Predigt GZ „mittendrin“ und Wenschtkirche, Sonntag, 2. März 2025

Gottesdienst für den Sonntag Estomihi

Text: Lk 10,38-42

Wenn ich ältere Gemeindeglieder zum Geburtstag besuche, rechnen die meisten ja schon mit mir. Manche allerdings auch nicht. In sol­chen Fällen löse ich durch mein Erscheinen schon mal ungewollt hektische Betrieb­samkeit aus. „Ach du Schreck“, denkt dann das – meist weibli­che – Geburtstagskind, „der Pastor kommt, und ich bin doch noch gar nicht fein gemacht und hab noch nichts vorbereitet!“ Und dann heißt es: „Ach, Herr Pastor, das ist aber eine Überra­schung! Legen Sie doch ab und gehen Sie schon mal ins Wohnzim­mer! Ich mach nur schnell Kaffee und ein paar belegte Brötchen – oder möch­ten Sie lie­ber Ku­chen? Der war aber ein bisschen zu lang im Ofen – kann ich Ihnen eigentlich nicht anbieten. Bitte, nehmen Sie doch Platz! Darf ich Ihnen solange ein Gläschen Sekt anbieten oder ein Schnäps­chen viel­leicht? Ach, Sie müssen ja noch fahren – na dann vielleicht ein Glas Saft, oder lieber Tee? Ich kann Ihnen auch Tee machen! Nehmen Sie doch den Sessel, der ist bequemer. Und ent­schuldigen Sie, dass noch nicht alles aufgeräumt ist – ich dachte ja nicht … – aber jedenfalls schön dass Sie da sind!“ Und dann sitze ich erst mal ziem­lich lange allein im Wohnzimmer herum, bis meine Gastgeberin all ihren vermeintlichen Pflichten Ge­nüge getan hat. Dabei hätte es mir doch völlig gereicht, mich in aller Ruhe mit ihr zu unter­halten und, wenn gewünscht, noch ein Gebet zu sprechen. Dazu bleibt dann wo­möglich gar keine Zeit mehr – erst recht, wenn zwi­schendurch noch fünf Anrufe kommen.

So was haben Sie sicher auch schon erlebt, entweder als Gast oder als Gastgeber. Jetzt stellen Sie sich aber mal vor, da käme jemand nicht nur für ein halbes Stündchen am Vormittag, son­dern als Übernach­tungsbesuch, und er käme nicht allein, sondern brächte noch ein Dut­zend Freunde mit. Dann können Sie sich unge­fähr vorstellen, wie es zuging, als Jesus mit seinen Jüngern bei Maria und Marta einfiel. Bei Lukas, in Kapitel 10, können wir es nachle­sen:

Als sie aber weiter zogen, kam Jesus in ein Dorf. Da war eine Frau mit Namen Marta, die nahm ihn auf. Und sie hatte eine Schwester, die hieß Maria; die setzte sich dem Herrn zu Füßen und hörte seiner Rede zu. Marta aber machte sich viel zu schaffen, ihnen zu dienen. Und sie trat hinzu und sprach: „Herr, fragst du nicht danach, dass mich meine Schwester lässt allein dienen? Sage ihr doch, dass sie mir helfen soll!“ Der Herr aber antwortete und sprach zu ihr: „Marta, Marta, du hast viel Sorge und Mühe. Eins aber ist not. Ma­ria hat das gute Teil erwählt; das soll nicht von ihr genommen wer­den.“

Nach dem, was ich eben erzählt habe, kann ich Marta bestens verste­hen. Wenn ich mir vorstelle, wir hätten Besuch zu Hause, und an mir bliebe die ganze Arbeit hängen, wäh­rend meine Frau gemütlich bei den Gästen sitzt, dann wäre ich auch ziemlich sauer. Aber Maria kann ich auch verstehen: Man hat schließlich nicht alle Tage Jesus zu Gast – da möchte man natürlich auch hören, was er zu sagen hat! Und ich kann sogar verstehen, dass Jesus Maria gegenüber Marta in Schutz nimmt. Denn schließlich hat er mal gesagt, dass er nicht ge­kommen ist, um sich bedienen zu lassen, sondern um zu dienen. Und er möchte, dass möglichst viele etwas von seiner Botschaft mitbekom­men, und zwar nicht nur die Männer, wie es damals üblich war, son­dern auch die Frauen.

