ÖKUMENISCHER GOTTESDIENST ZUM WENSCHTER SIEDLERFEST
Text: Röm 11,33-36
Ich hab mir gedacht, ich stelle Ihnen und mir heute mal die „Gretchenfrage“. Nicht eine von den politischen Fragen, die gern als „Gretchenfragen“ tituliert werden, weil man bei ihnen irgendwie Farbe bekennen muss – zum Beispiel: „Sag, wie hältst du’s mit der Impfung oder mit Waffenlieferungen an die Ukraine?“ Nein, ich meine die Original-Gretchenfrage, die aus Goethes Faust, der Tragödie erster Teil.
Da fragt das bewusste Gretchen ihren Geliebten, den hoch gelehrten Doktor Faust: „Nun sag: wie hast du’s mit der Religion? / Du bist ein herzlich guter Mann, / Allein, ich glaub, du hältst nicht viel davon.“ Faust, der Freidenker, versucht sich herauszureden. Aber Gretchen lässt nicht locker. „Glaubst du an Gott?“ fragt sie weiter. Da gibt Faust schließlich Folgendes zur Antwort: „Wer darf ihn nennen / Und wer bekennen: / Ich glaub Ihn! Wer empfinden / Und sich unterwinden / Zu sagen: Ich glaub Ihn nicht! / Der Allumfasser, der Allerhalter, Fasst und erhält er nicht / Dich, mich, sich selbst? / … Drängt nicht alles / Nach Haupt und Herzen dir / Und webt in ewigem Geheimnis / Unsichtbar-sichtbar neben dir? / Erfüll davon dein Herz, so groß es ist, / Und wenn du ganz in dem Gefühle selig bist, / Nenn es dann, wie du willst: / Nenn’s Glück! Herz! Liebe! Gott! Ich habe keinen Namen / Dafür! Gefühl ist alles; / Name ist Schall und Rauch.“ Ich weiß nicht, ob Gretchen das alles verstanden hat, aber auf jeden Fall ist sie mit der Antwort leidlich zufrieden: „Das ist alles recht schön und gut; / Ungefähr sagt das der Pfarrer auch, / Nur mit ein bisschen andern Worten.“
Dieses Gespräch zwischen Faust und Gretchen passt gut zu der Art und Weise, wie es heute viele Menschen mit der Religion halten. Immer noch glauben die meisten hierzulande an Gott oder zumindest an eine höhere Macht. Aber sie lassen sich darüber von niemandem mehr Vorschriften machen, erst recht von keiner Kirche. Sie reimen sich ihren Glauben selbst zusammen, und dabei schöpfen sie aus ganz verschiedenen Quellen – christlichen, aber auch anderen. Auch für sie ist Glaube in erster Linie ein Gefühl, keine Sammlung von Aussagen, die man für wahr hält. Und wenn sie zu den knapp 50% gehören, die noch Mitglieder einer christlichen Kirche sind, dann dann verstehen sie ihren Glauben eben als ihre persönliche Art des Christ-Seins ist, auch wenn er vielleicht nur hier und da mit dem christlichen Glaubensbekenntnis übereinstimmt. Auch ihnen reicht Gretchens Auskunft: „Ungefähr sagt das der Pfarrer auch, nur mit ein bisschen andern Worten.“
Das sieht der Pfarrer natürlich anders. Wenn ich in Gesprächen etwas über die Glaubensvorstellungen meiner Mitchristen erfahre, dann finde ich oft, dass das ganz und gar nicht das Gleiche ist, was ich auch sage und was die Bekenntnisse sagen, auf die ich verpflichtet bin. Viel Astrologie und Esoterik begegnet mir da, viel unverbindliches Gerede über „Gott in der Natur“ oder „Hauptsache, man ist ein guter Mensch“, aber nur wenig Bibel. Und doch muss ich es akzeptieren, wenn Menschen auf andere Weise glauben als ich selbst. Denn wenn sie nur nachsprechen würden, was ich ihnen vorsage, dann wäre es nicht wirklich ihr eigener Glaube. Jeder Mensch glaubt anders, weil alle Menschen verschieden sind. Und je selbständiger jemand auch in Glaubensdingen ist, desto besser.
