zu ihm und sprach: ,Schaffe mir Recht gegen meinen Widersacher!‘ Und er wollte lange nicht. Danach aber dachte er bei sich selbst: ,Wenn ich mich schon vor Gott nicht fürchte noch vor keinem Menschen scheue, will ich doch dieser Witwe, weil sie mir so viel Mühe macht, Recht schaffen, damit sie nicht zuletzt komme und mir ins Gesicht schlage.‘“

Da sprach der Herr: „Hört, was der ungerechte Richter sagt! Sollte Gott nicht auch Recht schaffen seinen Auserwählten, die zu ihm Tag und Nacht rufen, und sollte er bei ihnen lange warten? Ich sage euch: Er wird ihnen Recht schaffen in Kürze. Doch wenn der Men­schen­sohn kommen wird, wird er dann Glauben fin­den auf Er­den?“

Wahrlich eine Schande für seinen Berufstand, dieser Richter, von dem Jesus hier erzählt. Er glaubt an gar nichts: weder an Gott, noch an die hehren Prinzipien des Rechtsstaats. Er soll den Menschen zu ihrem Recht verhelfen, aber er hat für sie nichts als Verach­tung üb­rig. Sie sind ihm einfach nur lästig. Wahrscheinlich lebt er gut von dem Gehalt, das man ihm zahlt, und möchte dabei nicht gestört werden. Und offenbar rechnet er nicht damit, seiner­seits von irgend­wem zur Rechenschaft gezogen zu werden. Deshalb versucht er gar nicht erst, sein zynisches Nichtstun zu bemänteln – weder vor anderen noch vor sich selbst. Alle wissen, dass er ein korrupter Mist­kerl ist, er selbst weiß es auch, aber es ist ihm völlig wurscht.

Aber da ist eine, die dringt dann doch zu ihm durch und zwingt ihn, seines Amtes zu walten. Und von ihr, der armen kleinen Witwe, hätte wohl keiner gedacht, dass sie auch nur die geringste Chance hat. Sie besitzt nichts, was ihr bei so einem Richter helfen könnte: keinen Einfluss, keine Beziehungen, kein Druckmittel, nichts, womit sie ihn bestechen oder erpressen könnte. Sie hat nur eins, und das ist ihre unerschütterliche Hartnäckigkeit. Wieder und wie­der spricht sie bei dem Richter vor, geht ihm auf die Nerven mit ih­rem Anliegen, lässt einfach nicht locker. Und wer wollte es ihr verden­ken, wenn sie da­bei immer ärgerlicher wird und immer schril­ler klingt. Zumindest kommt es dem Richter so vor. Bis er irgend­wann ernsthaft befürch­tet, dass die Frau demnächst handgreiflich wird und ihm ein blaues Auge haut. Und abgesehen davon, dass das ziemlich wehtäte, wäre es auch noch oberpeinlich: „Ach, guckt mal, der Herr Richter hat ein Veilchen!“ – „Ja, ich hab gehört, das hat er von der Witwe Sowieso.“ „Aha! Na, da fragt man sich doch, womit er die so wütend gemacht hat?“ Und so weiter. Da tut der Richter dann lieber doch mal so, als ob ihm das Recht dieser Witwe ein ech­tes Anliegen wäre.

Ich komme gleich darauf, was Jesus wohl mit diesem Gleichnis sa­gen wollte. Aber vorher halte ich noch fest, dass die Figuren die­ser Geschichte leider nur zu gut erfunden sind. Denn so geht es ja weit­hin zu in der Welt, damals und heute. Da sind die Armen, die Machtlo­sen, die Unterdrückten, die keine Chance haben, zu ihrem Recht zu kommen. Und da sind die, die in Wohlstand und Überfluss leben und die das Elend der anderen erst interessiert, wenn es ihnen zu sehr auf die Pelle rückt – in Gestalt von Flüchtlingen zum Beispiel. Oder durch die Folgen des Klimawandels, unter denen die Armen aber schon viel länger leiden.