Jesus will allerdings mit seiner Antwort nicht sagen: Das, was Marta tut, ist weniger wertvoll. Er will auch nicht sagen, dass Maria die emanzipiertere Frau ist, weil sie mit den Männern dem Rabbi Jesus zu Füßen sitzt. Marta ist nämlich keineswegs nur das Heim­chen am Herd, sondern sie ist die Gastgeberin: Ihr gehört offenbar das Haus, in das sie Jesus aufnimmt. Und Gastgeberinnen und Haus­besitzerin­nen waren damals genauso ungewöhnlich wie Schülerin­nen eines Rabbi. Also: nicht, was Marta tut, ist falsch, sondern sie tut es zum falschen Zeitpunkt. Vor lauter Geschäftigkeit verpasst sie das, was Jesus auch ihr zu sagen hätte. Sie hat ihn zu Gast und hat doch nichts davon. Schade eigentlich!

Nun wollte Lukas uns allerdings nicht nur eine nette Anekdote aus dem Leben Jesu erzählen. Er wollte viel­mehr den Christen seiner Zeit etwas deutlich machen. Darauf weisen jedenfalls ein paar Stichworte hin, die er verwendet und die aus dem Gemeindeleben seiner Gegen­wart stammen. Für das „Dienen“ der Marta gebraucht Lukas das Wort diakoni,a. Und wenn Sie dabei an unsere Diakonie denken, dann lie­gen Sie völlig richtig. Diakoni,a war schon zu Lukas’ Zeiten der Fach­ausdruck für alles, was in den christlichen Gemeinden an tätiger Nächstenliebe geschah: Arme speisen, Kranke pflegen, Ein­same besu­chen, für das äußere Wohl der Gemeinde sorgen und so weiter. Und für die „Rede“ Jesu, der Maria zuhört, benutzt Lukas das Wort lo,goj, und das wird oft für das Wort Gottes gebraucht. Maria hört also auf das Wort Gottes, das Jesus verkündigt, während Marta mit vielfälti­gen diakonischen Aufgaben beschäftigt ist.

So betrachtet, gewinnen der Protest Martas und die Antwort Jesu eine neue Dimension. Dann geht es hier nämlich eine Frage von zentraler Bedeutung – damals wie heute: Was ist wichtiger für die Kirche, dass sie Gottes Wort hört oder dass sie sich um die Menschen kümmert, die Hilfe brauchen?

Für die „Martas“ unter uns ist die Antwort klar: Sie sehen die viele Arbeit, sie sehen die vielen Menschen mit ihren vielfäl­tigen Nöten, und sie denken nur noch: helfen! Helfen, so gut es geht und so viel es geht. Nächstenliebe – das ist es doch, was das Chris­tentum ausmacht, und das ist es auch, was die Leute von uns Christen erwarten. Wenn die Kirchen Gutes tun, genießen sie immer noch ho­hes Ansehen. Und welcher Christenmensch könnte auch ta­ten­los zu­schauen oder nicht zumindest ein schlechtes Gewissen be­kommen, wenn er all das menschliche Elend sieht – hier bei uns und überall auf der Welt. Also: Diakonie, Nächstenliebe, soziales Enga­gement – das muss sein. Stillsitzen und Jesus zuhören, das können wir immer noch, wenn alles getan ist, was in unserer Macht steht. Aber wann ist jemals alles getan?

