Predigt GZ „mittendrin“ und Wenschtkirche, Sonntag, 08.01.2023

Gottesdienst für den ersten Sonntag nach Epiphanias

Text: Joh 1,29-34

Am nächsten Tag sieht Johannes, dass Jesus zu ihm kommt, und spricht: „Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt! Die­ser ist’s, von dem ich gesagt habe: Nach mir kommt ein Mann, der vor mir gewesen ist, denn er war eher als ich. Und ich kannte ihn nicht. Aber damit er offenbar werde für Israel, darum bin ich ge­kommen, zu taufen mit Wasser.“ Und Johannes bezeugte und sprach: „Ich sah, dass der Geist herabfuhr wie eine Taube vom Himmel und blieb auf ihm. Und ich kannte ihn nicht. Aber der mich gesandt hat zu taufen mit Wasser, der sprach zu mir: Auf welchen du siehst den Geist herabfahren und auf ihm bleiben, der ist’s, der mit dem heili­gen Geist tauft. Und ich habe es gesehen und bezeugt: Dieser ist Gottes Sohn.“

Für historisch interessierte Menschen ist dieser Text eine ziemliche Anfechtung. Wer gern wüsste, was das denn für einer war, dieser Johannes der Täufer, wer gern wüsste, wie es zuging, als er Jesus im Jordan taufte, der wird hier enttäuscht. Denn von alle­dem steht bei Johannes dem Evangelisten so gut wie nichts. Wir er­fahren gerade mal, dass Johannes mit Wasser getauft hat und dabei Jesus begegnet ist. Das ist alles. Kein Wort über die eindrucksvolle Gestalt des Pro­pheten Johannes, kein Wort über seine mitreißende Bußpre­digt, ja noch nicht einmal ein Wort darüber, dass auch Jesus sich von ihm taufen ließ. Wenn wir das alles nicht aus den an­deren Evangelien wüssten und es eben nicht von Matthäus noch einmal gehört hätten – bei Johannes würden wir es nicht erfah­ren. Bei ihm bleibt von Jo­hannes dem Täufer sozusagen nur der überlange Zeige­finger, mit dem Matthias Grünewald ihn gemalt hat auf dem Isen­heimer Altar: „Er muss wachsen, ich aber muss ab­nehmen“ steht dort auf Latein geschrieben.

Der geschichtlichen Gestalt Johannes’ des Täufers wird der Evange­list damit nicht gerecht. Aber darum ging es ihm auch gar nicht. Ihm ging es einzig und allein um den, auf den Johannes hinweist: um Jesus, das Lamm Gottes, um ihn, auf dem Gottes Geist ruht, um ihn, den Sohn Gottes. Johannes hat keine andere Aufgabe, als auf diesen Jesus hinzuweisen. Und darin wird er zum Vorbild für alle, die an Jesus Christus glauben.

Was er über Jesus sagt, darüber könnte man sich viele Gedanken ma­chen. Manches klingt rätselhaft – „nach mir kommt einer, der vor mir gewesen ist“. Anderes klingt uns vertraut, und doch könnten wir es nur schwer mit eigenen Worten umschreiben – „Lamm Gottes“, „Taufe mit dem heiligen Geist“, „Gottes Sohn“. Wenn ich auf all diese Dinge eingehen würde, käme eine sehr lange Predigt dabei her­aus. Deshalb will ich mich für heute auf einen Ausdruck beschrän­ken, der aus dem Text besonders hervorsticht: „Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt.“

Wir kennen das aus der Abendmahlsliturgie: „Christe, du Lamm Gottes, der du trägst die Sünd der Welt“. Vertraute Worte also. Aber was ist damit gemeint? Was hat ein Lamm eigentlich an sich, dass es zum Bild für Gottes Sohn wer­den kann?

Wir verbinden mit einem Lamm Unschuld, Friedfertigkeit, Schick­sals­ergebenheit – alles erstmal positive Eigenschaften. Aber wer so ist, erscheint uns auch immer ein wenig naiv, um nicht zu sagen dumm. Wenn wir jemanden „lammfromm“ nennen, dann meinen wir jemanden, der so friedfertig ist, dass man mit ihm machen kann, was man will. Das erscheint uns aber nicht gerade erstrebenswert. Des­halb möchte ja auch niemand gern „belämmert“ sein. Und was die Unschuld angeht – da sind wir skeptisch, ob es das berühmte „Un­schuldslamm“ überhaupt gibt. Und wenn jemand so tut, als wäre er eins, macht er sich damit erst recht verdächtig.