Aber zurück zu Jesus: Was wollte er denn nun sagen mit seinem Gleich­nis? Seine Zuhörer waren überwiegend solche wie die arme Witwe: Menschen ohne Schutz, ohne Macht, ohne Geld, unter­drückt von der römischen Besatzungsmacht und ihren Kollabora­teuren, ausgebeutet und enteignet von reichen Groß­grund­be­sit­zern, der Willkür von korrupten Beamten hilflos ausge­liefert. Aber sie waren auch fromme Menschen. Sie glaubten an den Gott Israels, der sich immer auf die Seite der Armen, der Wit­wen und Waisen gestellt hatte. Sie glaubten später an Jesus Chris­tus, der die Armen seliggepriesen und das nahe Reich Gottes verkün­digt hatte. Und sie schrien zu Gott um Hilfe, immer und im­mer wieder: „Wann kommst du endlich, um uns zu erlösen? Wann richtest du endlich deine Herr­schaft auf, sichtbar für alle Welt? Wann werden endlich Frieden und Gerechtigkeit für alle einkeh­ren?“ Aber sie schrien vergebens. Nichts passierte. Und selbst die großen Taten Jesu änderten nichts an den Verhältnissen.

Ihnen will Jesus Mut machen: „Habt Geduld, lasst nicht locker, hal­tet fest am Gebet! Es mag zwar so aussehen, als ob auch Gott so ein unge­rechter Richter ist, dem die Menschen egal sind, der nicht zu­hört und nichts tut. Aber so ist es ja nicht! Gott ist doch der Lie­bende und Barmherzige. Und ihr seid seine Auserwählten: die Men­schen, die er sich ausgesucht hat, um ihnen nahe zu sein. Und wenn schon ein menschenverachtender Zyniker wie dieser Richter irgend­wann doch was tut, weil es für ihn unangenehm zu werden droht, wie viel mehr wird dann Gott dafür sorgen, dass seine geliebten Kinder bekommen, was ihnen zusteht.“

Ich würde das Gleichnis jetzt gern so verallgemeinern, wie Lukas es zu Anfang tut: „Er sagte ihnen ein Gleichnis darüber, dass man alle­zeit beten und nicht nachlassen sollte.“ Und dann würde ich uns gern zusprechen: „Bringt eure Sorgen und Nöte vor Gott und lasst nicht nach damit, dann wird er euch erhören, schneller als ihr denkt.“

Aber abgesehen davon, dass das mit der Erhörung so nicht immer stimmt, würde ich den Worten Jesu damit die Spitze nehmen. Es geht hier nicht allgemein um Gebetserhörung. Sondern es geht um das Kommen des Reiches Gottes. Es geht darum, dass Gott den Entrech­teten dieser Erde end­lich ihr Recht verschafft – das Recht, nach dem die Gläubigen unter ihnen zu Gott schreien, seit 2000 Jah­ren und mehr. Und ich fürchte, wenn wir das Gleichnis in diesem Sinne auf uns übertragen, dann sind wir nicht die arme Witwe. Denn dafür geht es uns inmitten all der Krisen immer noch viel zu gut: Der Krieg in der Ukraine macht uns zu schaffen, aber bei uns stirbt des­halb keiner. Die Preise steigen, und es droht eine Rezession, aber wir sind offenbar immer noch reich genug, um das mit einem „200-Milliarden-Doppel-Wumms“ abzufedern. Wenn nicht gerade Pande­mie ist, können wir unser Leben so frei gestal­ten wie noch nie. Und trotz aller Probleme im Gesundheitswesen werden wir im Schnitt älter und bleiben dabei gesünder als alle unsere Vorfahren. Natür­lich gibt es trotz­dem viel persönliches Leid – schlimm für jeden, den es betrifft. Aber nirgendwo sonst auf der Welt gibt es so viele Möglich­keiten, dieses Leid zu lindern. Natürlich gibt es auch bei uns Arme, und im Moment haben sie es besonders schwer. Aber selbst mit ihnen würden viele Menschen auf der Welt liebend gern tau­schen. Was soll also, bitte schön, das Recht sein, das Gott uns noch verschaffen müsste? Müssten die meisten von uns nicht erst mal sehr, sehr lange still sein, bis sie an die Reihe kä­men?

