Brief vom Präses Alfred Buß zur Lage der EKvW

Evangelische Kirche
von
Westfalen

Der Präses

An die
Pfarrerinnen
und Pfarrer
Presbyterinnen und Presbyter
Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter in den Gemeinden,
Kirchenkreisen,
Ämtern und Einrichtungen
Mitglieder der Synoden
und
Kreissynodalvorstände

20.06.2006

Liebe Schwestern und Brüder,

in diesen Wochen beherrscht eine Frage die
Diskussionen und Beratungen in Presbyterien, Synoden und anderen
Leitungsorganen unserer Kirche: Wie kommen wir in den vor uns liegenden
Jahren mit erheblich geringeren Finanzzuweisungen aus der Kirchensteuerverteilung
zurecht? Diese Frage geht für viele Beteiligte über die Schmerzgrenze
hinaus und ruft Ratlosigkeit, Ärger, Unsicherheit und Existenzangst
hervor.
Ich wende mich mit diesem Brief an alle, die haupt-
oder ehrenamtlich in unserer Evangelischen Kirche von Westfalen
(EKvW) Leitungsaufgaben wahrnehmen und in ihr haupt- oder nebenamtlich
Dienst tun. Dabei leiten mich drei Motive:

  • Zum einen liegt mir daran, Ihnen dies
    zu sagen: In der Kirchenleitung, im Landeskirchenamt und bei
    mir kommt an, was Sie in den Gemeinden, Kirchenkreisen, Ämtern
    und Einrichtungen unserer EKvW umtreibt. Wir müssen die Probleme
    jetzt besonders genau kennen und wahrnehmen, damit wir auf allen
    Ebenen der EKvW in unserem Tun und Lassen geerdet bleiben.
  • Zum anderen sollen Sie Informationen
    darüber bekommen, welche Faktoren zu dieser Situation in unserer
    Kirche geführt haben und welche Entwicklung – nach menschlichem
    Erkenntnisvermögen – zu erwarten ist.
  • Zum dritten möchte ich Ihnen einige Aspekte
    nennen, die mir aus unserem Reformprozess Kirche mit Zukunft
    und aus Diskussionen innerhalb der EKD auf dem Herzen liegen.

I. Was heute ist: Situation

Die Finanzentwicklung innerhalb der EKvW sowie
Eindrücke aus Gesprächen, Briefen, Besuchen, Visitationsberichten,
Synodalversammlungen, Pfarrkonferenzen oder Synoden zeigen mir,
dass die Solidarität zwischen den verschiedenen Handlungsebenen
und Berufsgruppen in unserer Kirche auf eine harte Probe gestellt
ist. Ohne Zweifel stehen wir allerorten vor der Aufgabe, eine große
Kirche kleiner zu setzen. Das erfordert harte Schnitte, die nicht
nur Sachen betreffen, sondern Beziehungen zwischen Menschen erheblich
berühren.

Presbyterinnen und Presbyter bringen ihre
Gaben und Kräfte ehrenamtlich ein, um Kirche mitzugestalten. Unversehens
stehen sie in dem Konflikt, die Schließung von Kirchen, Gemeindehäusern
oder das Ende ganzer Arbeitsbereiche mit verantworten zu müssen.
Immer häufiger stehen Arbeitsplätze von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
zur Disposition, weil die finanzielle Absicherung nicht mehr gewährleistet
werden kann. Oft ist nicht klar, ob es für die Betroffenen einen
neuen Arbeitsplatz gibt. Pfarrstellen geraten unter Druck, weil
die Zahl der Gemeindeglieder schwindet. Der Arbeitsumfang und die
Konflikte wachsen, das Gehalt aber wird kleiner. Junge Theologinnen
und Theologen kommen kaum in reguläre Pfarrstellen, weil sie nicht
ausgeschrieben werden können. Zwischen Menschen, die lange Zeit
vertrauensvoll als Haupt-, Neben- und Ehrenamtliche zusammengearbeitet
haben, gerät die Kommunikation in Schieflage.