Auch für Jesus ist die Antwort klar. Doch er vertritt nicht einfach die Gegen-Position. Er sagt nicht: „Es ist wichtig, dass ihr mir zuhört, alles andere ist unnötiger Aktivismus.“ Er stellt nur einfach fest: „Marta, du hast viel Sorge und Mühe.“ Das ist so, und das ist auch nicht falsch. Schließlich hat Jesus ja selber hervorgehoben, was schon im dritten Buch Mose steht: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ Und er hat nicht hinzugefügt: „Aber nur, wenn es dir nicht zu viel Mühe macht!“ Nein, es darf uns ruhig etwas kosten, für unsere Mitmenschen da zu sein, und zwar nicht nur Geld. Aber Sorge und Mühe ist nicht alles. Und vor allem ist Diakonie nicht das entschei­dende Kriterium, das uns zu Nachfol­gern Jesu macht. Sie ist nicht das Eine, das wirklich nottut. Dieses Eine ist das, was Maria macht: Jesus zuhören und durch ihn auf Gott hören.

Aber weshalb ist das denn so wichtig? Wa­rum lange reden und zuhö­ren, wenn ich doch weiß, wo Not am Mann ist und was getan werden muss? Vielleicht macht es ein schlichter Vergleich deutlich: Wenn ich mein Auto anlasse, die Bremse löse und aufs Gas trete, dann fährt es los. Und es fährt und fährt und fährt, fünf-, sechshundert Kilome­ter weit, wenn es sein muss, auch auf vollen Touren. Aber irgend­wann bleibt die Kiste stehen, und alles Gasgeben bringt sie nicht wieder zum Laufen – ich hätte halt mal rechtzeitig tanken oder laden müssen!

So ähnlich ist es auch mit unserem Christenleben: Unser Glaube, un­ser Vertrauen auf Gott ist die Triebkraft für unser Handeln. Und diese Triebkraft erneuert sich genauso wenig von selbst wie das Ben­zin im Tank oder die Ladung im Akku. Glaube kommt aus dem Hören auf Gott. Und wenn wir wirk­lich aus unserem Glauben heraus handeln wollen, dann müs­sen wir uns von Gott immer neu füllen lassen. Sonst laufen wir eines Tages leer. Wir funktionieren dann vielleicht noch und machen uns immer noch viel Sorge und Mühe, aber es kommt nichts mehr dabei heraus. Wir ziehen dann keinen Gewinn mehr aus dem, was wir tun, und ir­gendwann brechen wir entweder zusammen oder geben es auf.

Das hat sich ja auch längst herumgesprochen in unserer betriebsa­men, aber oft so lieb- und lustlosen Kirche. Deshalb fragen heute wie­der mehr Christinnen und Christen nach dem guten Teil, das Maria er­wählt hat. Man nennt es meistens nicht mehr Hören auf Gott oder auf Jesus sondern „Spiritualität“ – klingt irgendwie moderner. Aber ge­meint ist das Gleiche. Gemeint sind Mög­lichkeiten, wie man Gott begegnen und sich bei ihm neue Kraft holen kann. Gelegenhei­ten, bei denen man mal nicht für andere da sein muss, sondern ein­fach sich selbst und dem eigenen Glauben etwas Gutes tun kann. Solche Gele­genheiten gibt es öfter, als wir denken. Zum Beispiel jetzt, wo wir gemeinsam Gottesdienst feiern. Der Got­tes­dienst bietet uns eine Möglichkeit, zur Ruhe zu kommen, aufzu­atmen und uns dafür offen zu halten, dass Gott zu uns spricht – nicht nur mit Wor­ten, sondern auch mit Brot und Wein beim Abendmahl, durch Ge­sang und Musik, aber auch durch Momente der Stille, und ebenso durch die Begegnung mit anderen Christinnen und Christen. Aber es gibt noch andere Ge­legenheiten, wo man Gott begegnen kann – be­sondere und alltägliche. Ich denke, wir müssen selbst herausfinden, bei welchen Gele­gen­heiten wir Gottes Nähe besonders spüren, was uns für unseren Glau­ben besonders gut tut. Entscheidend ist nur, dass unser Glaube solche Möglichkeiten zum Auftanken hat. Sonst geht er ein, oder er geht im ständigen Betrieb unter. Wohl uns, wenn Gott es mit uns so weit nicht kommen lässt. Wohl uns, wenn uns das „gute Teil“ nie­mand wegnimmt, auch wir selber nicht. Amen.

Ihr Pastor Martin Klein