Wichern Jahr 2008

Johann Hinrich Wichern – Mitten
im Leben

Gewöhnlich wird
die Diakonie, der Wohlfahrtsverband der Evangelischen Kirche in
Deutschland, durch die sozialen Leistungen ihrer Einrichtungen oder
ihren sozialpolitischen Stellungnahmen in der Öffentlichkeit wahrgenommen.
Kulturelle Events werden allgemein weniger von ihr erwartet. Doch
immer mehr Einrichtungen entdecken ihre eigene Geschichte, setzen
sich mit ihr auseinander, eröffnen Museen oder nehmen Jubiläen zum
Anlass, an ihre Geschichte zu erinnern. So auch das Diakonische
Werk der EKD, das im Jahr 2008 den Hamburger Theologen Johann Hinrich
Wichern aus Anlass seines 200. Geburtstages mit verschiedenen Veranstaltungen
und Publikationen würdigt.

Johann Hinrich
Wichern ist die bedeutendste sozialpolitische Persönlichkeit der
evangelischen Diakonie. Vor dem Hintergrund der sozialen Not und
angesichts von sozialen Aufständen gründeten evangelische Christen
des 19. Jahrhunderts an vielen Orten in Deutschland Vereine und
Anstalten für Krankenpflege, Kindererziehung, Seelsorge und Mission,
um nur einige zu nennen. Sie erhofften sich von dem Engagement des
Einzelnen für seinen Nächsten die Kraft zur Erneuerung der bestehenden
Gesellschaft, des Obrigkeitsstaates und der Kirche.

Mit seinem Programm
der Inneren Mission fasste Johann Hinrich Wichern diese Einzelinitiativen
zu einer breiten Bewegung zusammen. Der von ihm 1848 initiierte
Central-Ausschuss für Innere Mission, der Vorläufer des Diakonischen
Werkes der EKD, verschaffte der Bewegung ihren organisatorischen
Rahmen. Johann Hinrich Wichern engagierte sich im Bereich der Bildungs-
und Sozialpolitik und beriet die preußische Regierung. Mit der Gründung
des Rauhen Hauses in Hamburg, einer Einrichtung für verarmte und
verwahrloste Kinder, und der Gründung des evangelischen Johannesstiftes
in Berlin mit ähnlicher Zielgruppe schuf er zwei Modellprojekte
im Bereich der sozialen Hilfen und Bildung, die noch heute weit
über Deutschland hinaus bekannt sind. Viele der damals wichtigen
theologischen oder sozial- und kirchenpolitischen Fragen sind heute
noch aktuell. Sicherlich können die jetzigen Lösungsansätze nicht
gleich lauten wie im 19. Jahrhundert. Aber beim Blick in die Geschichte
wird deutlich, dass die damalige Sichtweise durchaus bedenkenswerte
Anregungen enthält.

Das Diakonische
Werk der EKD lobt zum Wichernjahr 2008 einen bundesweiten Jugendwettbewerb
aus, der sich unter dem Titel „Wie sozial bist Du?“ der Verknüpfung
von Geschichte und Moderne im sozialen Spektrum widmen und eine
Wieder-/Neubegegnung mit Johann Hinrich Wichern ermöglichen soll.
Des Weiteren veranstaltet das Diakonische Werk der EKD in Kooperation
mit der Evangelischen Kirche in Deutschland und dem Diakonischen
Werk Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz Anfang Juni einen
sozialpolitischen Kongress. Das Wichern-Jubiläumsjahr endet mit
einem Festakt auf der Diakonischen Konferenz in Hamburg.

Ursula Röper,
Koordinatorin
Wichernjahr 2008
im Diakonischen Werk der EKD

 

Johann Hinrich Wichern:

Theologe, Sozialreformer und
Begründer der Inneren Mission

Johann Hinrich
Wichern erblickt am 21. April 1808 in Hamburg St. Georg als Ältester
von sieben Kindern das Licht der Welt. Er wächst in bescheidenen
Verhältnissen auf. Der Vater ist vom Kontor-Schreiber zum Notar
aufgestiegen. Der Sohn besucht erst die private Bürgerschule, dann
das „Johanneum“-Gymnasium. Johann Hinrich ist 15 Jahre alt, als
sein Vater stirbt und er die sechs Geschwister mit durchbringen
muss. Er gibt Nachhilfestunden als Hauslehrer. Zwei Jahre später
verlässt er die Schule (Zeugnis: „reger Eifer für alle Gebiete der
Wissenschaft und ausdauernder Fleiß“), weil er als Erziehungsgehilfe
an einem christlichen Schülerinternat für höhere Stände arbeiten
kann. Über diese Schule kommt er mit meist wohlhabenden Menschen
aus der evangelischen Erweckungsbewegung zusammen, die ihm den Schulabschluss
und das Theologiestudium ermöglichen.