Auch Kirchen werden – Gott sei Dank – nicht
nur als beliebige Mauerwerke wahrgenommen, sondern als Gotteshäuser.
Mit der Umwidmung von Kirchen werden persönliche Empfindungen angetastet:
Segen und Fluch, Freude und Trauer, Lob und Flehen fanden für viele
Menschen ihren Ausdruck an genau diesem Ort. Damit muss sensibel
umgegangen werden, wenn es keine Alternative zur Entwidmung eines
Gotteshauses mehr gibt. Gerade in Zeiten des Rückbaus ist es wichtig,
Sachen zu klären und Personen zu stärken.

Es liegt zwar im Wesen einer presbyterial-synodal
verfassten Kirche wie der EKvW, dass sich Leitungsprozesse vielstimmig
und auch kontrovers gestalten. Eine wichtige Voraussetzung für ihr
Gelingen ist aber die Kenntnis und Transparenz der Entscheidungsgrundlagen,
sonst lässt uns die Not zu vielen Strohhalmen greifen, die nicht
tragen. Wir müssen nun die Realitäten anerkennen und unsere Kirche
auf allen Ebenen zurückbauen. Jetzt zeigen sich unübersehbar die
Folgen früherer Entscheidungen. Vor sieben Jahren wurde in unserer
Reformschrift Kirche mit Zukunft (S. 25f) festgehalten: „Die finanzielle
Situation der Evangelischen Kirche von Westfalen wird … auch davon
bestimmt, dass die seit 1985 bekannte, für die EKvW problematische
demographische Entwicklung nicht rechtzeitig genug in eine vorausschauende
und bezahlbare Personalplanung umgesetzt wurde. Die EKvW hat in
den Jahren 1970 bis 1997 etwa 20 Prozent ihrer Mitglieder verloren,
in dieser Zeit aber ihre Beschäftigtenzahl um fast 90 Prozent erhöht.“

Die (auf den Seiten 19 bis 28) in der Reformschrift
zutreffend beschriebene Entwicklung wird gegenwärtig Realität; in
den vergangenen Monaten mussten wir allerdings erkennen, dass die
damit verbundene Finanzproblematik durch zwei weitere „hausgemachte“
Faktoren verschärft ist: die Versorgungskasse für Pfarrerinnen und
Pfarrer zeigt erhebliche Deckungslücken; und Rückzahlungen beim
Clearing in der Kirchensteuerzuweisung innerhalb der EKD sind nicht
ausreichend durch Rücklagen gedeckt. Durch diese Entwicklung wurden
den bisherigen Planungen auf allen Ebenen der EKvW die bis dahin
gültigen Basisdaten entzogen. Der Rückbau muss in noch schärferem
Tempo vollzogen werden. Dies hat vielerorts Verständnislosigkeit
und Ärger hervorgerufen.

II. Was gestern war: Ursachen
Versorgungskasse

Im gesamten Bereich der Versorgungskasse,
also Rheinland, Westfalen und Lippe, stehen heute etwa 5.200 Aktiven
4.080 Leistungsempfänger gegenüber. 2030 werden nur noch für etwa
1.500 Aktive Beiträge zahlen, aber mehr als 6.200 Ruheständler zu
versorgen sein. Die Summe der fälligen Ruhestandsbezüge (2005: 139
Millionen) wird also bis 2030 um das 2,3-fache zunehmen. Gleichzeitig
nimmt das Beitragsvolumen wegen der geringer werdenden Zahl der
Aktiven kontinuierlich ab.

Die Ursachen reichen in die achtziger Jahre
zurück. Damals zeichnete sich ab, dass viel mehr junge Leute Theologie
studierten, als Pfarrstellen vorhanden waren. Bis 1992 wuchsen die
Kirchensteuereinnahmen stetig. Damit wuchs auch die Überzeugung,
dass keine Theologen nach bestandenem Examen arbeitslos werden sollten.
Zuvor hatte es jahrelang starken Mangel an Pfarrern gegeben: Diese
Erfahrung war noch gegenwärtig.

