Predigt für den Abschlussgottesdienst der Allianzgebetswoche, Sonntag, 16.01.2022

Talkirche Geisweid

Text: Hebr 4,9-11

Wenn ich meine Konfis nach den Zehn Geboten frage, fällt ihnen eins immer als letztes ein, wenn überhaupt – nämlich das, woher diese Allianz-Gebetswoche ihr Thema hat: „Gedenke des Sabbats, des Ruhetags, dass du ihn heiligst.“ Was das mit dem Sabbat soll, warum wir ihn nötig haben könnten und warum wir uns dann doch nicht daran halten, sondern an einem anderen Tag der Woche – na ja, einigermaßen Ruhe halten, das ist den meisten Menschen heute schwer zu vermitteln.

Schon in der biblischen Reihe der Gebote ist der Sabbat eher ein Fremdkörper: Zehnmal heißt es „du sollst“, hier heißt es plötzlich: „Gedenke, erinnere dich“. Kein anderes Gebot ist so lang und so ausführlich begründet – und das je nach Fassung auch noch auf unter­schiedliche Weise. Historisch gesehen liegt das wohl daran, dass das Sabbat-Gebot erst nachträglich in die schon fertige Reihe der Zehn Gebote eingefügt wurde. Es sind also jetzt eigentlich elf, und bis heute besteht unter Juden und Christen keine Einigkeit, wie man trotzdem wieder auf zehn kommen kann.

Aber warum ist das so? Warum ist dieses Gebot für Israel so wichtig geworden, dass es den ehrwürdigen Rahmen der Zehn Gebote spren­gen durfte? Warum ist jeder Sabbat für gläubige Juden bis heute ein Festtag? Warum haben sie mit großem Eifer und in allen Einzelheiten durchdacht, wie man das Ruhen auch wirklich praktizie­ren kann? Denn das ist ja der Sinn der vielen Sabbatregeln, die wir oft vorschnell als einengend oder kurios empfinden. Und schließ­lich: Warum tun wir Christen uns gerade mit diesem Gebot so schwer – deuten es um, lassen es links liegen oder vergessen es schlicht?

Ich denke, es liegt an der Botschaft, die der Sabbat uns vermitteln will und die uns anscheinend gegen den Strich geht. Diese Botschaft lautet: Das Ruhen, das Nichts-Tun gehört unverzichtbar zu Gottes guter Schöpfung. Er selbst, so heißt es, ruhte am siebten Tag von allen seinen Werken. Damit hat er den Freiraum zum Ruhen zum Bestandteil seiner Welt gemacht. Sie braucht diese Ruhe, und der Mensch braucht sie auch: zum Aufatmen, zum Kraftschöpfen, zum ruhigen Betrachten von allem, was Gott geschaffen hat, zum Loben und Preisen seiner Güte und Barmherzigkeit.

Daran sollen wir gedenken, uns erinnern, sagt Gott im vierten Ge­bot. Und diese Erinnerung haben wir offenbar nötig. Denn wir glau­ben ja, wir müssten immer was zu tun haben. „Wer rastet, der ros­tet“, sagen wir. Oder „Müßiggang ist aller Laster Anfang“. „Nur Ar­beit war dein Leben“, schreiben wir über Todesanzeigen und mei­nen das positiv. Einfach mal nichts zu machen, fällt uns unendlich schwer. Selbst in unserer so genannten Freizeit brauchen wir stän­dig Action, so dass eine ganze Industrie davon gut leben kann – jeden­falls, wenn nicht gerade Pandemie ist. Aber auch das Virus bringt uns ja nicht zur Ruhe: Wenn ein Lockdown uns ans Haus fes­selt, macht uns das erst recht kribbelig. Wir müssen dann wenigs­tens die Baumärkte plündern und die Wohnung renovieren – oder alte Fotos sortieren und digitalisieren, wie ich es gemacht habe. Ja, selbst das Ruhen scheinen wir noch organisieren zu müssen: Wir stellen Regeln auf, was in Ruhezeiten alles nicht erlaubt ist und ach­ten peinlich genau auf die Einhaltung. Auch beim Nichts-Tun verfal­len wir noch in Aktionismus. Und so legen wir uns selbst und ande­ren Zwänge auf, wo eigentlich aller Zwang aufhören sollte.

