Predigt, 1. Advent, 27.11.2022, Talkirche

«Das Christkind ist nicht parteiisch»?

«Das Christkind ist nicht parteiisch.» Es muss vor etwas mehr als einem Jahr gewesen sein, da überraschte mich, liebe Adventsgemeinde in Geisweid, ein Radiobeitrag, in dem ich beim Autofahren hängen geblieben war, mit diesem Satz. «Das Christkind ist nicht parteiisch.»
Worum ging es? Nun, es ging um einen Konflikt auf dem Nürnberger Sebaldsplatz, dem klassischen Veranstaltungsort für den weltberühmten und weltältesten Weihnachtsmarkt.
Der Satz von der Unparteilichkeit des Christkinds stammte vom Presseamt der Stadt Nürnberg und er sollte erklären, warum der Rat der Stadt Nürnberg ein Camp von Klimaaktivisten und -aktivistinnen hatte räumen lassen. Das hatte man an einer Stelle des großen Platzes den ganzen Sommer geduldet und zwischendurch – es war Kommunalwahl in Bayern – waren dort auch Politiker_innen beinahe aller Parteien aufgetaucht und hatten Beitrag zum Klimaschutz für sich reklamiert. Nun – im Vorfeld des Christkindlesmarktes – da sollten sie weichen. Denn – so ein Stadtpolitiker – die Argumente in Sachen Klima seien ja nun wirklich ausgetauscht und jetzt gehe es eben auf dem Sebaldsplatz auch mal wieder darum, ungestört von solchen Fragen seinen Glühwein und seine Bratwurscht essen und trinken zu können, und überhaupt – da muss man erst mal draufkommen – das Christkind sei nicht parteiisch. Ist es nicht?

Der Advent – die Zeit der Vorbereitung auf die Ankunft Christi – wird in der Christenheit seit dem 4. Jahrhundert gefeiert. Zuerst in Rom als Vorfest auf die Geburt des Erlösers, als die Hauptstadt, der Kaiser mitsamt dem ganzen Weltreich, gerade christlich geworden waren.
In der fernen Provinz Gallien, da tauchten, man weiß nicht viel darüber, Mönche aus Irland und Schottland auf, also aus einer noch viel ferneren Ferne. Und auch ihnen ging es um den Advent, die Ankunft Christi – aber nicht die des Erlösers, des Christkindes, sondern des Weltenrichters und seines Kommens am Ende der Zeiten.
Weil Gott und Christus bei allem, was sie wohl sonst noch sein mögen, jedenfalls eines ganz bestimmt nicht sind, unparteiisch, sondern im Gegenteil zu ein-, nein sogar zu zweihundert Prozent parteilich.
Zu 100% parteiisch, gegen Unrecht und Gewalt, gegen Unterdrückung, gegen Achselzucken und Wegsehen, aber – nicht zu vergessen – auch gegen Selbstgerechtigkeit. Und das Christkind ist zu 100% parteiisch für das Leben, für das verletzte, das gekränkte und gestörte Leben für die geschändete Schöpfung, für die Zukurzkommer, die Versager, die Unproduktiven.
Im Advent kommen seither diese beiden Töne zusammen: Weltgericht und Welterlösung, Vorfreude und Buße. Die tiefe Sehnsucht, die Hoffnung auf Erneuerung. So, wie es ist, wird es nicht bleiben. Und die klamme Ahnung und das feste Wissen: So wie ich bin, kann ich nicht bleiben.

Auch der Predigttext für den heutigen Ersten Advent hat diese beiden Seiten. Er steht in der Offenbarung des Johannes im 3. Kapitel, und ich lese zunächst nur die erste Hälfte dieses Textes.
14 Und dem Engel der Gemeinde in Laodizea schreibe: Das sagt, der Amen heißt, der treue und wahrhaftige Zeuge, der Anfang der Schöpfung Gottes: 15 Ich kenne deine Werke, dass du weder kalt noch warm bist. Ach, dass du kalt oder warm wärest! 16 Weil du aber lau bist und weder warm noch kalt, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde. 17 Du sprichst: Ich bin reich und habe mehr als genug und brauche nichts!, und weißt nicht, dass du elend und jämmerlich bist, arm, blind und bloß. 18 Ich rate dir, dass du Gold von mir kaufst, das im Feuer geläutert ist, damit du reich werdest, und weiße Kleider, damit du sie anziehst und die Schande deiner Blöße nichtoffenbar werde, und Augensalbe, deine Augen zu salben, damit du sehen mögest. 19 Welche ich lieb habe, die weise ich zurecht und züchtige ich. So sei nun eifrig und tue Buße!

