Text: Joh 19,16-30
Sie nahmen nun Jesus, und er trug sein Kreuz und ging hinaus zur Stätte, die da heißt Schädelstätte, auf Hebräisch Golgatha. Dort kreuzigten sie ihn und mit ihm zwei andere zu beiden Seiten, Jesus aber in der Mitte. Pilatus aber schrieb eine Aufschrift und setzte sie auf das Kreuz; und es war geschrieben: „Jesus von Nazareth, der König der Juden.“ Diese Aufschrift lasen viele Juden, denn die Stätte, wo Jesus gekreuzigt wurde, war nahe bei der Stadt. Und es war geschrieben in hebräischer, lateinischer und griechischer Sprache. Da sprachen die Hohenpriester der Juden zu Pilatus: „Schreib nicht: Der König der Juden, sondern, dass er gesagt hat: Ich bin der König der Juden.“ Pilatus antwortete: „Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben.“
Als aber die Soldaten Jesus gekreuzigt hatten, nahmen sie seine Kleider und machten vier Teile, für jeden Soldaten einen Teil, dazu auch das Gewand. Das war aber ungenäht, von oben an gewebt in einem Stück. Da sprachen sie untereinander: „Lasst uns das nicht zerteilen, sondern darum losen, wem es gehören soll.“ So sollte die Schrift erfüllt werden, die sagt: »Sie haben meine Kleider unter sich geteilt und haben über mein Gewand das Los geworfen.« Das taten die Soldaten.
Es standen aber bei dem Kreuz Jesu seine Mutter, seiner Mutter Schwester, Maria, die Frau des Klopas, und Maria von Magdala. Als nun Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er lieb hatte, spricht er zu seiner Mutter: „Frau, siehe, das ist dein Sohn!“ Danach spricht er zu dem Jünger: „Siehe, das ist deine Mutter!“ Und von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.
Danach, als Jesus wusste, dass schon alles vollbracht war, spricht er, damit die Schrift erfüllt würde: „Mich dürstet.“ Da stand ein Gefäß voll Essig. Sie aber füllten einen Schwamm mit Essig und steckten ihn auf ein Ysoprohr und hielten es ihm an den Mund. Als nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach er: „Es ist vollbracht!“ und neigte das Haupt und verschied.
Ich muss gestehen: Ich habe mich lange darüber geärgert, wie das Johannesevangelium von der Kreuzigung Jesu berichtet. Die anderen Evangelien, vor allem Markus, schienen mir mit ihrer Darstellung viel näher an der Wirklichkeit: Jesus, der auf dem Weg nach Golgatha unter seinem Kreuzbalken zusammenbricht, von Misshandlungen geschwächt. Jesus, der zwischen Himmel und Erde hängt und von allen verlassen ist: von den Gaffern und Spöttern sowieso, aber auch von seinen Leidensgenossen links und rechts, von seinen Freunden, die sich alle verkrochen haben, und sogar von seinem Vater im Himmel. Jesus, dessen letzter Laut auf Erden kein wohlgesetztes Psalmwort ist, sondern ein wortloser Schrei. – Ja, so kann ich ihn mir vorstellen, den grausamen Tod des Jesus von Nazareth.
Bei Johannes dagegen verliert Jesus fast alle menschlichen Züge. Hier trägt er sein Kreuz betont selbst bis zur Hinrichtungsstätte. Hier muss Jesus keinen Spott und keine groben Späße auf seine Kosten erdulden. Stattdessen bleibt er bis zum Schluss Herr des Geschehens: Er trifft noch eine letztwillige Verfügung für seine Mutter und den Jünger, den er lieb hat. Er sagt nicht etwa deshalb „Mich dürstet“, weil er Durst hat, sondern „damit die Schrift erfüllt wird“. Seine letzten Worte sind nicht „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ sondern: „Es ist vollbracht“, Auftrag ausgeführt. Und er stirbt auch nicht einfach, sondern „neigt sein Haupt und übergibt seinen Geist“, wie es wörtlich heißt. Hier ist der Tod also ein bewusster Akt, mit dem Jesus sein irdisches Leben zurück in Gottes Hände legt.
