November-Gedanken
wer bist du kleines ich (fünf
sechs jahre alt) das starrt aus einem hohen fenster auf das
gold eines november-sonnenuntergangs (und fühlt dass wenn
der tag zur nacht schon werden muss dies eine schöne weise
ist)
Dieses Gedicht
stammt von dem amerikanischen Maler und Schriftsteller E. E. Cummings.
Das englische Original gehört zu dem wenigen, was ich in meiner
Schulzeit auswendig gelernt und im Gedächtnis behalten habe – wahrscheinlich,
weil ich mich so gut in dieses „kleine ich“ hineinversetzen konnte.
Denn ich weiß nicht, ob es Ihnen schon mal aufgefallen ist, aber
die allerschönsten Sonnenuntergänge des Jahres gibt es tatsächlich
im November. Auch mich beeindrucken sie immer wieder, und das seit
frühster Jugend; denn sie finden ja zu einer Tageszeit statt, die
man auch als kleines Kind schon bewusst miterleben kann.
Ich erwähne das,
weil der November ja wetter- und stimmungsmäßig eher einen schlechten
Ruf hat. Neblig und feucht-kalt kommt er oft daher, stürmische Winde
fegen die letzten Blätter von den Bäumen, und nach der Zeitumstellung
wird uns bewusst, wie früh es plötzlich dunkel wird. Dann sind da
all diese unangenehmen Gedenktage: Allerheiligen, das dem evangelischen
Siegerländer nicht viel sagt, weshalb er dann gern zum Einkaufen
nach Hessen fährt oder den Tag nach einer gruslig-fröhlichen Hallowe’en-Party
verschläft. Der 9. November, der zwar vor achtzehn Jahren auch mal
ein glücklicher Tag der deutschen Geschichte war (Maueröffnung!),
ansonsten aber eher negativ besetzt ist (Reichspogromnacht!). Der
Volkstrauertag, an dem vielen Älteren die Kriegserinnerungen wieder
hoch kommen und viele Jüngere sich fragen, ob es sich nach über
sechzig Jahren nicht endlich ausgetrauert haben sollte.
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Der Buß-
und Bettag, mit dem das Kirchenvolk nichts mehr anzufangen wusste
(wer tut schon gern Buße?), so dass man ihn staatlicherseits sang-
und klanglos abschaffen konnte. Und dann die letzten Sonntage des
Kirchenjahres, die uns auf den Tod, das Jüngste Gericht und das
Ewige Leben hinweisen – Themen, die wir gern verdrängen, weil wir
uns doch hier auf Erden alles in allem so gut eingerichtet haben.
Wahrscheinlich würden also viele Menschen nichts vermissen, wenn
gleich nach „Hallowe’en“ der Advent beginnen und mit „Oh-du-fröhliche-Weihnachtszeit“
den November-Trübsinn vertreiben würde.
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Jedoch: Wenn es
darüber eines Tages eine Volksabstimmung geben sollte, dann wäre
ich gegen die Abschaffung des Novembers. Und das hat durchaus mit
den November-Sonnenuntergängen zu tun und mit dem, was E. E. Cummings
darüber gedichtet hat. Denn es ist ja so: Der Tag muss immer wieder
der Nacht weichen, der Sommer dem Winter, und auch alles Leben muss
vergehen. Das ist nun mal der Lauf der Dinge; denn wenn es nicht
Nacht würde, könnte es auch nicht wieder Tag werden, wenn der Herbst
nicht wäre, gäbe es keinen Frühling, und wenn Pflanzen, Tiere und
auch Menschen nicht sterben würden, wäre die Erde längst überfüllt,
und es könnte kein neues Leben entstehen. Das Vergehen muss also
sein, es „hat seine Zeit“, wie der Prediger Salomo sagt. Gut also,
wenn es dann wenigstens auf eine „schöne Weise“ geschieht: mit goldenen
Sonnenuntergängen, mit prächtigem Herbstlaub, mit einem Abschied
in Frieden nach einem erfüllten Leben.
Aber so ist es
ja nicht immer, mag jetzt mancher protestieren: Viel zu viele Pflanzen
und Tiere vergehen nicht in Schönheit, sondern werden vergiftet,
kahl geschlagen, ausgerottet, abgeschlachtet. Ganz zu schweigen
von dem Elend, in dem viel zu viele Menschen sterben: an Hunger
und AIDS, in Schützengräben und Gaskammern oder auch nach Monaten
und Jahren an Infusionsnadeln und Beatmungsgeräten.
Wohl wahr! Aber
wenn wir nüchtern fragen, wer denn daran schuld ist, dann müssen
wir uns an die eigene Nase packen: Menschen zerstören die Ordnung
und Schönheit der Natur, Menschen bringen andere Menschen um oder
nehmen ihren Tod in Kauf, Menschen schaffen die Verhältnisse, an
denen Menschen leiden. Also können Menschen auch eine ganze Menge
daran ändern, und jeder kann bei sich selber anfangen: bei der eigenen
Einstellung, der eigenen Aufmerksamkeit, dem eigenen Verhalten gegenüber
Tod und Sterben.
Der November mit
seinen Sonnenuntergängen und fallenden Blättern, aber auch mit seinen
unbequemen Gedenktagen gibt uns in besonderer Weise Zeit, um darüber
nachzudenken, und deshalb möchte ich ihn nicht missen. Er lenkt
unsere Gedanken darauf, wie Menschen trotz Leid und Trauer auf schöne,
friedliche Weise diese Welt verlassen können – so wie Gott es gewollt
hat und wie seine Schöpfung es uns zeigt. Er fragt uns, was wir
selber dafür tun können, damit es so wird – für uns und für andere.
Und schließlich lässt er auch aufscheinen, welcher neue Tag denn
für uns anbricht, nachdem die Nacht des Todes eingetreten ist, welche
Zukunft Gott für uns bereit hält und wie wir daraus Hoffnung schöpfen
können. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen gesegneten November
– und danach eine frohe Advents- und Weihnachtszeit!
Pfr. Martin Klein
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