Wenn Christus, der kommende Weltenrichter, an Laodizea denkt, wird ihm schlecht. Speiübel buchstäblich. Es schlägt ihm nicht nur aufs Gemüt, sondern auf den Magen. Nahe der Ruinen von Laodizea liegt in der heutigen Westtürkei der Touristenort Pammukkale. Sie wissen schon, das ist der mit den warmen Salzquellen und diesen schneeweißen schalenförmigen Kalkbecken, aus denen das Wasser wie Milch stufenförmig über beckenartige Kalkformationen fließt. Hübsch sieht das aus. Aber jetzt stellen Sie sich vor, Sie hätten einen kräftigen Schluck von dieser lauwarmsalzigen Kalkplörre im Mund oder sie erwischen gleich auf dem Adventsmarkt einen lauwarmen Glühwein oder eine halbgare und halbkalte Bratwurst vor – bah!
Und so sie wissen Sie, wie’s dem Christkind-Weltenrichter geht, wenn er auf seinem Thron an Laodizea denkt, mehr noch: es fühlt, schmeckt. Nicht so nüchtern abgeklärt und weltüberlegen? Wie wir uns einen Richter oder eine Richterin vorstellen, der oder die irgendwie über den Dingen steht. – Im Gegenteil, dem Christkind-Weltenrichter geht es durch und durch, es schüttelt und es ekelt ihn, es kommt ihm hoch. Und was immer das über diese längst untergegangene Stadt Laodizea heißen mag, über das Weltenrichter-Christkind auf dem Thron, da heißt es dies: Es ist – wie das Kind im Stall und der Mann am Kreuz – auch da im Himmel und jetzt erst recht, mit Haut und Haaren, mit Herz und Zunge und Bauch tief getroffen und geschüttelt, von dem, was auf seiner Welt, in seinen Städten, und Gemeinden vor sich geht.
Wie auf Erden so im Himmel. Die ich lieb habe, die weise ich zurecht – so sagt er hinterher – fast als müsste er seinen Gefühlsausbruch im Nachhinein erklären. Wenn das mal kein schräger Liebesbrief ist.

