GOTTESDIENST FÜR DEN ACHTZEHNTEN SONNTAG NACH TRINITATIS
Text: Dtn 30,11-14
Wie schon erwähnt: Heute feiern jüdische Gemeinden überall auf der Welt das „Fest der Gesetzesfreude“. Besonders bei den frommen chassidischen Juden geht es dabei ziemlich ausgelassen zu. Vielleicht haben Sie schon mal Aufnahmen davon gesehen, wie Männer in Schwarz mit Bart und Schläfenlocken und der Tora-Rolle im Arm durch die Straßen tanzen.
Uns kommt das sehr befremdlich vor. Denn die Stichwörter „Gesetz“ und „Freude“ bringen wir nicht zusammen. Klar, Gesetze müssen sein, und meistens befolgen wir sie ja auch. Aber selbst Rechtsanwälte, die an der Vielzahl der Gesetze gutes Geld verdienen, hat man noch nicht jubelnd und das BGB schwenkend ums Gerichtsgebäude laufen sehen. Und wer vehement für Recht und Ordnung eintritt, der tut das mit strengem Blick und ernster Miene, nicht etwa mit einem Lächeln im Gesicht.
Dabei können wir doch im Allgemeinen froh sein über die Gesetze, die in unserem Land gelten. Nehmen wir nur mal die Straßen-verkehrsordnung: Sie rettet unbestritten vielen Menschen das Leben. Gleiches gilt – etwas weniger unbestritten – für die Corona-Schutzverordnungen. Aber statt uns darüber zu freuen, finden wir Tempolimits oder AHA-Regeln einfach lästig, befolgen sie nur missmutig und übertreten sie, sobald keiner guckt. Freude am Gesetz? Wer kommt denn auf so was?!
An dieser Einstellung ist unsere christliche Tradition nicht ganz unschuldig. Denn auch das Gesetz Gottes begegnet uns da in eher unerfreulichen Zusammenhängen.
Einmal sorgt Gott durch das Gesetz dafür, dass in der gottlosen und sündigen Welt nicht drunter und drüber geht. Und irdische Gesetzgeber – siehe oben – sind dabei seine Werkzeuge. Freudige Zustimmung der Gesetzesempfänger ist dabei weder erforderlich noch vorgesehen.
Zum Zweiten deckt Gott durch das Gesetz unsere Sünde auf: Wer die Zehn Gebote hört oder gar die Bergpredigt liest, der erkennt auch, wie sehr er an ihrer Erfüllung scheitert. Und er kann sich nicht mehr herausreden, er hätte nicht gewusst, „was gut ist und was Gott von ihm fordert“ (Mi 6,8). Auch hier besteht zur Freude kein Anlass.
Drittens schließlich zeigt das Gesetz Gottes uns Christen, welches Leben unserem Glauben entspricht. Hier sind wir eigentlich an dem Punkt, wo die Freude über das Gesetz aufkommen müsste. Denn hier spricht es zu Menschen, die Gottes Gnade erfahren haben. Ihnen ist die Schuld vergeben, und sie sind dazu befreit, Gott dankbar zu dienen und seinen Willen zu tun. Klingt gut. Aber in Wirklichkeit hat dieser so genannte „dritte Gebrauch des Gesetzes“ die Christen auch nicht froh gemacht. Denn nur zu rasch wurde hier aus dem Gesetz Gottes menschliche Gesetzlichkeit: „Ein Christ tut dies nicht und jenes nicht, und wenn du es trotzdem tust, bist du eben kein richtiger Christ“. Viele von uns kennen das aus dem frommen Siegerland der Vergangenheit, teils auch noch der Gegenwart. Und vielen hat diese Gesetzlichkeit die Freude am Glauben gründlich verdorben.
Aber es müsste doch auch anders gehen – wenn „Gesetz“ doch eigentlich etwas Gutes ist und wenn es sogar letztlich von Gott kommt, der die Liebe ist und es gut mit uns meint. Können wir da von unseren jüdischen Geschwistern etwas lernen?