Um die Theologenstellen zu finanzieren, senkte
man die Versorgungskassenbeiträge von 40 auf 30 Prozent der Bemessungsgrundlage
(Endgehalt eines Pfarrers) und bildete daraus eine Rücklage für
die Pfarrbesoldung. 1992 beschloss die Landessynode, für die absehbaren
hohen Zahlungen an die ostdeutschen Landeskirchen an das Sparbuch
zu gehen – nämlich an die Rücklage, die ursprünglich für die Bezahlung
zusätzlicher Theologen auch außerhalb der Pfarrstellen gebildet
worden war.

Doch die „blühenden Landschaften“ blieben
aus, die Konjunktur entwickelte sich nicht wie erhofft. Hinzu kamen
die Reformen der Lohn- und Einkommenssteuer seit 1993: Die Kirchensteuereinnahmen
brachen weg. Die Landessynode sah sich gezwungen, Beschränkungen
der Aufnahme in den Vorbereitungsdienst zu beschließen und erhebliche
Eingriffe in das Dienstrecht vorzunehmen. Heute stehen in der EKvW
1540 Pfarrerinnen und Pfarrern auf regulären Stellen 469 Kolleginnen
und Kollegen im Entsendungsdienst und 131 Beschäftigungsaufträge
gegenüber.
Ab 2002 wurde das Beitragssystem der Versorgungskasse
grundlegend überarbeitet. Heute liegt der Beitragssatz für die Versorgungskasse
bei 50 Prozent und erhöht sich künftig um jeweils einen Prozentpunkt
pro Jahr bis zu 60 Prozent. Das wird jedoch nicht ausreichen, um
die Versorgung auch über das Jahr 2030 hinaus zu sichern. Deshalb
ist, wie im Rundschreiben vom 23. Dezember 2005 angekündigt, neben
den jetzigen Stellenbeiträgen auch ein Beitrag für die Leistungen
der Versorgungsempfänger notwendig. Voraussichtlich muss die Landeskirche
dazu für 2007 rund 3,5 Millionen Euro aufbringen, für 2008 sieben
und für 2009 elf Millionen Euro.

Clearing

Das laufende wie auch die nächsten Haushaltsjahre
werden durch erhebliche Rückzahlungen aus dem Kirchenlohnsteuer-Verrechnungsverfahren,
dem sogenannten Clearing, belastet werden.

Was ist darunter zu verstehen und wie kommt
das? Die Kirchenlohnsteuer wird zusammen mit der Lohnsteuer vom
Arbeitgeber einbehalten und an das Betriebsstättenfinanzamt abgeführt.
Sie steht der Landeskirche zu, in der die evangelischen Erwerbstätigen
wohnen. Da Betriebsstätten und Wohnsitze ungleich über die Landeskirchen
verteilt sind, geht die Kirchenlohnsteuer vielfach bei Landeskirchen
ein, denen sie gar nicht zusteht. Es bedarf daher eines Abrechnungsverfahrens,
damit die Landeskirchen die Kirchenlohnsteuer ihrer Gemeindeglieder
erhalten. Dieses Verfahren wird von der Clearing-Stelle beim Kirchenamt
der EKD durchgeführt: Landeskirchen mit überhöhtem Kirchenlohnsteueraufkommen
leisten Abschlagszahlungen, Landeskirchen mit zu niedrigem Aufkommen
erhalten Vorauszahlungen. Die Abrechnung erfolgt, sobald die Finanzverwaltung
einen abgeschlossenen und ausgewerteten Veranlagungszeitraum vorlegt.
Damit kann die Abrechnung frühestens nach drei Jahren erfolgen.
So resultieren die aktuellen Rückzahlungsverpflichtungen für Westfalen
aus der Abrechnung für das Jahr 2001 und den zu erwartenden Abrechnungen
für die Jahre 2002 ff.