Laodizea ist zur Zeit des Neuen Testaments eine reiche Stadt, so reich, dass die Bürgerschaft die Stadt nach einem kurz zurückliegenden Erdbeben mit eigenen Mittel wiederaufbauen konnte. Die Stadt liegt an der Kreuzung zweier wichtiger Handelswege, ihr Bankenwesen floriert, die Stadt ist berühmt für ihre Heilkunst und sie hat eine blühende Textilindustrie.
Und doch – oder genau deshalb – so hält es Weltenrichter-Christkind dieser Stadt und dieser Gemeinde vor – und doch, trotz eures Geldes, trotz eurer Gesundheits- und Finanz- und Textilindustrie – oder vielleicht eben deshalb –, seid ihr arm, blind und nackt. Und das Schlimmste ist: Ihr wisst es gar nicht.
Du sprichst: Ich bin reich und habe mehr als genug und brauche nichts!, und weißt nicht, dass du elend und jämmerlich bist, arm, blind und bloß.
Mindestens darin, liebe Adventsgemeinde am Klafeldermarkt, mindestens darin und gerade darin, könnten wir uns von Laodizea unterscheiden.
Denn nicht wahr, längst schon fühlen, spüren, ahnen wir, dass es knirscht und rumpelt. Persönlich, kirchlich, gesellschaftlich und ökologisch. Da sind die Erschöpfung und die innere Leere in uns, da ist die Gehetztheit, die Sprachlosigkeit zwischen uns und unseren Nächsten.
Wir spüren es rumpeln und knirschen, wir wohlgenährten, äußerlich gut gepflegten, leidlich gesunden und hübsch angezogenen Christenmenschen wissen, wir ahnen und spüren, wir wissen es längt, wie es in der Welt und in der Schöpfung knirscht. Und das Christkind ist nicht parteiisch?
Wir spüren es in uns und um uns herum und ja im Moment gerade an unseren Portemonnaies – und vielleicht schon im nächsten Sommer wieder auch an unseren vertrockneten Gärten und Wiesen, an brennenden oder verdorrenden Wäldern. Und das Christkind ist nicht parteiisch?
Wir spüren es knirschen und rumpeln als Kirche, der das Geld ausgeht; aber mehr noch als das Geld gehen uns die Menschen verloren, die jungen vor allem, das Vertrauen, wir würden einen Unterschied machen damit, wie wir von Gott und der Welt reden und damit, wie wir zu Gott und der Welt reden.Wir langweilen die Leute und – das wäre das Schlimmste – vielleicht langweilen wir auch Gott. Zumindest aber langweilen wir uns manchmal auch selbst.
Und schließlich spüren wir es auch knirschen und rumpeln in unserem Wirtschaftssystem, in der Art und Weise, wie wir leben, Geld verdienen und Geld ausgeben – und das Neue ist, wir hören es neuerdings auch von Politiker_innen, vom grünen Wirtschaftsminister bis zum konservativen Oppositionsführer: «Wir werden nicht immer wohlhabender, es wird nicht für alle immer noch mehr geben.» Das große Versprechen, das alle am Laufen und Rennen hält – gestimmt hat es ja noch nie, für jeden und jede – aber neuerdings wird das auch offen gesagt, quer durch die Parteien. Zu schweigen von denen, die offen auf Freiheit, auf Demokratie pfeifen und damit spielen, als wären jene einen Dreck wert.
Ich weiß es nicht, ob es dem Christkind-Weltenrichter, wenn er auf uns blickt, so geht wie damals, als er auf Laodizea schaute. Aber, ganz ehrlich Jesus, nicht selten, da können wir uns selbst nicht leiden und manchmal da ekeln wir uns vor uns selber.
Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. – so geht der schräge Liebesbrief an die Menschen in Laodizea weiter – Siehe ich stehe vor der Türe und klopfe an. Wenn jemand meine Stimme hören wird und die Tür auftun, zu dem werde ich hineingehen und das Abendmahl mit ihm halten und er mit mir. Wer überwindet, dem will ich geben, mit mir auf meinem Thron zu sitzen, wie auch ich überwunden habe und mich gesetzt habe mit meinem Vater auf seinen Thron. Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt!

Vom Fühlen und Schmecken und Riechen und Schlucken geht es zum Hören. Zum Hören auf die Klopfzeichen Gottes, der vor der Tür steht. Er hat offenbar nicht nur einen schrägen Liebesbrief geschrieben, sondern ist seinem Brief gleich hinterhergelaufen, so als wollte er sichergehen, dass sein Brief auch wirklich ankommt, so als könnte er die Antwort nicht abwarten und bringt sich gleich selber mit. Und nun steht er draußen und klopft.
Kann es nicht abwarten, sucht Raum in der Herberge, eingelassen zu werden und ist – so stelle ich mir vor – doch beklommen und hält den Atem an, ob er Gehör findet und Einlass. Er klopft, aber er trommelt nicht. Tritt nicht die Türen ein, wie im action film. Er will überzeugen, nicht

überwältigen. Weil die Liebe nur bitten kann und nicht zwingen.
Ach, wenn wir das doch kapieren würden, dass das Klopfen von außen kommt; dass wir das, was uns fehlt, dass wir den, der uns fehlt, nicht immer schon drinnen haben, bei uns, in uns oder unter uns. Und wenn wir dann auch das andere verstünden und wahrhaben wollten: Dass wir IHN oder SIE aber auch nicht am Ende der Welt, im olkenkuckucksheim, am Himmel, nicht am Nordpol und nicht auf den Malediven haben, sondern nur eine Tür weit entfernt.
Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Schwer zu hören, bei all dem Lärm in uns und um uns. Ach, wenn wir doch die Gerüche und Düfte, die Töne und Lichter als das wahr nehmen könnten, was sie sein sollen und wollen: Klopfzeichen des Kommens Gottes.
Und wenn wir doch das Knirschen und Rumpeln als das hören könnten, was es sein will und sein kann: Klopfzeichen der parteilichen Liebe, Klopfzeichen des Neuen, des Anderen, das Gott bringt und Gott ist. Nur ein Türchen entfernt.