Das kommt natürlich alles vom biblischen Bild des Lammes als dem typischen Opfertier. Es lässt sich willig und klaglos zur Schlachtbank führen. Aber eben nicht aus mühsam errungener Ergebung in sein Schicksal, sondern weil es schlicht nicht weiß, was auf es zukommt.

Was bedeutet es dann, wenn Jesus das Lamm Gottes genannt wird? War er auch einfach zu naiv, zu „lammfromm“, um sich aus dem Staub zu machen, als die Häscher ihm an den Kragen wollten? Ließ er sich deshalb stumm und fügsam verurteilen, misshandeln, kreuzi­gen, weil ihm ein gottergebenes Duckmäusertum eingeimpft worden war, das ihn über Alternativen erst gar nicht nachdenken ließ? Juden der Nachkriegs­generation haben das ihren Eltern oft vorgeworfen: „Warum habt ihr es euren Peinigern so leicht gemacht? Warum habt ihr euch nicht gewehrt? Warum habt ihr das alles mit euch machen lassen – die Demütigungen, die Misshandlungen, den Abtransport in die Gas­kammern? Habt ihr etwa geglaubt, dass es Gottes Wille ist, dass die Juden immer die Opfer sein müssen?“ Dass die Israelis heute bis an die Zähne bewaffnet sind und diese Waffen ohne Zögern zum Einsatz bringen, wird ja gern kritisiert, auch hierzulande. Aber es hat eben auch mit diesen schlimmen Erfahrungen zu tun und mit dem festen Vorsatz, bloß nie wieder das wehrlose Opfer zu sein.

War Jesus auch so einer? Ein „Opfer“? Einer, mit dem man’s ja ma­chen kann? Einer, an dem man gefahrlos seine Wut und seine Grau­samkeit aus­toben kann, weil er sich eh nicht wehren wird? Ja und nein.

Ja, sie konnten mit ihm machen, was sie wollten – die Hohenpriester, die römischen Legionäre, der Mob von Jerusalem. Aber nicht, weil er zu „belämmert“ war, um sich zu wehren. Sondern weil er sich dazu entschlossen, dazu durchgerungen hatte, seinen Weg der Liebe kon­sequent zu Ende zu gehen – wehrlos, gewaltlos, widerstandslos. Er konnte das, weil er kein beliebiges Opfer der Gewalt war, sondern das Lamm Gottes. Das einzige wirkliche Unschuldslamm. Gott ge­horsam bis zum Tod am Kreuz. An ihm konnten sie sich austoben – stellvertretend für alle Welt.

Andererseits: Nein, sie konnten nicht mit ihm machen, was sie woll­ten. Sie konnten ihn umbringen, aber sie konnten ihn nicht von sei­nem Weg abbringen. Sie konnten ihn nicht zu dem Verbrecher ma­chen, für den sie ihn hielten. Und sie konnten ihn und seine Bot­schaft nicht aus der Welt schaffen. Gerade, indem sie ihn töteten, brachten sie ihn ans Ziel: die Sünde der Welt auf sich zu nehmen und wegzu­tragen. Deshalb begegnet uns das Lamm Gottes in der Offen­barung des Johannes wieder: geschlachtet und doch siegreich, würdig um aus Gottes Hand zu empfangen „Kraft und Reichtum und Weis­heit und Stärke und Ehre und Preis und Lob“ (Offb 5,12).

Gut, dass es dieses Lamm Gottes gibt. Gut, wenn wir uns von Johan­nes darauf hinweisen lassen. Denn dann kann bei uns einiges anders werden: Wir müssen dann nicht mehr das „Unschuldslamm“ spielen. Wir können zu unserer Schuld stehen, weil wir sie ihm be­kennen können und weil er sie wegträgt. Wir müssen uns auch nicht „lamm­fromm“ alles gefallen lassen. Denn wir müssen nicht mehr stumm und klaglos leiden – das hat Jesus schon für uns getan. Und wenn es uns trotzdem trifft, dass uns Schlimmes angetan wird, dann können wir von ihm lernen und uns von ihm Kraft schenken lassen. Damit das Unrecht, das uns angetan wird, uns nicht verbiegt; damit es uns nicht dazu treibt, mit gleicher Münze heimzuzahlen, was uns wider­fahren ist.