Das ist der Widerspruch, den Jesus schon den Pharisäern vor Augen hält: „Ihr wollt den Freiraum des Sabbats sichern. Ihr tut das mit besten Absichten, aber ihr werdet darüber zutiefst unfrei. Ihr be­greift den Ruhetag nicht mehr als Geschenk, sondern als eine wei­tere Pflicht, die ihr auch noch erfüllen müsst. Und ihr vergesst dar­über, dass der Sabbat für den Menschen und nicht der Mensch für den Sabbat geschaffen wurde.“ Leider haben sich Christen durch diese Worte Jesu nicht davon abhalten lassen, aus der Sonntagsruhe erst recht eine Zwangsveranstaltung zu machen – gerade in meiner reformierten Kirche.

Nicht dass wir uns missverstehen: Natürlich soll der Mensch und auch der Christ was tun. Natürlich gehört auch Arbeit zum Leben, und nichts zu tun zu haben, macht krank an Leib und Seele. Natür­lich muss tätige Nächstenliebe auch am Sabbat nicht pausieren. Aber zu denken, dass im Tätig-Sein der einzige Sinn des Lebens liegt, dass nur der was gilt, der auch was schafft, dass wir auch als Chris­ten nur ans Ziel kommen, wenn wir ohne Rast und Ruh auf unsere Seligkeit hinarbeiten, das ist falsch, grundverkehrt. Und wenn wir es trotzdem nicht lassen können, wenn wir trotzdem der Ansicht sind, wir könnten und müssten alles selber richten, dann wird eben daran deutlich, dass wir Sünder sind. Denn Sünder, das sind Menschen, die sich nichts schenken lassen ohne das Gefühl, es verdient zu haben – zumindest teilweise.

Nur dass das bei Gott nicht funktioniert. Nicht nur, weil wir nie ge­nug tun können, um es ihm recht zu machen. Da könnten wir immer noch zu dem Schluss kommen, dass wir uns einfach mehr anstren­gen müssen, um es doch noch zu schaffen. Nein, es funktioniert des­halb nicht, weil Gott sich längst für einen anderen Weg entschieden hat, um mit uns ins Reine zu kommen. Einen Weg, auf dem er alles tut, wirklich alles, und wir schlicht und einfach – nichts. Die Rettung, die er für uns erwirkt, die Ruhe, die er uns verheißt, ist ein Ge­schenk, zu hundert Prozent. Denn er ist es selbst, der sich uns gibt in Jesus Chris­tus – mit allen Konsequenzen bis hin zum Tod am Kreuz. Wer immer noch meint, dass wir doch irgendwas selber tun müssen, um gerettet zu werden, der hat das noch nicht wirklich begriffen. „Gott wird Mensch, dir Mensch zugute“! Was willst du dem denn noch hinzufügen – selbst mit allem Aktionismus, den du entfalten könn­test? Wie willst du dich dafür jemals auch nur ausreichend dank­bar erweisen? Stattdessen kannst du eigentlich nur noch stau­nend und überwältigt „Ja“ dazu sagen – und dir auch darauf nichts einbilden. Nur dann bist du wirklich frei, nur dann kehrt in dir wirk­lich Ruhe ein, und Freude macht sich breit.

Als Israel anfing, den Sabbat zu halten, wusste es noch nichts von Jesus Christus. Aber es wusste darum, dass nicht Tun und Machen das Ziel der Schöpfung ist, sondern die Ruhe. Gott selbst hält diese Sabbatruhe. Deshalb kommt er uns nah, wenn wir es ihm gleich tun. Dazu hat er uns herausgeführt aus der Sklaverei in Ägypten, damit wir ihm in Freiheit dienen können – gerade indem wir uns die Zeit zum Ruhen nehmen, die er uns schenkt – für uns selber, für Mensch und Tier, die für uns arbeiten, ja selbst für die Natur, von deren Früch­ten wir leben.

