Predigt Tal- und Wenschtkirche, 9. August 2015

Text: Mk 12,28-34

Und es trat zu Jesus einer von den Schriftgelehrten, der ihnen zuge­hört hatte, wie sie miteinander stritten. Und als er sah, dass er ihnen gut geantwortet hatte, fragte er ihn: „Welches ist das höchste Gebot von allem?“

Jesus aber antwortete ihm: „Das höchste Gebot ist das: »Höre, Is­rael, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von gan­zem Verstand und von allen deinen Kräften« (5.Mose 6,4-5). Das andre ist dies: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (3.Mose 19,18). Es ist kein anderes Gebot größer als diese.“

Und der Schriftgelehrte sprach zu ihm: „Meister, du hast wahrhaftig recht geredet! Er ist nur einer, und ist kein anderer außer ihm; und ihn lieben von ganzem Herzen, von ganzer Vernunft und von allen Kräften, und seinen Nächsten lieben wie sich selbst, das ist mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer.

Als Jesus aber sah, dass er verständig antwortete, sprach er zu ihm: „Du bist nicht fern vom Reich Gottes.“ Und niemand wagte mehr, ihn zu fragen.

„Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“: für viele ist die­ser Satz die Mitte der Botschaft Jesu und der Kern der christlichen Reli­gion. Dabei stammt er gar nicht von Jesus, sondern aus dem Al­ten Testament, aus 3. Mose 19. Und unser Text macht wünschens­wert deutlich, dass es über dieses Thema zwischen Juden und Chris­ten keinen Streit gibt. Der Schriftge­lehrte kennt Ähnliches wie das, was Jesus sagt, aus anderen jüdi­schen Quellen. Deshalb stimmt er ihm ohne Vorbehalte zu. Und nicht nur Juden und Christen stimmen hier überein. „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, oder anders formuliert: „Was du willst, das man dir tut, das tu den andern auch“ – das können auch Muslime, Hindus und Buddhisten unterschrei­ben, und nichtreligiöse Humanisten ebenso. Wer von Nächsten­liebe spricht, wird also fast immer und fast überall zustimmendes Nicken ernten. Und wer tatsächlich konsequent seinen Nächsten liebt, darf sich der Anerkennung der ganzen Welt sicher sein. So gesehen ist es also um die Nächstenliebe bestens bestellt – oder?

Zwei Beispiele ganz verschiedener Art lassen mich daran zweifeln:

Das eine Beispiel: Ein unbestrittenes Vorbild der Nächstenliebe war Mut­ter Teresa, die „Mutter der Armen von Kalkutta“. Als sie vor achtzehn Jah­ren starb, bekam sie ein Staatsbegräbnis erster Klasse: ihr Sarg auf einer Geschützlafette, Militär in Gala-Uniform drum herum. Staatsgäste aus aller Welt auf den Tribü­nen. Auch ein großer Kranz vom Bundesaußenminister. Bewegte Nach­rufe und Lobeshym­nen in aller Welt. Nur die Armen von Kal­kutta, die muss­ten damals leider draußen bleiben. Für sie, nur für sie, war Mutter Teresa ihr Leben lang da gewesen. Jetzt schmückten sich andere mit ihrem Lorbeer. Heerscharen von zerlumpten Krüppeln hätten gar zu sehr das schöne Bild gestört.

Das andere Beispiel stammt aus meinem Pfarreralltag. Da bin ich zu Be­such bei einem älteren Ehepaar. Er liegt sterbenskrank im Kranken­haus, sie sitzt selbst schwer krank zu Hause. Nur ein Sohn kümmert sich um sie, aber der ist auch übel dran. Die anderen Kin­der, Geschwister, Nachbarn schauen weg: keine Zeit, kein Interesse, sollen doch selber sehen, wie sie klarkommen. Eine Putzfrau gibt es, aber die lässt sich jeden Handgriff extra auch extra bezahlen. Und der Antrag auf Pfle­gegeld wurde abge­lehnt. „Nächstenliebe?“ sagt mir die Frau, „Gibt’s nicht mehr!“

So sieht’s also tatsächlich aus. Statt der Nächstenliebe praktizieren viele von uns lieber die Fernstenliebe. Wir finden es toll, was Mutter Teresa in den Slums von Kalkutta getan hat. Wir bewundern Ärzte, die unter Lebensge­fahr gegen Ebola kämpfen. Wir ziehen den Hut vor einem wie Andreas Wörster von Utho Ngati, der sich im südli­chen Afrika selbstlos für Behinderte einsetzt. Und wir spenden viel Geld für solche Leute und ihre Organisationen. Aber um den Bettler in der Fußgängerzone machen wir einen Bogen. Menschen in Trauer behandeln wir oft, als hätten sie eine ansteckende Krankheit. Flücht­lingsunterkünfte hätten wir lieber nicht in unserer Nähe. Und schon ein Besuch bei der einsamen alten Frau nebenan kostet uns Überwin­dung.

Fern­stenliebe ist leicht; dafür reichen Geld und gute Worte, und von bei­dem haben wir ja reichlich. Wirk­liche Nächstenliebe ist viel schwe­rer: sie kostet Zeit, Kraft und Ner­ven, sie macht Arbeit, oft bringt sie auch Ärger. Und Gegenleistun­gen oder Erfolgserlebnisse gibt es auch nicht immer. Wer von Ihnen einen pflegebedürftigen Angehörigen hat oder hatte, kann da be­stimmt ein Lied von singen. So etwas nimmt keiner gern auf sich, der’s nicht muss.

