Predigt, Sonntag, 12. Juni 2022, ehemaliger Rollschuhplatz Wenscht

ÖKUMENISCHER GOTTESDIENST ZUM WENSCHTER SIEDLERFEST

Text: Röm 11,33-36

Ich hab mir gedacht, ich stelle Ihnen und mir heute mal die „Gret­chenfrage“. Nicht eine von den politischen Fragen, die gern als „Gret­chenfragen“ tituliert werden, weil man bei ihnen ir­gendwie Farbe bekennen muss – zum Beispiel: „Sag, wie hältst du’s mit der Impfung oder mit Waffenlieferungen an die Ukraine?“ Nein, ich meine die Original-Gretchenfrage, die aus Goethes Faust, der Tragö­die erster Teil.

Da fragt das bewusste Gretchen ihren Ge­liebten, den hoch gelehrten Doktor Faust: „Nun sag: wie hast du’s mit der Religion? / Du bist ein herzlich guter Mann, / Allein, ich glaub, du hältst nicht viel davon.“ Faust, der Freidenker, versucht sich her­auszureden. Aber Gretchen lässt nicht locker. „Glaubst du an Gott?“ fragt sie weiter. Da gibt Faust schließlich Folgendes zur Ant­wort: „Wer darf ihn nennen / Und wer bekennen: / Ich glaub Ihn! Wer empfinden / Und sich unterwin­den / Zu sagen: Ich glaub Ihn nicht! / Der Allumfasser, der Allerhal­ter, Fasst und erhält er nicht / Dich, mich, sich selbst? / … Drängt nicht alles / Nach Haupt und Herzen dir / Und webt in ewi­gem Ge­heimnis / Unsichtbar-sichtbar neben dir? / Erfüll davon dein Herz, so groß es ist, / Und wenn du ganz in dem Gefühle selig bist, / Nenn es dann, wie du willst: / Nenn’s Glück! Herz! Liebe! Gott! Ich habe kei­nen Namen / Dafür! Gefühl ist alles; / Name ist Schall und Rauch.“ Ich weiß nicht, ob Gretchen das alles verstanden hat, aber auf jeden Fall ist sie mit der Antwort leidlich zufrieden: „Das ist alles recht schön und gut; / Un­gefähr sagt das der Pfarrer auch, / Nur mit ein bisschen andern Wor­ten.“

Dieses Gespräch zwischen Faust und Gretchen passt gut zu der Art und Weise, wie es heute viele Menschen mit der Religion halten. Im­mer noch glauben die meisten hierzulande an Gott oder zumindest an eine höhere Macht. Aber sie lassen sich darüber von niemandem mehr Vorschriften machen, erst recht von kei­ner Kir­che. Sie reimen sich ihren Glauben selbst zusammen, und dabei schöpfen sie aus ganz verschiedenen Quellen – christ­lichen, aber auch anderen. Auch für sie ist Glaube in erster Li­nie ein Gefühl, keine Sammlung von Aussagen, die man für wahr hält. Und wenn sie zu den knapp 50% gehören, die noch Mitglieder einer christlichen Kirche sind, dann dann verstehen sie ihren Glauben eben als ihre per­sönliche Art des Christ-Seins ist, auch wenn er vielleicht nur hier und da mit dem christli­chen Glau­bensbekennt­nis übereinstimmt. Auch ihnen reicht Gretchens Aus­kunft: „Ungefähr sagt das der Pfarrer auch, nur mit ein bisschen an­dern Worten.“

Das sieht der Pfarrer natürlich anders. Wenn ich in Gesprächen etwas über die Glaubensvorstellungen meiner Mitchristen erfahre, dann finde ich oft, dass das ganz und gar nicht das Gleiche ist, was ich auch sage und was die Bekenntnisse sagen, auf die ich verpflichtet bin. Viel Ast­rologie und Esoterik begegnet mir da, viel unverbindli­ches Gerede über „Gott in der Natur“ oder „Hauptsache, man ist ein guter Mensch“, aber nur wenig Bibel. Und doch muss ich es akzeptie­ren, wenn Menschen auf andere Weise glauben als ich selbst. Denn wenn sie nur nachsprechen würden, was ich ihnen vorsage, dann wäre es nicht wirklich ihr eigener Glaube. Jeder Mensch glaubt anders, weil alle Menschen verschieden sind. Und je selb­ständiger jemand auch in Glau­bensdingen ist, desto besser.

