Predigt Tal- und Wenschtkirche, Karfreitag, 7. April 2023

Gottesdienst für den Karfreitag

Text: Kol 1,12-20

Mit Freuden sagt Dank dem Vater, der euch tüchtig gemacht hat zu dem Erbteil der Heiligen im Licht. Er hat uns errettet aus der Macht der Finsternis und hat uns versetzt in das Reich seines geliebten Soh­nes, in dem wir die Erlösung haben, nämlich die Vergebung der Sün­den.

Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes,
der Erstgeborene vor aller Schöpfung.
Denn in ihm ist alles geschaffen,
was im Himmel und auf Erden ist,
das Sichtbare und das Unsichtbare,
es seien Throne oder Herrschaften,
es seien Mächte oder Gewalten;
es ist alles durch ihn und zu ihm hin geschaffen.
Und er ist vor allem, und es besteht alles in ihm.
Und er ist das Haupt des Leibes, nämlich der Gemeinde.
Er ist der Anfang,
der Erstgeborene von den Toten,
auf dass er in allem der Erste sei.Denn in ihm gefiel es Gott mit seiner ganzen Fülle zu wohnen
und durch ihn alles zu versöhnen zu ihm hin,
es sei auf Erden oder im Himmel,
indem er Frieden machte durch sein Blut am Kreuz.

Ein Kreuz ist ein sehr schlichter Gegenstand: ein Balken längs, ein Balken quer, ein paar Stricke oder Nägel – fertig ist das Hinrich­tungs­instrument. Vielleicht war es deshalb so beliebt bei den alten Römern: einfach in der Herstellung, brutal in der Anwendung, ab­schreckend in der Wirkung, effektiv in der Beseitigung von Aufrüh­rern, entlaufenen Sklaven und anderem Abschaum. Es klebte Blut an den Kreuzen des Imperiums, und das sollte auch so sein.

Und dann das: Ausgerechnet dieses tödliche Folterwerkzeug steht hier am Ende eines feierlichen Lobgesangs. Er preist in den höchsten Tönen ein Geschehen, das buchstäblich das ganze Universum um­fasst. Er verehrt Christus als das ewige Ebenbild Gottes. Er sagt von ihm, dass er schon vor dem Anfang aller Dinge da war. Dass durch ihn und auf ihn hin die ganze Welt erschaffen wurde. Und dass in ihm Gott mit seiner ganzen Fülle unter uns war, um den Tod zu besie­gen und der ganzen Welt Versöhnung und Frieden zu bringen. Kaum ein anderer Abschnitt des Neuen Testaments nimmt den Mund so voll, wenn es um Jesus Christus geht. Kaum einer hebt so stark hervor, dass es wirklich Gott war, der in Jesus Christus Mensch wurde.

Und dann dieses ärgerliche Ende: „durch sein Blut am Kreuz“. Das passt nicht zu der gehobenen hymnischen Sprache und erst recht nicht zum Inhalt. Es klingt, als ob man einen erfolgreichen Aufsteiger auf dem Gipfel seines Ruhmes an seine Herkunft aus der Gosse erin­nert – nur noch viel schlimmer. Es bringt uns dazu, dass wir uns das „Ebenbild des unsichtbaren Gottes“ als geschundenen, blutüber­ström­ten Leichnam an zwei gekreuzten Holzbalken vorstel­len. Was für ein schrecklicher, was für ein unmöglicher Gedanke!

Viele Ausleger sind der Meinung, dass der Kolosserbrief hier einen überlieferten urchristlichen Hymnus zitiert. Die Worte „durch sein Blut am Kreuz“ hätte dann der Verfasser, ein Schüler des Apostels Paulus, selber hinzugefügt. Das könnte erklären, warum hier etwas nicht so recht zusammenpasst. Aber warum macht der Briefschrei­ber das? Was war ihm an dem Wort vom Kreuz so wichtig, dass er damit die Harmonie des Textes stört?

