Rückblick: Abschied vom Lutherhaus

 

Abschied vom Lutherhaus

Fast 200 Gemeindeglieder
folgten am Mittwoch, 19. September, der Einladung zu einem Gemeindeabend
in den Großen Saal des Lutherhauses. Nach genau 110 Jahren hieß
es Abschied nehmen vom ältesten Gebäude und einem besonderen Zentrum
unserer Gemeinde. Einigen Gemeindegliedern fiel dies so schwer,
dass ihnen eine Teilnahme nicht möglich war.

Frau Andrea Stötzel
(Klavier) und Frau Anne Weber (Querflöte) gestalteten den musikalischen
Rahmen. Pfr. Schäfer ließ anhand von ca. 40 Bildern die lange und
außerordentlich reiche Geschichte des Hauses Revue passieren. Eine
Reihe von älteren Gemeindegliedern ergänzten dies durch persönliche
Erlebnisberichte.

Pfr. Schäfer erinnerte
zunächst an Pfr. Bergmann (1865 – 1922), den ersten Pfarrer der
Gemeinde und eigentlichen Betreiber des Gemeindehausbaues. 1892
kam er nach hier als 2. Pfarrer der Kirchengemeinde Weidenau, zu
der unser Bereich bis zur Gründung einer selbstständigen Kirchengemeinde
im Jahr 1898 gehörte. In Klafeld, bzw. Geisweid besaß die Kirchengemeinde
keine eigenen Räumlichkeiten. Ihr stand nur ein Kapellenrecht an
der alten Marktschule zu. Das Presbyterium Weidenau lehnte gleichzeitig
jede Baumaßnahme hier ab. So fand Pfr. Bergmann einen Ausweg in
der Gründung einer „Gemeindehausgesellschaft“. Die Spendenbereitschaft
in der Gemeinde war außerordentlich groß: nach Aufruf wurden innerhalb
einer Woche 6.500 Mark gespendet! Das entspricht etwa dem Gegenwert
eines halben Einfamilienhauses. Das Eisenwerk und die Siegener Verzinkerei
(SAG) steuerten 3.700 Mark dazu. So konnte bald an der damaligen
Friedhofsstraße mit dem Bau begonnen werden. Am 17. Juli 1897 erfolgte
unter Beteiligung der gesamten Gemeinde und in Anwesenheit des westfälischen
General-Superintendenten Nebe aus Münster die feierliche Indienststellung.

Die vielen kirchlichen
Vereine fanden nun hier eine geräumige Heimstatt: Kirchenchor, kirchlicher
Posaunenchor, Jünglingsverein II, Kinderchor, Zitherverein, Männerchor,
Frauenchor, Vaterländischer Frauenverein, Frauenhilfe, Jungfrauenverein,
Evangelischer Arbeiterverein usw. Eine Besonderheit war, dass sich
auch ein Kirchlicher Turnverein bildete, der bis nach dem 1. Weltkrieg
Bestand hatte.

Die einzelnen
Vereine und auch die Kirchengemeinde lud ständig ein zu Familienabenden
in der Woche oder zu Familiennachmittagen am Sonntag. Die große
Bühne war ideal für Theaterstücke, Konzerte und Darbietungen unterschiedlicher
Art. Es liegen noch viele Programmzettel vor, die von einem erstaunlich
regen Leben zeugen. Das Lutherhaus entwickelte sich zu einem Gemeindezentrum
im besten Sinne des Wortes.

Auch über den
kirchlichen Rahmen hinaus bot es Raum für weitere Aktivitäten. So
konnte Frau Elfriede Schneider von der Nähschule auf der Bühne des
Hauses berichten. Bei Frau Teimann haben ganze Generationen Geisweider
Frauen das Nähen gelernt. In bester Erinnerung bleibt für viele
ältere Geisweider das Lutherhaus-Kino. Frau Charlotte Laser hatte
interessanterweise ein Notizbuch ihres Großvaters Rudolf Heider
mitgebracht, in dem er penibel Ein- und Ausgaben des Kinobetriebes
und die bestellten und gezeigten Filme verzeichnet hatte. Frau Emmi
Reeh gab uns einen lebendigen Bericht von solch einem Kinoabend.
Herr
Hans Hermann Kölsch erinnerte sich an eine „Kindererholung“, die
in der Notzeit nach dem Ende des 2. Weltkrieges im Lutherhaus eingerichtet
war. Schlecht ernährte Kinder bekamen hier wohl Quäkerspeise. Mit
Schaudern erinnerte ich Herr Kölsch an die tägliche Lebertran-Ration.
Frau Waltraut
Haarth erzählte in ihrer humorvollen Art vom Mädchenstunden
bei Gemeindehelferin Hanna Buscher. Frau Annette Weber trug ein
Gedicht vor, das einen heutigen Probeabend des Kirchenchores in
bunten Farben schildert (wir wollen es an anderer Stelle abdrucken!).