Trotzdem sehe ich eine Gefahr darin, dass wir es mit der Religion immer individueller halten. Denn je verschiedener und unbestimmter das ist, was wir als Einzelne glauben, desto weniger können wir uns darüber austauschen. Und je weniger wir uns austauschen, desto schwerer fällt es uns, unseren Glauben überhaupt in Worte zu fassen. Und je weniger wir unseren Glauben in Worte fassen können, desto mehr wird er zu einem unklaren Gefühl. Und je unklarer dieses Gefühl wird, desto mehr verflüchtigt es sich. Und mit ihm verflüchtigt sich das, was uns der Glaube an festem Halt und Geborgenheit bieten könnte. Und je mehr Menschen es so ergeht, desto weniger Menschen gibt es, die uns an das erinnern könnten, was uns verloren gegangen ist. Daraus ziehe ich den Schluss, dass es ungeheuer wichtig ist, dass wir Christen uns über unseren Glauben austauschen. Und dazu gehört für mich vor allem, dass wir uns auf den gemeinsamen Ursprung unseres Glaubens besinnen. Dazu brauchen wir die Bibel, und damit bin ich nach langem Anlauf beim Text meiner Predigt. Er steht im Brief des Apostels Paulus an die Christen in Rom, Kapitel 11:
O welch eine Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Entscheidungen und unerforschlich seine Wege! Denn wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen? Oder wer hat ihm etwas zuvor gegeben, dass Gott es ihm vergelten müsste? Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.
Auch das ist, wenn man so will, eine Antwort auf die „Gretchenfrage“. Auf den ersten Blick ist sie der Antwort des Doktor Faust ziemlich ähnlich. Paulus bleibt anscheinend auch sehr allgemein und legt sich nicht fest. Er spricht von der Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes – einer Tiefe, die kein Mensch ausloten kann. Er nennt das Handeln Gottes unbegreiflich und unerforschlich. Kein Mensch kann Gottes Gedanken lesen; keiner kann ihm Vorschriften machen, wie er zu sein und sich zu verhalten hat; niemand kann mit Gott ins Geschäft kommen. Paulus sagt auch warum das so ist: „Von ihm und durch ihn und zu ihm hin sind alle Dinge.“ Das gilt auch für uns selbst: Gott hat uns geschaffen, er hält uns am Leben, er bestimmt das Ziel unseres Daseins. Wie könnten wir je mehr von ihm begreifen als den winzigen Ausschnitt, den wir überschauen können? Es geht uns wie den Fischen: sie leben im Wasser, vom Wasser und sind von Wasser umgeben. Aber was das ist, Wasser, das könnten sie auch bei größerer Intelligenz weder erfassen noch beschreiben. Dazu müssten sie ja ihr Lebenselement verlassen und sich einen Standpunkt außerhalb davon suchen. Aber daran würden sie sterben.