Ruhe ist also das Ziel der Schöpfung – Ruhe in der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. Aber an diesem Ziel sind wir noch nicht angekom­men. Denn wir Menschen haben es vorgezogen, nicht in der Ruhe wie Gott zu sein, sondern in der Rastlosigkeit: im ständigen Streben nach Mehr, im ewigen Kampf ums Dasein, in dem pausenlosen Ver­such, die Natur unserem Willen zu unterwerfen, ohne Rücksicht auf Verluste. Erst jetzt ahnen wir so langsam, was wir damit angerichtet haben.

Haben wir da überhaupt noch eine Chance, ans Ziel zu kommen – hin zu einer Welt, wo das „Prinzip Sabbat“ regiert, wo alle Ge­schöpfe in Ruhe und Frieden leben können, in Freiheit und Gerechtig­keit? Nicht wenn es nur an uns liegt – das ist, glaube ich, schon deutlich geworden. Aber Gott kann es. Er will seine Schöp­fung neu machen, und er hält einen Platz für uns darin bereit. Ja, noch besser: Er hat den Anfang schon gemacht, damals, als er Jesus von den Toten auferweckt hat.

Und damit bin ich beim Sonntag. Denn der Sonntag, der erste Tag der Woche, an dem das Grab Jesu leer war, das war der erste Tag der neuen Schöpfung. Deshalb ist für uns Christen nun der Sonntag der besondere Tag in der Woche, nicht mehr der Sabbat oder Sams­tag. Denn hier unterscheiden wir uns von den Juden: Wir glauben, dass der Messias nicht erst kommt, sondern in Jesus schon da ist. Wir glauben, dass die neue Welt Gottes nicht nur Zukunft ist, son­dern in Jesus schon angefangen hat, auch wenn sie ihrer Vollendung noch entgegengeht. Ist also das vierte Gebot für uns aufgehoben? Nein, denn der Sabbat bleibt auch für uns das Ziel der Schöpfung Gottes. Aber der Weg dorthin führt für uns durch das Kreuz und die Auferstehung Jesu Christi. Also gilt für uns das, was im Hebräerbrief steht – und damit bin ich heute mal erst am Ende der Predigt beim vorgeschlagenen Text:

Es ist noch eine Sabbatruhe vorhanden für das Volk Gottes. Denn wer in seine Ruhe eingegangen ist, der ruht auch von seinen Werken so wie Gott von den seinen. So lasst uns nun eifrig bemüht sein, in diese Ruhe einzugehen, damit nicht jemand zu Fall komme.

Und wie kann es aussehen, dieses „eifrige Bemühen“, von dem der Text spricht? Nein, lasst uns jetzt bitte nicht wieder anfangen, uns die Ruhe verdienen zu wollen. Aber lasst uns wichtig nehmen, dass jeder Sonntag ein kleines Osterfest ist. Lasst uns die Sonntage feiern in Vorfreude auf die neue Welt Gottes. Lasst uns neu begreifen, was es heißt, dass die Woche eben nicht mit einem Werktag anfängt, wie die meisten Kalender uns weismachen wollen, sondern mit dem Sonntag, dem Tag der Freiheit, die Gott uns schenkt. Lasst ihn uns als einen Tag begehen, an dem niemand etwas tun muss, was er nicht will, an dem aber jeder tun kann und darf, was ihm Freude macht. Als einen Tag, an dem wir auf Gott hören und ihn loben und preisen – ohne Ablenkung durch andere Geschäfte, aber auch ohne Zwang. Denn ehe wir am Sonntag nur zum Gottesdienst gehen, weil wir meinen, wir müssten, sollten wir lieber zu Hause bleiben. Lasst uns den Sonntag auch als einen Tag der Gemeinschaft begreifen – in Verbundenheit mit unseren Lieben, mit unseren Glaubensgeschwis­tern, aber auch mit der Schöpfung, deren Teil wir sind. Und lasst uns das alles tun auf dem Weg zur großen Sabbat- und Sonntagsruhe, die Gott für sein Volk bereithält. Das muss und wird auf Erden nie perfekt sein. Aber es kann reichen für einen kleinen Vorgeschmack auf das, was kommt, wenn wir alle vereint mit Gott ruhen von unse­ren Werken. Amen.

Ihr Pastor Martin Klein