Pfr. Schäfer erinnerte
außerdem an die großen Altenfeiern und Weihnachtsfeiern, die immer
sehr beliebt waren. Bei solchen Gelegenheiten wurden in den Wirtschaftswunderjahren
wahre Tortenschlachten geschlagen. Der VDK und andere Gruppen nutzten
in gleicher Weise den Großen Saal.
Das DRK führte
seit Menschengedenken hier Blutspendetermine durch.

Im Januar 1947
wurde der erste kirchliche Kindergarten auf der Bühne des Lutherhauses
eröffnet. Dieser Notbehelf dauerte bis zur Eröffnung des neuen Kindergartens
an der Talkirche 1958.

Allen Geisweider
Familien war der Große Saal als Raum für Beerdigungsnachfeiern vertraut
und willkommen.

Seit den 80er
Jahren entwickelte unser Gemeindepädagoge Wolfgang Hofheinz in den
alten Räumen neue Angebote für Kinder und Jugendliche wie Teestube,
Teentreff, Spielekarussell, Kindertage usw. Unvergesslich sind die
über 20 Kinderbibelwochen in allen Räumen des alten Hauses mit bis
zu 130 Kindern und 40 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen. Das Haus
wurde buchstäblich auf den Kopf gestellt, auf der Bühne wurden biblische
Geschichten auf unverwechselbare Weise lebendig.

Erinnert wurde
auch an fleißige und freundliche Hausmeister- und Küsterleute im
Hause, angefangen beim „Ohm Bertelmann“ am Anfang bis zu Familie
Hasenkamp heute. Wir gedachten der Frau Legler, die ein viertel
Jahrhundert die gute Seele des Hauses war, Küsterin aus Berufung
und unvergessen. Familie Hasenkamp hat im gleichen Geiste die Arbeit
bis heute weitergeführt. Pfr. Schäfer erinnerte an die Kleiderkammer,
die durch Hasenkamps zu einer ganz wichtigen und segensreichen diakonischen
Einrichtung geworden ist – weit über Geisweid hinaus.

Es wurde an diesem
Abend auch deutlich, dass in 110 Jahren kirchliche Arbeit in diesem
Hause manchen Wandelungen und Veränderungen unterworfen war. Das
Eine hat sich mit der zeit überlebt, dafür ist Anderes entstanden.
Es kam an diesem Abend bei allen Anwesenden Wehmut auf im Blick
auf den Abschied von einem so traditionsreichen Hause.

Helfen kann uns
nur der Blick nach vorne.
Gemeindearbeit, Kinder- und Jugendarbeit,
Gruppen und Chorarbeit wird weiter gehen – in neuen Räumen, im Pfarrhaus
an der Talkirche, im Gemeindezentrum Wenscht und im Gemeinderaum
Gerberstraße.

Helfen kann uns
nur der Blick nach oben.
Gott ist nicht an Raum oder Zeit gebunden.
Auf seine Zusage wollen wir vertrauen: „Ich bin bei euch, zu jeder
Zeit und an jedem Ort“.

Der Gemeindeabend schloss mit dem neueren
Kirchenlied, das in der Wendezeit 1989 in der DDR entstandenen ist:

Vertraut den
neuen Wegen, auf die der Herr und weist.
…..Der uns in frühen
Zeiten das Leben eingehaucht, der wird uns dahin leiten, wo er uns
will und braucht…..
Er selbst kommt uns kommt uns entgegen. Die
Zukunft ist sein Land. Wer aufbricht, der kann hoffen in Zeit und
Ewigkeit. Die Tore stehen offen. Das Land ist hell und weit.“