Nein, wir sind nicht die arme Witwe. Eher sind wir der Widersacher, der ihr das Recht streitig macht, der ihr wegnimmt, was ihr zusteht. Oder wir sind gar der Richter, den das Recht der armen Witwe nicht wirklich interessiert. Wir verbrauchen mit unserer reichen Minder­heit immer noch den Großteil der Ressourcen dieser Erde und hal­ten das für völ­lig selbstverständlich. Wir pflegen einen Lebensstil, der das Öko-Sys­tem vollends zusammenbrechen ließe, wenn alle so leben würden. Aber mit welchem Recht nehmen wir einen solchen Lebensstil in Anspruch und enthalten ihn anderen vor? Mit welchem Recht verju­beln wir innerhalb von Jahrzehnten Jahrmillionen alte Boden­schätze, die bei vernünftigem Gebrauch und bei gerechter Vertei­lung noch lange Zeit für alle reichen würden? Mit welchem Recht reden wir abfällig von „Wirtschaftsflüchtlingen“, wenn Men­schen keine andere Möglichkeit sehen, um auch ihren Teil vom Ku­chen abzubekommen? Glauben wir denn wirklich, das wäre rech­tens alles unsers, und unsers allein?

Es ist also kein Wunder, wenn unsere Gebete um das Kommen des Reiches Gottes eher verhalten klingen, wenn die Vorstellung, dass Gott eines Tages Gericht hält, bei uns eher Angst als Hoffnung aus­löst. Uns geht’s ja gut, von uns aus kann das ruhig noch dauern mit der Wiederkunft Christi!

Also geht uns das Gleichnis nichts an? Steht es gar nicht für uns in der Bibel? Oh doch! Und zwar deshalb, weil es nicht nur den „armen Witwen“ Trost bietet, sondern auch den „ungerechten Richtern“ den Spiegel vorhält. Prüft euch selbst, das sagt Jesus uns, ob ihr euch nicht genauso verhaltet wie dieser Richter, über den ihr euch empört! Und dann macht es anders. Habt Ehrfurcht vor Gott, dem ihr alles zu verdanken habt, was ihr seid und habt. Achtet die Men­schen, die er liebt und die er wie euch zu seinem Bilde geschaffen hat. Und dann seid nicht gleichgültig und stellt euch nicht taub! Habt offene Augen, Ohren und Herzen für all die Menschen, die Unrecht leiden. Verschafft ihnen Gerechtigkeit, so gut ihr könnt – auch wenn das heißt, dass ihr abgeben und teilen müsst. Und wenn ihr das tut, dann fängt Gott schon damit an, die Schreie der Armen zu erhören. Dann bricht das Reich Gottes hier und jetzt schon an. Und ihr, die Reichen und die Armen, könnt gemeinsam darauf zu gehen – nicht mehr getrennt, sondern eins in Christus.

„Doch wenn der Menschensohn“ – also Jesus als Weltenrichter – „kommen wird, wird er dann Glauben finden auf Erden?“ Mit dieser Frage endet die kurze Auslegung des Gleichnisses. Wenn „Glaube“ nur das Fürwahrhalten von Glaubenssätzen ist – oder viel­leicht noch mein ganz persönliches Verhältnis zu Gott, dann, fürchte ich, müs­sen wir diese Frage mit Nein beantworten. Denn so lange der Glau­be nur bei uns selber bleibt, hat er keine auffindbaren Konse­quen­zen. Wenn er aber aus uns herauswächst und in der Liebe tätig wird, wenn wir uns im Vertrauen auf Gott aufmachen und den Weg der Gerechtig­keit gehen, dann wird der Glaube wirk­lich, und Gott wird seine Freude daran haben, wenn sein Reich kommt. Gut, dass wir das nicht aus eigener Kraft schaffen müssen, sondern Gott ein­fach an und durch uns wirken lassen dürfen. Und darum dürfen wir ihn auch gern und ausdauernd bitten. Amen.

Ihr Pastor Martin Klein