Ich gebe die Frage sofort an uns weiter: Warum machen wir es im­mer noch so? Warum ist uns eine grausame Hinrichtung, die vor fast 2000 Jahren geschehen ist, so wichtig, dass wir ihr einen unserer wichtigsten Feiertage widmen? Und überhaupt: Was ist das für eine Religion, die einen brutalen Todesfall ins Zentrum ihres Glaubens stellt? Was ist das für ein Gott, der anscheinend ein blutiges Opfer braucht, um den Menschen ihre Sünden zu vergeben? Geht es nicht auch ohne Opfertod? Kann man nicht einfach so an einen Gott glau­ben, der die Welt geschaffen hat, der die Menschen liebt und der dem Tod nicht das letzte Wort lässt? Und wenn es um Jesus geht: Muss da denn immer sein Leiden und Sterben im Mittelpunkt ste­hen? Reicht nicht seine Botschaft vom Vater im Himmel, der den Menschen nah sein will? Reichen nicht seine Worte und Taten als Vorbild für ein Leben, das nach Frieden und Gerechtigkeit trachtet? Und wenn wir schon über das Irdische hinaus streben: Sollte das Ziel dann nicht eben das sein, wovon der Hymnus ohne Zusatz redet: eine kosmische Harmonie, in der alles mit allem versöhnt ist?

Heute fragen viele so – wenn sie das Thema überhaupt noch interes­siert. Entsprechend können nur noch Wenige mit dem Karfrei­tag etwas anfangen. Man freut sich zwar, dass er das Osterwo­chenende nach vorn verlängert, aber warum man da nicht tanzen und Party machen darf, das versteht keiner mehr. Und wenn wir uns heute hier um­schauen, merken wir, dass selbst viele Chris­ten lieber erst zu Ostern in die Kirche gehen. Der Karfreitag hat es inzwischen auch bei uns Evangelischen schwer – obwohl er doch mal als unser höchster Feier­tag galt.

Trotzdem kann ich es nicht lassen, ebenso wenig wie der Verfasser des Kolosserbriefs. Auch ich muss die Glaubens-Harmonie stören, die viele Menschen sich zurechtgelegt haben. Auch ich muss dazwi­schen funken mit dem ärgerlichen, unappetitlichen Wort vom Kreuz. Denn ich bin Realist. Ich nehme die Wirklichkeit ernst. Und diese Wirklichkeit ist eben immer noch so brutal und grausam wie zur Zeit der alten Römer. Ich denke zum Beispiel an die Toten von Butscha – einfach so auf der Straße erschossen von russischen Solda­ten. Ich denke an Menschen wie Mahsa Amini – zu Tode misshan­delt von iranischen Polizisten, weil ihr Kopftuch nicht richtig saß. Und ich denke auch an den unfassbaren Mord an Luise aus Freuden­berg, begangen von zwei gleichaltrigen Mädchen.

Für all das und noch mehr steht das Kreuz. Und es steht dafür, dass Gott sich in Jesus mitten hinein begeben hat in diese Wirklichkeit – „mit seiner ganzen Fülle“, wie der Kolosserbrief betont, also nicht nur mit dem kleinen Finger, sondern voll und ganz. Gott hat mitgelit­ten, als Jesus gelitten hat. Er hat am eigenen Leib erfahren, wie es ist, von Freunden verraten und im Stich gelassen zu werden. Er weiß, wie das ist, wenn man gefesselt und geschlagen, verhöhnt und verspottet wird. Er kennt die Todesangst und die Verzweiflung. Und am Ende war er tot, wie wir alle es einmal sein werden: „gekreu­zigt, gestorben und begraben“.

Wir tun uns schwer damit, das auszuhalten. „Gott ist tot“, denken wir, das sagen doch eher die Atheisten! Für uns ist Gott doch der Ewige und der Lebendige. Kann der denn sterben? Das geht doch gar nicht!

Trotzdem hängt für unseren Glauben alles daran, dass es so und nicht anders gewesen ist. Denn wenn Gott nicht mit Jesus gestorben ist, dann ist er auch nicht in ihm Mensch geworden. Und wenn Gott nicht Mensch geworden ist, dann war Jesus einer wie du und ich, und sein Tod hat keine größere Bedeutung als der Tod jedes ande­ren Men­schen. Und erst recht kann man dann nicht mehr sagen, dass Jesus als Opfer für unsere Schuld starb. Denn ein Mensch wie du und ich kann nicht die Sünde der Welt tragen. Und selbst wenn es einer könnte: Gott will das nicht! Menschenopfer sind ihm ein Gräuel. Er muss kein Blut sehen, damit er von seinem Zorn ablässt und sich mit uns versöhnt.

Nein, Vergebung und Versöhnung geschieht nur, wenn sie von Gott ausgeht. Gott liebt diese Welt, denn er hat sie erschaffen. Und er liebt auch die Menschen, obwohl durch sie das Böse in die Welt ge­langt ist, obwohl sie aus Gottes guter Schöpfung eine Wirklichkeit gemacht haben, in der der Tod regiert, in der Gewalt und Zerstörung herrschen, Leid und Kummer, Angst und Verzweiflung.