Ich denke, ja. Zwar ist auch das orthodoxe Judentum vor Gesetzlichkeit nicht gefeit. Und doch herrscht dort eine ganz andere Einstellung zu dem, was Gott gebietet. Das fängt schon mit dem hebräischen Wort Tora an. Denn die deutsche Übersetzung mit „Gesetz“ trifft es nicht wirklich. „Gesetz“ klingt nach starren, unpersönlichen Vorschriften. Die habe ich gefälligst einzuhalten oder ich werde bestraft.
Tora heißt aber eher so viel wie „Weisung“, und die ist nie losgelöst von Gott, der diese Weisung gibt. Sie ist etwas Persönliches, Lebendiges. Sie will nicht einengen und klein machen, sondern gute Ordnung für ein gelingendes Leben sein. Und sie will auch keine Maßstäbe setzen, die eh niemand erfüllen kann, sondern sie will, kann und darf getan werden. Warum das so ist, das sagt der heutige Predigttext, bei dem ich nun nach langem Anlauf angekommen bin – ein Abschnitt aus dem 5. Buch Mose, Kapitel 30:
Denn das Gebot, das ich dir heute gebiete, ist dir nicht zu hoch und nicht zu fern. Es ist nicht im Himmel, dass du sagen müsstest: Wer will für uns in den Himmel fahren und es uns holen, dass wir’s hören und tun? Es ist auch nicht jenseits des Meeres, dass du sagen müsstest: Wer will für uns über das Meer fahren und es uns holen, dass wir’s hören und tun? Denn es ist das Wort ganz nahe bei dir, in deinem Munde und in deinem Herzen, dass du es tust.
Genau das wird heute in und um die Synagogen fröhlich gefeiert. Gott ist mit seinem Wort, seinem Gebot, nicht irgendwo weit weg im Himmel oder im Jenseits, sondern hier bei mir. Ich kann es als Schriftrolle oder Buch in den Arm nehmen und ans Herz drücken. Aber das ist noch nicht alles: Das Wort ist in mir drin, ich trage es in meinem Herzen, es kommt über meine Lippen, und ich nehme es in meine Hände, damit ich tue, was es sagt. Und das liegt letztlich nicht daran, dass ich „meine Lust habe am Gesetz des Herrn und über seinem Gesetz sinne Tag und Nacht“, wie es der Psalm 1 sagt, obwohl viele fromme Juden das wortwörtlich tun. Sondern es liegt daran, dass Gott selber es mir ins Herz gelegt hat. Er hat das kleine Israel zu seinem Volk erwählt. Er hat es aus der Knechtschaft erlöst und in die Freiheit geführt. Er hat ihm seine Weisung gegeben, ja, es seiner Weisung gewürdigt, damit es danach in Freiheit leben kann. Und zu diesem Volk Gottes darf ich gehören und seine Weisung beherzigen im wahrsten Sinne des Wortes. Ist das nicht wunderbar? Ist das nicht ein Grund zum Feiern, zum Singen und Tanzen? Ja, ist das nicht der größte Grund zum Feiern überhaupt?