Eine Liedstrophe, die Johann Sebastian Bach in seine Johannes-Passion aufgenommen hat, fasst das gut zusammen und macht es uns allen zum Vorbild: „Er nahm alles wohl in Acht / in der letzten Stunde: / seine Mutter noch bedacht, / setzt ihr ein’ Vormunde. / O Mensch, mache Richtigkeit, / Gott und Menschen liebe. / Stirb darauf ohn’ alles Leid / und dich nicht betrübe.“ Als Leitbild für ein christliches Hospiz geht das in Ordnung. Vielleicht auch als Ideal für ein freies, selbstbestimmtes Sterben, wie es heute immer öfter propagiert wird. Aber kann ein brutal gequälter Gekreuzigter so in den Tod gehen? So souverän und unangefochten, scheinbar „ohn’ alles Leid“? Wohl kaum!
Inzwischen denke ich allerdings anders über das Johannesevangelium. Zwar glaube ich immer noch, dass eine Video-Aufnahme der Kreuzigung Jesu uns ein völlig anderes Geschehen zeigen würde, wenn es sie denn gäbe. Aber der Wahrheit hinter dem, was da geschieht, würde uns eine solche Aufnahme nicht näher bringen. Wir wissen ja heute, wo aus jedem Krieg und von jeder Katastrophe live berichtet wird, wie wenig man den Kamera-Bildern trauen darf. Wie hätten sie da die Wahrheit eines Geschehens erfassen können, das nach christlicher Überzeugung Gott und die Welt umspannt. Wenn also die Kreuzigung Jesu tatsächlich mehr war als nur die Hinrichtung eines potentiellen Aufrührers – eine von vielen in der Amtszeit des Pontius Pilatus – dann erfahren wir es eher in den Evangelien als durch so genannte unabhängige Zeugen, selbst wenn wir sie hätten.
Und inzwischen ist mir auch deutlich geworden, dass Johannes sich höchstens graduell von den anderen Evangelien unterscheidet. Auch sie berichten nicht objektiv über den Tod Jesu, sondern deuten ihn im Sinne ihres Glaubens. Johannes konnte dabei noch einen Schritt weiter gehen, weil seine Leser die anderen Evangelien wohl schon kannten. Und erst recht wussten sie, anders als wir, aus eigener Anschauung, wie es zuging bei einer Kreuzigung. Die Römer sorgten schon dafür, dass jeder mit ansehen konnte, was ihm blühte, wenn er sich gegen ihre Herrschaft auflehnte. Die kurze Bemerkung „und sie kreuzigten ihn“ reichte den Lesern des Evangeliums also völlig, um die ganze Grausamkeit der Szene vor Augen zu haben: die gleichgültige Brutalität der Henkersknechte, die Nägel, die sie durch Hand- und Fußwurzeln schlugen, die entwürdigende Zurschaustellung, die nackten, verkrümmten Körper, schutzlos der Hitze oder Kälte ausgeliefert, die entsetzlichen Qualen, die sich über Tage hinziehen konnten, bevor die Gekreuzigten schließlich erstickten oder an völliger Entkräftung krepierten. Wenn Jesus gekreuzigt worden war, dann war es auch ihm so und nicht anders ergangen – das wusste in den ersten drei Jahrhunderten jeder Christ zwischen Atlantik und Euphrat.
Trotzdem ist der Evangelist überzeugt: hinter diesem brutalen Geschehen lief etwas ganz Anderes ab, ja sogar etwas völlig Entgegengesetztes. Anscheinend machten die Römer mit Jesus, was sie wollten, aber in Wahrheit war er selber der Handelnde, der am Ende sagen konnte: „Es ist vollbracht!“ Anscheinend bekamen die Hohenpriester, die Jesus verklagten, ihren Willen, aber in Wahrheit erfüllte sich hier der Wille Gottes, das, wozu Jesus überhaupt in die Welt gekommen war. Hier starb kein Verbrecher, der sich den Titel „König der Juden“ nur angemaßt hatte, sondern gerade indem er starb, erwies sich Jesus tatsächlich als der König der Juden, der Messias Israels. Seine Dornenkrone wurde zum Siegeskranz, seine tiefste Niedrigkeit zur Verherrlichung, sein Tod zum ewigen Leben für alle, die an ihn glauben.
Und darauf kommt es nun an: dass wir das glauben können, was Johannes uns sagt. Dass wir den Karfreitag noch feiern, macht nur Sinn, wenn er für uns nicht nur der Todestag des Menschen Jesus ist. Es macht nur Sinn, wenn wir glauben, dass Gott den Tod Jesu mit gestorben ist, um die Macht des Todes ein- für allemal zu brechen. Denn wenn Menschen sterben, hat der Tod gewonnen – egal ob sie jung oder alt sind, egal, ob sie ihren letzten Atemzug in weißen Kissen tun oder in Dreck und Blut nach einem Bombenangriff. Wenn aber Gott stirbt, und zwar nicht, weil die Menschen ihn für tot erklären, sondern weil er die Menschen so sehr liebt, dass er sein Leben für sie lässt, dann geht das nicht für Gott böse aus, sondern für den Tod – und für alle, die sein Geschäft betreiben. Nichts anderes ist die Überzeugung des Johannesevangeliums: als Jesus starb, starb Gott mit ihm, denn er und der Vater sind eins.