Er geht zunächst
nach Göttingen; sein Lehrer ist der Theologe Friedrich Lücke, der
zwischen protestantischen Richtungen vermittelte. In Berlin studiert
er beim Kirchenhistoriker August Neander, hört bei Friedrich Schleiermacher
und Friedrich Hegel. Dort begegnet er dem Mediziner und Gefängnisreformer
Nikolaus Heinrich Julius und dem führenden Kopf der Erweckungsbewegung
Baron von Kottwitz, der eine „Freiwillige Armenbeschäftigungsanstalt“
leitet.

1831 legt Wichern
in Hamburg sein Theologieexamen ab und wird Oberlehrer der Sonntagsschule
für Arbeiterkinder in St. Georg. Er gehört einem Besuchsverein an,
der in den Armenvierteln häusliche Verhältnisse erkundet und hautnah
die dort herrschende Not erlebt. „Hamburgs wahres und geheimes Volksleben“,
heißt seine Reportage. Der Verein gründet eine Anstalt „zur Rettung
verwahrloster und schwer erziehbarer Kinder“ im „Rauhen Haus“, einer
Kate mit viel freiem Gelände darum herum. Wichern wird der Leiter.
Jahr für Jahr entstehen neue Häuser, immer mehr Kinder werden aufgenommen.
Die Erziehungsarbeit folgt in Anlehnung an den Pädagogen Pestalozzi
dem Motto: „Freie Kinder in einer freien Familie“. Die „Zöglinge“
leben in familienähnlichen Gruppen in einem Haus, werden unterrichtet
und zu Handwerkern ausgebildet. In der Mitte steht die christliche
„Botschaft vom Evangelium der Liebe“, die die Jugendlichen zu „selbständigen
Bürgern im Reich Christi“ machen soll. Wicherns Arbeit beruht auf
„vier auf göttlicher Stiftung beruhenden Faktoren“: Familie, Schule,
bürgerliche Arbeit, Kirche. „Gebet und Arbeit gehören unlöslich
zusammen“, lautet ein Leitsatz.

Die „Fliegenden
Blätter“ aus dem Rauhen Haus (seit 1844) verbreiten seine Vorstellungen
von der Mission im Inland und den sich der Kirche aufdrängenden
sozialen Fragen. Nur wenige seiner Zeit suchen nach einer christlichen
Antwort auf die Umwälzungsprozesse. Er kritisiert die Kirche, weil
sie die Not der verarmten Handwerker und des sich bildenden Industrieproletariats
nicht als die eigene Sache sieht.

Auf dem 1. Kirchentag
in Wittenberg 1848 ruft er zur Missions- und Sozialarbeit auf: „Es
bedarf einer Reformation aller unserer innersten Zustände. Die rettende
Liebe muss [der Kirche] das große Werkzeug werden.“ Der neue „Centralausschuss
für die Innere Mission“ wird 1849 Leitungsorgan aller diakonischen
und missionarischen Einrichtungen der Kirche. Wichern verfasst die
Reformschrift: „Die innere Mission der dt. ev. Kirche. Eine Denkschrift
an die deutsche Nation“.

1857 wird Wichern
als Gefängnisreformer ins preußische Innenministerium berufen, wird
Oberkonsistorialrat in Berlins Oberkirchenrat, 1858 wird Wichern
Präsident des „Central-Ausschusses für Innere Mission“.  Im
Zuge seiner beabsichtigten Reform des Gefängniswesens gründet Wichern
das Johannesstift als Ausbildungsstätte für Diakone. Der  Gefängnisreformer
Wichern scheitert jedoch. Preußens Behörden lehnen Einzelhaft ab,
die Straftätern Buße und Umkehr ermöglichen soll, ebenso qualifiziertes
Ausbildungs- und Aufsichtspersonal – hier hatte Wichern Diakone
vorgesehen. In Preußens Kriegen 1864, 1866 und 1870/71 baut er eine
Felddiakonie auf.

Mit genossenschaftlicher
Arbeiterselbsthilfe, mit dem Bau von Wohnungen und Sparläden will
er Mittellose aus der Armut reißen. 1874 erleidet der rastlose Reformer
einen Schlaganfall und muss sich aus der Arbeit zurückziehen. Er
stirbt  nach langem Leiden am 7. April 1881.