Einer der das gelernt hat in seinem langen Leben, war Martin Nie­möller. Im ersten Weltkrieg war er U-Boot-Kommandant – mit Gott für Kaiser, Volk und Vaterland. Nach dem Krieg studierte er Theolo­gie – auch, weil er hoffte, dass er als Pfarrer am besten seine innere Freiheit gegenüber der verhassten Wei­marer Republik bewahren konnte. Noch als Leiter des „Pfarrernotbundes“ und streitbarer Geg­ner der „Deutschen Christen“ war er mit den poli­ti­schen Zielen der Nazis durchaus einverstanden. Erst als er als persönlicher Gefangener Adolf Hitlers im KZ saß, zerbrach für ihn die Einheit von Glaube und Nation. Ihm wurde deutlich, wel­che Schuld auch die Kirchen in Deutschland auf sich luden durch ihr Schweigen und Mitmachen und wie sehr auch er selber bisher dazu beigetragen hatte. Das machte ihn nach dem Krieg zu einem äußerst unbequemen Mahner. Gerade weil er überzeugt war, dass das Lamm Gottes die Schuld der Welt getra­gen hatte, wurde er nicht müde, seine Landsleute und Mitchristen aufzufordern, zu ihrer Schuld zu stehen, sie zu bekennen und so Ver­gebung zu erfahren. Aber die meisten wollten das nicht hören, son­dern möglichst schnell ver­gessen, was war. Und als Niemöller dann aufging, welche Ver­nich­tungskraft Atom-Bomben besitzen, wurde er auch noch zum Pa­zifis­ten. Keinem „lammfrommen“, sondern einem kämpferischen Pazifis­ten. Bis ins hohe Alter fehlte er bei keinem Ostermarsch und fand für die Rüstungspolitik auch der deutschen Regierung deutliche Worte. Auch das wollte keiner hören, sah man doch in den Kommunis­ten den drohenden Untergang des christ­lichen Abendlands und nicht Menschen, für die das Lamm Gottes auch die Sünde der Welt getragen hat. Kein Wunder also, dass Nie­möller überall aneckte und sich jede Menge Feinde machte. Dabei versuchte er nur, seinem Lebensmotto treu zu bleiben: „Was würde Jesus dazu sagen?“ – das war ihm bei allem die Leitschnur.

Was Niemöller wohl heute angesichts des Kriegs in der Ukraine tun würde? Würde er bei seinem strikten Pazifismus bleiben? Oder würde auch er angesichts der russischen Aggression nochmal um­denken? Ich weiß es nicht. Aber sicher würde er sich auch jetzt wie­der fragen: „Was würde Jesus dazu sagen?“ Und wenn er eine Ant­wort auf diese Frage gefunden hätte, würde er ihr folgen – auch ge­gen Widerstände, auch auf die Gefahr hin, sich unbeliebt zu machen. Ich finde, davon bräuchten wir auch heute mehr in unserer Kirche und unter uns Christen. Nicht weil wir zu allem unseren Senf dazu­geben müssten und an allem etwas zu nörgeln hät­ten. Sondern weil es uns wich­tig sein sollte, auf das Lamm Gottes hin­zuweisen wie Johannes. Dort ist Vergebung für die Schuld der Welt zu finden, und nirgendwo sonst, weder in irgendwelchen Wieder-Gut-Mach-Aktio­nen, noch in faulen Ausreden, noch in lapidaren Bedauerns-Äuße­rungen, noch in Selbstquälerei. Und von da aus gibt es dann auch Wege zum Frieden – in uns und um uns herum. Sind da nicht immer noch viele – ein­schließlich uns selber – für die das eine wichtige Bot­schaft wäre? Dann sollten wir sie hören und weitergeben. Amen.

Ihr Pastor Martin Klein