Bei uns zu Hause gab es für uns drei Geschwister nur einen Kalender, mit der Milchschokolade hinter den Türchen. Damals fand ich das blöd, nur jeden dritten Tag an der Reihe zu sein, und war neidisch auf Kinder wie meinen Cousin, der die Schokolade nicht mit einem Geschwister teilen musste. Heute find ich es weise, dass es meinen Eltern gar nicht einfiel, für jede von uns dreien einen einzelnen Kalender anzuschaffen.
Wir lernten das Warten und wir lernten das Teilen und wir lernten – das ist wohl Schwerste – auch das Mitfreuen mit den anderen. Natürlich gab es unter uns Kindern einiges Gerangel undwenn einer sich freute, stritten sich mindestens zwei. Außerdem gab es selbstausgedachte und ausgehandelte Sonderregeln, zum Beispiel die, dass das Türchen, wenn man an der Reihe war, auch an diesem Tag aufgemacht werden musste und bloß nicht vergessen werden durfte, sonst fiel ihr Inhalt am kommenden Tag jemand anderem zu. Und die zweite Regel war, dass man beim Aufmachen, wenn es galt, an den Schokoschatz zu kommen, auf keinen Fall dieses dünne Papptürchen zerreißen durfte, sonst fiel der Schatz einen andern. Das war ganz schön schwierig, denn oft war die Pappe nur schwach vorgestanzt.
Advent, Advent, das Türchen klemmt. Das geht mir manchmal immer noch so, wenn ich vor dem Geheimnis dieser Tage und Wochen vor Weihnachten stehe.
Und vielleicht wäre es schon beinahe genug, wenn ich mir in den kommenden Tagen des Advents die Zeit nähme, mich diesem Klemmen und diesem Vermissen zu stellen, es nicht zu verdrängen, es nicht zuzuschütten, sondern es auszuhalten, ihm stillzuhalten, es hinzuhalten – dem Fehlen und dem Kommen Gottes; wer will, kann auch Gebet dazu sagen.


Nicht ausweichen und vergessen, nicht erzwingen und nicht zerreißen, weder mit Gleichgültigkeit noch mit Krampf dem Wunder Gottes und seinem Fehlen begegnen, sondern im Warten und Eilen, im Verzichten und Teilen, im Rangeln und Streiten, im Lauschen und nicht zuletzt im Stillehalten die Türen öffnen, den Spalt, den wir eben hinkriegen, für das Kommen Gottes.
Eine Geschichte darüber zum Schluss. Es ist die letzte Geschichte in der Märchensammlung der Brüder Grimm, und sie ist kaum bekannt. Vielleicht, weil sie noch nicht wirklich fertig ist, die Geschichte und wir alle noch mitten darin stecken … .
«Zur Winterszeit, als einmal ein tiefer Schnee lag, mußte ein armer Junge hinausgehen und Holz […] holen. Wie er es nun zusammengesucht und aufgeladen hatte, wollte er, weil er so erfroren war, noch nicht nach Haus gehen, sondern erst Feuer anmachen und sich ein bißchen wärmen. Da scharrte er den Schnee weg, und wie er so den Erdboden aufräumte, fand er einen kleinen goldenen Schlüssel. Nun glaubte er, wo der Schlüssel wäre, müßte auch das Schloß dazu sein, grub in der Erde und fand ein eisernes Kästchen. Wenn der Schlüssel nur paßt! dachte er, es sind gewiß kostbare Sachen in dem Kästchen. Er suchte, aber es war kein Schlüsselloch da, endlich entdeckte er eins, aber so klein, daß man es kaum sehen konnte. Er probierte, und der Schlüssel paßte glücklich.
Da drehte er einmal herum – und nun müssen wir warten, bis er vollends aufgeschlossen und den Deckel aufgemacht hat, dann werden wir erfahren, was für wunderbare Sachen in dem Kästchen lagen.»
Siehe, ich stehe vor der Türe und klopfe an. Wenn jemand meine Stimme hören wird und die Tür auftun, zu dem werde ich hineingehen und das Abendmahl mit ihm halten und er mit mir.
In Jesu Namen, Amen.

Pfarrer Jan-Dirk Döhling