Auf ein Wort ….

Die dem Herrn vertrauen, schöpfen
neue Kraft.

Jesaja 40, 31

Wer das Bild einmal gesehen hat, wird beeindruckt
gewesen sein: das Bild des Adlers, der seine Schwingen ausbreitet
und in die Lüfte steigt, vom Aufwind getragen, scheinbar schwerelos.
Man kann nur staunen, wenn man die Flugvorführungen eines Falkners
beobachtet. Schwerelos über die Erde – so müsste man das Leben meistern
können!

Schön wär’s! Aber es ist zu schön, um wahr
zu sein. Auch wenn die Bibel genau dieses Bild benutzt, um die Kraft
des Glaubens und des Hoffnung zu beschreiben, mit der wir als Christen
rechnen dürfen: „Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass
sie auffahren mit Flügeln wie Adler…“ Schön wär’s! Aber das ist
ja nicht unsere Wirklichkeit. Unser Alltag sieht anders aus. So
wie das Leben der Menschen, an die der Prophet in Gottes Auftrag
dieses Wort erstmals gerichtet hat. In Gefangenschaft saßen sie
damals, die Israeliten, verschleppt in die Weiten des babylonischen
Reiches, heimatlos, rechtlos, hoffnungslos. Immer neuen Depressionen
waren diese Menschen ausgesetzt, sie waren am Ende ihrer Kraft.
Fertig, kaputt.

So weit entfernt sind wir von jenen Ersthörern
nicht. Auch wenn Tausende von Jahren zwischen ihnen und uns liegen.
Ist nicht mit Händen zu greifen, dass die Zahl der gefährdeten und
belasteten Menschen ständig zu nimmt, dass Depressionen zu- und
Lebensmut ab nimmt, ganz zu schweigen von der „Erschöpfung“ unserer
Erde, die längst unsere Gewässer, die Luft und unser Großklima erfasst
hat? Und auch im Blick auf unseren Glauben sieht es nicht viel anders
aus. Wer weiß denn nichts von Talfahrten seines Glaubens, von Durststrecken
der Hoffnung, von innerer Müdigkeit? Da sehen dann auch junge Leute
auf einmal ganz alt aus. Nein, wir sind keine Adler, die sich schwerelos
über die Lasten und Sorgen des Alltags erheben können. Wie viele
sehnen sich aber gerade nach neuen Kräften, nach Tankstellen der
Zuversicht.

Ob uns hier der alte Prophet nicht Hilfe geben
kann? „Die auf Jahwe harren, erneuern ihre Kraft“, so sagt der hebräische
Wortlaut. Harren auf Gott – das ist etwas anderes als das ungeduldige
Warten, bei dem einer alle 5 Minuten auf die Uhr schaut. Solches
Warten taugt nicht für den Umgang mit Gott. Harren – das meint das
feste Vertrauen in zuversichtlicher Gelassenheit, das da von aus
geht, dass Gott jetzt und hier handeln kann und dass er mit seiner
Kraft Einfluss nehmen kann auf unsere Schwächeperioden. Harren –
das ist ein Warten jenseits von Ungeduld und Nervosität, aber auch
abseits von jedem gleichgültigen Fatalismus. Es ist das Beharren
auf Gottes Zusage „Ich bin bei dir, dass ich dir helfe“.

Wo man dieses Harren übt, kann man Gottes
Kraft erfahren, darf man inmitten der eigenen Erschöpfung neue Kraft
schöpfen. Freilich: diese Kraft Gottes hat nicht viel zu tun mit
dem, was in unserer Welt Kraft genannte und als Kraft angepriesen
wird, mit Finanzkraft, mit Körperkraft, mit PS oder Atomkraft, mit
Muskel- oder Nervenkraft. Wir müssen an dieser Stelle unsere üblichen
Vorstellungen korrigieren lassen. Gottes Kraft – dieses Wort zeigt
geradewegs auf Jesu Kreuz. Dort ist die Kraft Gottes, die „neue
Kraft“ am eindrucksvollsten sichtbar geworden. Die Kraft, die im
Unterliegen siegt. Die Kraft, die wir erfahren, wenn wir frei geworden
sind von menschlichem Kraftdenken und irdischem Machtstreben. Wenn
wir das Leben und auch das Glauben nicht mehr aus eigener Kraft
schaffen wollen. „Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft
ist in den Schwachen mächtig“, so hat es Paulus erfahren.


Die gleiche Erfahrung hat in der Barockzeit
auf seine Weise der Gründer des Hallischen Waisenhauses, August
Hermann Francke, gemacht. Er war Pfarrer in einer Vorstadt von Halle
a.d. Saale, die ein ganz schwieriger sozialer Brennpunkt war. Beherzt
nahm der Pfarrer einige Straßenkinder in sein Pfarrhaus auf. Dann
organisierte er einen ersten Elementarunterricht im Hause für weitere
Kinder. So begann aus kleinsten und bescheidensten Anfängen das
Glaubenswerk der bedeutenden Franckeschen Stiftungen. Den Giebel
des Hauptgebäudes ziert der Wahlspruch A.H. Franckes „Die auf den
Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln
wie Adler.“

Ich wünsche uns als Kirchengemeinde in der
gegenwärtigen schwierigen Umstrukturierungsphase etwas von dieser
Erfahrung – und ich wünsche Ihnen in Ihrem jeweiligen ganz persönlichen
Ergehen.

Es grüßt Sie

B. Schäfer, Pfr.