Trotzdem sehe ich eine Gefahr darin, dass wir es mit der Reli­gion immer individueller halten. Denn je verschiedener und unbestimm­ter das ist, was wir als Einzelne glauben, desto weniger können wir uns darüber austauschen. Und je weniger wir uns austau­schen, desto schwe­rer fällt es uns, unseren Glauben überhaupt in Worte zu fassen. Und je weniger wir unseren Glauben in Worte fas­sen können, desto mehr wird er zu einem unklaren Gefühl. Und je unkla­rer dieses Ge­fühl wird, desto mehr verflüchtigt es sich. Und mit ihm verflüchtigt sich das, was uns der Glaube an festem Halt und Gebor­genheit bieten könnte. Und je mehr Menschen es so ergeht, desto weniger Men­schen gibt es, die uns an das erinnern könnten, was uns verloren gegan­gen ist. Daraus ziehe ich den Schluss, dass es unge­heuer wich­tig ist, dass wir Christen uns über unseren Glauben austau­schen. Und dazu gehört für mich vor allem, dass wir uns auf den ge­meinsamen Ursprung unseres Glaubens besinnen. Dazu brau­chen wir die Bibel, und damit bin ich nach langem Anlauf beim Text meiner Pre­digt. Er steht im Brief des Apostels Paulus an die Chris­ten in Rom, Kapitel 11:

O welch eine Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Entscheidungen und uner­forsch­lich seine Wege! Denn wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen? Oder wer hat ihm etwas zuvor gege­ben, dass Gott es ihm vergelten müsste? Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.

Auch das ist, wenn man so will, eine Antwort auf die „Gretchen­frage“. Auf den ersten Blick ist sie der Antwort des Doktor Faust ziemlich ähnlich. Paulus bleibt anscheinend auch sehr allgemein und legt sich nicht fest. Er spricht von der Tiefe des Reichtums, der Weis­heit und der Erkenntnis Gottes – einer Tiefe, die kein Mensch auslo­ten kann. Er nennt das Handeln Gottes unbegreiflich und uner­forsch­lich. Kein Mensch kann Gottes Ge­danken lesen; keiner kann ihm Vor­schriften machen, wie er zu sein und sich zu verhalten hat; niemand kann mit Gott ins Geschäft kom­men. Paulus sagt auch wa­rum das so ist: „Von ihm und durch ihn und zu ihm hin sind alle Dinge.“ Das gilt auch für uns selbst: Gott hat uns geschaffen, er hält uns am Leben, er bestimmt das Ziel unseres Da­seins. Wie könnten wir je mehr von ihm begreifen als den winzigen Ausschnitt, den wir überschauen können? Es geht uns wie den Fi­schen: sie leben im Was­ser, vom Wasser und sind von Wasser umge­ben. Aber was das ist, Wasser, das könnten sie auch bei größerer Intelligenz weder erfas­sen noch beschreiben. Dazu müssten sie ja ihr Lebensele­ment verlassen und sich einen Standpunkt außerhalb davon suchen. Aber daran würden sie sterben.

Tja, was dann? Wie sollen wir überhaupt von Gott reden, wenn uns doch die Worte fehlen, mit denen wir das tun könnten? Wie soll ich noch predigen, wenn ich über Gott eigentlich nur schweigen kann? Ich denke, wir können uns dabei von der Art und Weise leiten lassen, wie Paulus in unserem Predigttext von Gott spricht. Was er sagt, klingt trotz allem kein bisschen ratlos oder resi­gniert. Stattdessen hö­ren wir Ausrufe des Staunens, und alles mündet ein in Dank und Lob­preis: „Ihm sei Ehre in Ewigkeit!“