Tja, was dann? Wie sollen wir überhaupt von Gott reden, wenn uns doch die Worte fehlen, mit denen wir das tun könnten? Wie soll ich noch predigen, wenn ich über Gott eigentlich nur schweigen kann? Ich denke, wir können uns dabei von der Art und Weise leiten lassen, wie Paulus in unserem Predigttext von Gott spricht. Was er sagt, klingt trotz allem kein bisschen ratlos oder resigniert. Stattdessen hören wir Ausrufe des Staunens, und alles mündet ein in Dank und Lobpreis: „Ihm sei Ehre in Ewigkeit!“
Was Paulus uns hier mitteilt, ist nicht das Ergebnis langen Nachgrübelns über Gott und die Welt. Hier spricht vielmehr einer, der eine Menge mit Gott erlebt hat und der nicht anders kann, als davon zu reden. Und wo es ihm wie hier vor Staunen die Sprache verschlägt, da bleibt immer noch der Dank für die Erfahrungen, die Gott ihm geschenkt hat. Solche Erfahrungen kann man freilich nicht mit irgendeinem höchsten Wesen machen, das nur in unseren Köpfen existiert. Paulus spricht von einem Gott, der den Menschen nahe ist: nicht nur im Kopf, sondern auch in Herzen, Mund und Händen. Er spricht von dem Gott, der in Jesus Christus selbst Mensch geworden ist, dem Gott, der von sich aus die Hindernisse überwunden hat, die uns von ihm trennen und die wir nicht überwinden können. Dass der „Allumfasser und Allerhalter“ sich als schreiender Säugling in einen Futtertrog legen lässt, dass er sich freiwillig der Vergänglichkeit preisgibt, um für uns den Tod zu überwinden, das hätte in der Tat kein Philosoph sich auszudenken gewagt. Wo bleiben denn da Vernunft und Logik? Dass Gott alle Menschen so liebt und annimmt, wie sie sind, und das ohne die geringste Gegenleistung, das wäre keinem Religionsstifter je in den Sinn gekommen. Wo bleibt denn da die Moral, das „immer strebend sich Bemühen“, um noch mal den Faust zu zitieren?
Das alles kann man als vernünftiger Mensch in der Tat nur für völlig verrückt halten, für „verworrenen Quark“, wie Goethe sagt. Es sei denn, man lässt es für sich wahr sein. Es sei denn, man entdeckt, wie befreiend und belebend diese verrückte Botschaft ist, wie sie Trost schenken kann im Leben und im Sterben. Dann entdeckt man die Kraft, die darin steckt, die Kraft Gottes, die uns aufrichtet und Halt gibt. Auch dann wissen wir nicht einfach Bescheid über Gott. Auch dann bleiben seine Tiefen unausgelotet, seine Entscheidungen unbegreiflich und seine Wege unerforschlich. Und natürlich wirft das Fragen auf: Warum lässt Gott dieses zu und verhindert jenes nicht? Warum sorgt er nicht dafür, dass in der Welt endlich alles gut wird? Diese Fragen haben ihr Recht. Aber wir müssen uns damit nicht mehr quälen oder achselzuckend resignieren. Wir können uns an das halten, was in Jesus von Gott offenbar geworden ist und was uns in der Bibel davon überliefert wird. Mehr brauchen wir nicht. Darin finden wir genug Gewissheit für unseren Glauben und Erfüllung für unser Leben. Und wenn wir an dieser Grundlage unseres Glaubens festhalten, dann bleibt uns auch eine gemeinsame Basis, auf der wir uns austauschen können. Dann können wir uns gegenseitig bereichern, und wir können uns helfen, dass unser Glaube in uns Wurzeln schlägt und gedeiht und nicht in nebulösen Gefühlen verkümmert. Und weil unsere Kirchen trotz ihrer Fehler und Schwächen dafür, glaube ich, immer noch eine gute Basis bieten, hat es Sinn, wenn man dabei bleibt.
Eine kleine jüdische Anekdote sagt zum Thema folgendes:
Der Rabbi sprach einen Schüler, der eben bei ihm eintrat, so an: „Mosche, was ist das, ‘Gott’?“ Der Schüler schwieg. Der Rabbi fragte zum zweiten und zum dritten Mal. Weiteres Schweigen. „Warum schweigst du?“, fragte der Rabbi da. – „Weil ich es nicht weiß“, antwortete der Schüler. „Weiß ich’s denn?“ sprach der Rabbi. „Aber ich muss sagen; denn so ist es, dass ich es sagen muss: Er ist deutlich da, und außer ihm ist nichts deutlich da, und das ist er.“
Soweit die Anekdote. Gott ist deutlich da – diesen Satz kann ich übernehmen. Als Christ glaube ich, dass Gott in Jesus deutlich da ist, auch dort, wo ich nichts von ihm spüre. Wenn ich die Antwort des jüdischen Rabbi so verstehe, dann muss ich ihr nichts mehr hinzufügen und kann für heute aufhören. Amen.
Ihr Pastor Martin Klein