Gott könnte das den Menschen natürlich einfach so sagen: Schlimm, was ihr aus meiner Welt gemacht habt, aber ich hab euch trotzdem lieb. Doch dann bliebe die Wirklichkeit immer so, wie sie ist. Dann wären alle hymnischen Lobgesänge auf den Frieden und die Versöh­nung nichts als Worte ohne Wert. Dann wäre der Verweis auf Got­tes Liebe bestenfalls billige Vertröstung. Wer sich damit zufrieden gäbe, würde sich etwas vormachen und wäre blind für die Realität. Und wir könnten den Karfreitag getrost abschaffen, Ostern und Weih­nachten gleich mit.

Aber Gott hat sich anders entschieden, und dafür sei er nun wirklich gelobt und gepriesen! Er hat seiner Liebe nicht nur Worte, sondern Taten folgen lassen. Er hat unsere Wirklichkeit auf sich genommen – mit allem, was uns darin von ihm trennt. Er hat unser Leid erlitten und ist unseren Tod gestorben. Und damit hat er wirklich alle und alles mit sich versöhnt, hat wirklich Frieden gemacht zwischen Him­mel und Erde – nicht an der Wirklichkeit vorbei, sondern mitten durch sie hindurch. Denn wenn Gott stirbt, er, der Schöpfer allen Lebens, dann geht das nicht böse aus für Gott, sondern für den Tod. Dann ist die Macht des Todes gebrochen. Dann ist Christus wirklich der „Erstgeborene von den Toten“. Dann ist an Karfreitag schon Ostern. Und dann können wir jetzt schon leben, befreit, versöhnt, in Frieden mit Gott und mit uns selbst.

Aber rede ich jetzt nicht auch an der Wirklichkeit vorbei? Wenn die Menschheit, ja die ganze Welt achon mit Gott versöhnt ist, warum ist sie dann immer noch wie sie ist? Warum wird da immer noch misshandelt und gemordet, gelitten und gestorben? Warum sehen wir nichts von dem Frieden, den Gott mit uns geschlossen hat?

Ich kann den Einwand nicht einfach vom Tisch wischen. Ich fürchte, ich muss weiter mit dieser Anfechtung leben. Aber es gibt etwas, das mir dabei hilft. Und das hat mit der zweiten Ergänzung zu tun, die der Verfasser des Kolosserbriefes zu dem überlieferten Hymnus gemacht hat. „Er ist das Haupt des Leibes“, hieß es da von Jesus Christus. Und gemeint war mit dem Leib wohl die Schöpfung. Aber wie bei der Ergänzung des Kreuzes ist der Verfasser auch hier ein treuer Schüler des Apostels Paulus. Denn wie Paulus deutet er den „Leib Christi“ auf die Ge­meinde, auf die Gemeinschaft der Glauben­den. Auch sie ist wahrlich nicht vollkommen. Und doch wird in ihr greifbar und konkret, was der Hymnus von Versöhnung und Frieden sagt. Hier treffen sich Christen zum Abendmahl, feiern es gemein­sam mit ihrem Herrn und Haupt als Mahl der Versöhnung – auch heute in diesem Gottesdienst. Und hier können Christen gemein­sam Zeichen setzen für den Frie­den, den Gott schon mit uns geschlossen hat. Zum Beispiel, indem sie den Opfern der Gewalt beistehen, so gut sie können. Aber auch indem sie deutlich machen, dass unter dem Kreuz Jesu nicht nur die Opfer Platz haben, sondern auch die Täter [W: so wie der Brudermör­der Kain auf dem Altarbild dort hin­ten] – zumal sich Täter und Opfer ohnehin oft nicht säuber­lich tren­nen lassen. Durch Chris­tus hat Gott alles mit sich versöhnt, heißt es in unserem Text. Was das bedeutet, haben wir noch lange nicht ausgelo­tet – nicht in Gedan­ken und erst recht nicht mit Taten.

Ein Kreuz ist ein sehr schlichter Gegenstand, damit habe ich ange­fan­­gen. Ein schlichter Gegenstand, der für eine grausame Wirklich­keit steht. Aber einmal, ein einziges Mal stand genau so ein Kreuz im Zentrum des Universums – als Verbindung zwischen Him­mel und Erde, zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Gott und Mensch. Und dieses Kreuz, an dem Jesus starb, bedeutet für uns schlichtweg alles. Davon können und dürfen wir als Christen niemals schweigen. Denn im Zeichen dieses Kreuzes leben wir. Amen.

Ihr Pastor Martin Klein