Was Paulus uns hier mitteilt, ist nicht das Ergebnis langen Nachgrü­belns über Gott und die Welt. Hier spricht vielmehr einer, der eine Menge mit Gott erlebt hat und der nicht anders kann, als davon zu reden. Und wo es ihm wie hier vor Staunen die Sprache verschlägt, da bleibt immer noch der Dank für die Erfahrungen, die Gott ihm ge­schenkt hat. Solche Erfahrungen kann man freilich nicht mit irgendei­nem höchsten Wesen machen, das nur in unseren Köpfen existiert. Paulus spricht von einem Gott, der den Menschen nahe ist: nicht nur im Kopf, sondern auch in Herzen, Mund und Händen. Er spricht von dem Gott, der in Jesus Christus selbst Mensch geworden ist, dem Gott, der von sich aus die Hindernisse überwunden hat, die uns von ihm trennen und die wir nicht überwinden können. Dass der „Allum­fasser und Allerhalter“ sich als schreiender Säugling in einen Futter­trog legen lässt, dass er sich freiwillig der Vergänglichkeit preis­gibt, um für uns den Tod zu überwinden, das hätte in der Tat kein Philo­soph sich auszudenken gewagt. Wo bleiben denn da Ver­nunft und Logik? Dass Gott alle Menschen so liebt und annimmt, wie sie sind, und das ohne die geringste Gegenleistung, das wäre keinem Religi­onsstifter je in den Sinn gekommen. Wo bleibt denn da die Moral, das „immer strebend sich Bemühen“, um noch mal den Faust zu zitieren?

Das alles kann man als vernünftiger Mensch in der Tat nur für völlig verrückt halten, für „verworrenen Quark“, wie Goethe sagt. Es sei denn, man lässt es für sich wahr sein. Es sei denn, man entdeckt, wie befreiend und belebend diese verrückte Botschaft ist, wie sie Trost schenken kann im Leben und im Sterben. Dann entdeckt man die Kraft, die darin steckt, die Kraft Gottes, die uns aufrichtet und Halt gibt. Auch dann wissen wir nicht einfach Bescheid über Gott. Auch dann bleiben seine Tiefen unausgelotet, seine Entscheidungen unbe­greiflich und seine Wege unerforschlich. Und natürlich wirft das Fragen auf: Warum lässt Gott dieses zu und verhindert jenes nicht? Warum sorgt er nicht dafür, dass in der Welt endlich alles gut wird? Diese Fragen haben ihr Recht. Aber wir müssen uns damit nicht mehr quälen oder achselzuckend resignieren. Wir können uns an das halten, was in Jesus von Gott offenbar geworden ist und was uns in der Bibel davon überliefert wird. Mehr brauchen wir nicht. Darin finden wir genug Gewissheit für unseren Glauben und Erfüllung für unser Leben. Und wenn wir an dieser Grundlage unseres Glaubens festhalten, dann bleibt uns auch eine gemeinsame Basis, auf der wir uns austauschen können. Dann können wir uns gegenseitig berei­chern, und wir können uns helfen, dass unser Glaube in uns Wur­zeln schlägt und gedeiht und nicht in nebulösen Gefühlen verkümmert. Und weil unsere Kirchen trotz ihrer Fehler und Schwächen dafür, glaube ich, immer noch eine gute Basis bieten, hat es Sinn, wenn man dabei bleibt.

Eine kleine jüdische Anekdote sagt zum Thema folgendes:

Der Rabbi sprach einen Schüler, der eben bei ihm eintrat, so an: „Mosche, was ist das, ‘Gott’?“ Der Schüler schwieg. Der Rabbi fragte zum zweiten und zum dritten Mal. Weiteres Schweigen. „Wa­rum schweigst du?“, fragte der Rabbi da. – „Weil ich es nicht weiß“, ant­wortete der Schüler. „Weiß ich’s denn?“ sprach der Rabbi. „Aber ich muss sagen; denn so ist es, dass ich es sagen muss: Er ist deutlich da, und außer ihm ist nichts deutlich da, und das ist er.“

Soweit die Anekdote. Gott ist deutlich da – diesen Satz kann ich über­nehmen. Als Christ glaube ich, dass Gott in Jesus deutlich da ist, auch dort, wo ich nichts von ihm spüre. Wenn ich die Antwort des jüdischen Rabbi so verstehe, dann muss ich ihr nichts mehr hinzufü­gen und kann für heute aufhören. Amen.

Ihr Pastor Martin Klein