Wir sehen also: Wenn wir uns mal wirklich klarmachen, was es heißt oder zumindest heißen kann, seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst, dann vergeht uns das selbstverständliche Nicken, wenn von Nächstenliebe die Rede ist. Und damit kommen wir dem tieferen Grund auf die Spur, warum wir Menschen wie Mutter Teresa so be­wundern: So wie sie für unsere Mitmenschen da sein, das könnten wir gar nicht, selbst wenn wir es woll­ten. Die Kraft dazu müsste uns wo­anders her kommen als aus uns selbst. Sonst würden entweder wir selber bald zusammenbrechen oder unser Mitgefühl würde sich verflüchtigen.

Um auf die Kraftquelle der Nächstenliebe zu stoßen, müssen wir sie wie­der in ihren Zusammenhang stellen. Denn in der Antwort Jesu an den Schrift­gelehrten geht ja noch was Entscheidendes voraus: „Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Verstand und von allen deinen Kräften.“ Das ist das erste Gebot, die Nächstenliebe ist erst das zweite.

Auch dieses Gebot hat nicht Jesus erfunden. Es ist das Glaubensbe­kenntnis des Volkes Israel. Durch Jesus ist es auch das Bekenntnis der Christen gewor­den. Und an diesem Bekenntnis ist nun eins ganz entschei­dend: Am Anfang steht nicht die Forderung, nicht das „du sollst“, sondern ein Zu­spruch: „Der Herr ist unser Gott, der Herr al­lein.“ Nicht Israel hat den Herrn zu seinem Gott er­hoben, sondern der Herr hat Israel zu seinem Volk gemacht. Er hat es aus der Sklave­rei in Ägypten befreit, und er hat ihnen das Land geschenkt, in dem sie leben können. Und für uns Christen gilt das Gleiche: Nicht wir haben diesen Gott Israels zu unserem Gott gemacht, sondern Gott hat durch Jesus Christus allen Menschen den Zugang zu sei­nen Verhei­ßungen an Israel eröffnet. Warum tut er das alles? Weil er Is­rael, weil er alle Menschen liebt. Weil er möchte, dass die Men­schen, die er geschaffen hat, ihm nahe sind und ihm Antwort geben und dann auch entsprechend handeln. [Minas Taufspruch,] unsere Jahreslosung für 2015 sagt das so: „Nehmt einander an, so wie Chris­tus euch angenommen hat, zu Gottes Lob.“

Damit fängt also alles an: dass Christus mich annimmt, dass Gott mich lieb hat. [Mina, Mia, Romy und Dominik haben das heute mit ihrer Taufe zugespro­chen bekommen]. Und wir können und müssen nichts dazu tun, sondern dürfen es einfach für uns wahr sein lassen.

Erst dann kommt das „du sollst“. Und zwar zuerst: „Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Verstand und mit all deinen Kräften“. Das heißt ganz einfach: Ich soll und kann mich darauf verlassen, dass Gott mich lieb hat, dass er mein Gott ist. Es heißt, dass ich ihn mit allem, was ich bin und habe, mei­nen Gott sein lasse. Und es heißt auch, dass ich mich selbst an­nehme, so wie ich bin, so wie Gott mich ange­nommen hat.

Und daraus folgt dann das zweite: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Das bedeutet: „Du sollst in deinen Mitmen­schen Menschen sehen, die Gott genauso liebt, wie er dich lieb hat.“ Und wo immer Chris­ten sich besonders für ihre Nächsten einsetzen und uns dadurch zu Vorbil­dern werden, ziehen sie daraus ihre Kraft. Nicht jeder von uns kann so werden wie sie. Nicht jeder kann alles aufgeben und sein ganzes Leben den Armen und Elenden widmen. Aber die Ein­stellung, die hinter einem solchen Leben steht, die kön­nen wir uns zu Eigen machen.

Vielleicht müssen wir dann nicht mehr mit ein bisschen Fernsten­liebe un­ser Gewissen be­ruhigen, sondern können bewusst auf die Menschen in unserer Nähe zugehen, die gerade unsere Hilfe drin­gend brauchen. Da gibt es ganz konkret zum Beispiel die Flüchtlinge in den Siegener Notunter­künf­­ten. Es gibt die Bedürftigen, die dem­nächst zum Mittagstisch im neu­en Gemeindezentrum kommen wer­den. Es gibt die Menschen in unserer Nachbarschaft, bei denen wir schon merken, was sie von uns brau­chen, wenn wir nur mit offenen Augen und wachem Verstand durch die Gegend laufen: die vernachläs­sigten Kinder, die alleinerziehenden Mütter, die vereinsam­ten Alten und andere mehr. Ich weiß, dass da auch schon viel geschieht, dass gerade auch für die Flüchtlinge im Moment sehr viel Hilfsbereitschaft da ist, und ich bin dankbar dafür. Aber wenn sich noch mehr Leute aufraffen würden, gäbe es noch viel Luft nach oben, ohne dass die, die schon viel tun, sich noch mehr verausgaben müssten.

Vielleicht sind es nur Kleinigkeiten, die wir für all die Menschen tun kön­nen, die unsere Nächsten sind und werden. Aber ich glaube, durch solche kleinen Taten der Nächstenliebe ändert sich mehr in uns und um uns herum als durch alle Predigten über Nächstenliebe und alle Spendenauf­rufe zusam­men. Probieren wir es einfach aus – Sie und ich! Denn es gibt nichts Gutes, außer man tut es. Amen.

Pfarrer Dr. Martin Klein