Jammerschade, dass uns Christen das so gänzlich abgeht. Dass „Gesetz“ für uns so einen negativen Klang hat. Dass wir das Judentum eine „Gesetzesreligion“ nennen und es damit abwerten. Denn recht verstanden gehören wir Christen doch auch zum Volk Israel. Paulus hat das, was in unserem Text von der Tora gesagt wird, im Römerbrief auf Jesus Christus gedeutet. Das ist natürlich sehr gewagt und würde einem nichtchristlichen Juden nie in den Sinn kommen. Und doch: Vom Ganzen des Neuen Testaments her gesehen hat er recht. Denn, so sagt es der Hebräerbrief, „nachdem Gott vorzeiten vielfach und auf vielerlei Weise geredet hat zu den Vätern durch die Propheten, hat er zuletzt in diesen Tagen zu uns geredet durch den Sohn.“ (Hebr 1,1) Und wie kann das Wort Gottes uns noch näher kommen als so, wie es Johannes ausdrückt: „Das Wort wurde Fleisch, und wir sahen seine Herrlichkeit.“ (Joh 1,14) Nein, wir müssen Gott und sein Wort nun wirklich nicht mehr mühsam irgendwo her holen; denn er ist zu uns gekommen in Jesus Christus. In ihm redet er zu uns von Mensch zu Mensch. Und wenn wir ihn unseren Herrn sein lassen, auf ihn unser Leben ausrichten, dann kehrt er mit Gottes Wort bei uns ein, kommt in unser Herz, kommt über unsere Lippen und setzt unsere Hände und Füße in Bewegung.
Wenn das geschieht, dann kehrt auch bei uns die Freude ein, „große Freude, die allem Volk widerfahren wird“, wie es der Engel den Hirten verkündigt. Oder wie es Paulus schreibt: „Freuet euch in dem Herrn allewege, und abermals sage ich: Freuet euch! … Der Herr ist nahe!“ (Phil 4,4) Wir bekommen Freude und Lust am Wort Gottes, das Jesus Christus heißt.
Aber was heißt das konkret? Wie äußert sie sich, diese Freude? Sollen wir jetzt auch mit der Bibel oder mit einem Jesus-Bild durch die Straßen tanzen? Mancher sieht das jetzt vielleicht schon vor sich und denkt: „Wie peinlich wär das denn?!“ Andererseits: Wenn uns wirklich danach ist, warum nicht? Die Welt hat schon Verrückteres gesehen!
Aber ich kann den reservierten Siegerländer in uns beruhigen: Auf Freudentänze kommt es nicht an. Worauf es allerdings ankommt, ist etwas anderes: „Das Wort ist ganz nahe bei dir, in deinem Munde und in deinem Herzen, dass du es tust.“ So endet unser Text. und das gilt, auch wenn das „Wort“ für uns nicht mehr Tora sondern Jesus Christus heißt. Denn, so sagt es Jesus selbst: „Es werden nicht alle, die zu mir sagen: Herr, Herr! in das Himmelreich kommen, sondern die den Willen tun meines Vaters im Himmel.“ Es gibt halt nichts Gutes, außer man tut es.
Wusst ich’s doch, denkt jetzt vielleicht mancher, jetzt kommt er doch noch, der moralische Zeigefinger! Aber wenn wir so denken, dann haben wir schon wieder die Freude vergessen. Wenn ich doch weiß, dass ich durch Christus zu Gott gehöre und nichts mehr mich von ihm trennen kann, dann muss mich doch niemand mehr lange ermahnen. Dann will ich doch ganz von selbst entsprechend leben und mich ihm dankbar erweisen – und das mit Lust und Liebe. Zumal das, was Gott uns durch Christus gebietet, auch nicht zu hoch und zu fern ist. Ich brauche nur an unseren Wochenspruch zu erinnern: „Dies Gebot haben wir von ihm, dass, wer Gott liebt, dass der auch seinen Bruder liebe.“ (1. Joh 4,21) Gott und den Nächsten lieben – das ist alles, auch wenn es vielfältige Konsequenzen hat – bis hinein in die Verästelungen unserer weltlichen Gesetzgebung. Deshalb werde ich damit auch mein Leben lang nie fertig werden. Aber wenn mir bewusst ist, wie sehr Gott mich liebt und was ihn das gekostet hat, dann werde ich nicht mehr zögern damit anzufangen. Und dann werde ich merken: Es ist gar nicht so schwer, wie ich gedacht habe. Denn der liebende Gott zeigt mir den Weg und geht ihn mit. Und dann bin ich auch so ein Baum, gepflanzt an den Wässerbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit und dessen Blätter nicht verwelken. (Ps 1,3) Amen.
Ihr Pastor Martin Klein