Diese Sätze sind für uns schwer zu verdauen. Denn wir sind es ja gewohnt, Gott für unsterblich zu halten. Gott und der Tod – das geht für uns nicht zusammen. Aber wir glauben auch, und daran liegt uns sehr viel, dass Gott die Liebe ist. Und ich denke, wir geben Johannes Recht, wenn er Jesus zu seinen Jüngern sagen lässt: „Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde.“ Das gilt schon unter Menschen, und es gilt erst recht für Gott. Wir sind Gottes Freunde: er will, dass wir auf ewig zu ihm gehören. Und wenn der Tod, der uns dabei im Weg steht, nicht anders zu besiegen ist, als dass er ihn selber auf sich nimmt, dann geht er diesen Weg, wird in Jesus Christus Mensch und akzeptiert die Folgen, bis „alles vollbracht“ ist. Es liegt schon ein Stück Ostern in diesem letzten Wort Jesu am Kreuz, eine Siegesbotschaft mitten in der tiefsten Niederlage. Menschlich gesehen ist das absurd, aber wenn es wirklich der Sohn Gottes ist, der hier „es ist vollbracht“ sagt, dann ist das wahrer als alles, was wir sonst über den Tod Jesu wissen könnten.
Dass es so ist, das kann ich natürlich niemandem aufzwingen oder andemonstrieren. Ich kann nur eins sagen: Wenn es nicht so wäre, dann bliebe die Realität des Todes in dieser Welt für mich unerträglich. Ich müsste dann verzweifeln darüber, dass Kinder vor ihren Eltern sterben, dass Menschen durch Unfälle oder Krankheiten mitten aus dem Leben gerissen werden, dass jemand sich umbringt und dabei 149 Menschen mit in den Tod reißt. Ich müsste verzweifeln darüber, dass immer noch so viele Menschen verhungern oder an Seuchen sterben, obwohl es eigentlich Nahrung und Medikamente genug für alle gibt. Ich müsste verzweifeln über die Despoten, die ihre Herrschaft auf Tod und Schrecken gründen, über die besessenen Fanatiker, die es für ein todeswürdiges Verbrechen halten, wenn jemand anders denkt oder glaubt als sie selber. Ich müsste verzweifeln über alle, die bereit sind, das Lebensrecht irgendeines Menschen angeblich höheren Interessen zu opfern. Und ich müsste auch verzweifeln an meinem Beruf, der mich immer wieder an Sterbebetten und Gräber führt. Was hätte ich da noch zu sagen, wenn der Tod über uns das letzte Wort behielte? Was würde es bringen, bei Trauerfeiern an all die unvollendeten Lebensläufe zu erinnern, wenn nicht einer für uns vollbracht hätte, was wir selbst nicht zu Ende bringen können? Für uns führt kein Weg aus dem Tod, es sei denn wir begegnen dort dem Gott, der in Jesus Christus für uns gestorben und auferstanden ist.
Weil ich davon überzeugt bin, gebe ich zum Schluss das Wort noch einmal an Johann Sebastian Bach. Denn er hat für mein Empfinden die Johannes-Passion besser verstanden als viele gelehrte Theologen vor und nach ihm. Die Worte „und neiget das Haupt und verschied“ legt er mit einer Bass-Arie aus, die folgenden Text hat: „Mein teurer Heiland, lass dich fragen, / da du nunmehr ans Kreuz geschlagen / und selbst gesagt: Es ist vollbracht: / Bin ich vom Sterben frei gemacht? / Kann ich durch deine Pein und Sterben / das Himmelreich ererben? Ist aller Welt Erlösung da? / Du kannst vor Schmerzen zwar nichts sagen, / doch neigest du das Haupt / und sprichst stillschweigend: Ja.“ Und der Chor singt dazu die Choralstrophe: „Jesu, der du warest tot, / lebest nun ohn’ Ende. / In der letzten Todesnot nirgend mich hinwende / als zu dir, der mich versühnt, / o du lieber Herre! / Gib mir nur, was du verdient, / mehr ich nicht begehre!“ Dass er es auch uns geben möge, das wünsche ich uns allen. Amen.
Pfr. Dr. Martin Klein