Die Festsetzung der Vorauszahlungen beruht
naturgemäß auf Basiszahlen zurückliegender Jahre. Veränderungen
wie etwa die Verlagerung von Betriebsstätten, Wanderungsbewegungen
der Erwerbstätigen und Verschiebungen in der Finanzkraft zwischen
den Landeskirchen auf Grund der unterschiedlichen regionalen Wirtschaftsentwicklung
können das spätere Abrechnungsergebnis erheblich verändern. Die
EKD hat wegen der Risiken des Systems seit jeher die Bildung einer
Rückstellung in Höhe eines Clearing-Jahresaufkommens empfohlen.
Wohl unter dem Eindruck, dass Clearing-Abrechnungen regelmäßig zu
Nachzahlungen führen, wurde dieser Empfehlung lange Zeit nicht gefolgt.
In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass die EKvW 1988
eine Nachzahlung von 70 Millionen Euro erhielt. Damit wurde das
Initiativ-Programm zur Schaffung von Arbeitsplätzen in Kirche und
Diakonie aufgelegt. Die Bildung einer Clearing-Rückstellung erfolgte
nicht.

Ab 1997 wurde mit dem Aufbau einer solchen
Rückstellung begonnen. Bis 2006 wurden rund 25 Millionen Euro zurückgelegt.
Einschließlich der noch erwarteten Abrechnung für das Jahr 2002
werden jedoch im laufenden Jahr etwa 40 Millionen Euro zur Rückzahlung
fällig. Damit muss die Rückstellung aufgestockt werden: Statt rund
sechs Millionen Euro – wie von der letzten Landessynode in Aussicht
genommen – sind 20 Millionen notwendig. Die gleiche Summe dürfte
auch in den Folgejahren anzusetzen sein.

III. Was morgen sein könnte: Zukunftsmöglichkeiten

Mit den hier skizzierten Entwicklungen sind
die in der Vorlage Kirche mit Zukunft prognostizierten Finanzrückgänge
beschleunigt Realität geworden. Die Folgen treffen die EKvW auf
allen Ebenen, von der Gemeinde vor Ort bis zur Landeskirche. Jetzt
gilt es zu sehen, was ist. Eine tiefgreifende Bewusstseinsänderung
ist nötig. Wir müssen die Größe und die Strukturen unserer Kirche
der Mitgliederentwicklung anpassen und dabei das Kleinerwerden gestalten.

Die sehr viel geringeren Einnahmen aus der
Kirchensteuer können nicht annähernd durch andere Mittel ausgeglichen
werden. Dennoch ist jetzt viel Fantasie und Kreativität gefragt,
um neue Finanzquellen für wichtige kirchliche Arbeitsbereiche zu
erschließen. Manches ist auf dem Weg: Wir investieren in Fundraising-Ausbildung,
Stiftungen werden vielerorts zur Sicherung kirchlicher Arbeitsfelder
ins Leben gerufen und eine Gesetzesvorlage über die Einführung von
Kirchenbeiträgen für Bezieher von Alterseinkünften wird der Landessynode
2006 vorgelegt. Auch müssen wir uns – wahrlich nicht nur aus finanziellen
Gründen – daran erinnern, dass es in Westfalen etwa 400.000 Getaufte
gibt, die in den letzten 25 Jahren die EKvW verlassen haben. Etwa
zwölf Prozent von ihnen sind seitdem wieder in die Kirche eingetreten.
Uns kann es nicht gleichgültig lassen, dass 350.000 Getaufte ihrer
Kirche den Rücken gekehrt haben. „…weil die Getauften durch ihre
Taufe in die Kirche, in den Leib Christi eingefügt worden sind,
bedeutet die Entscheidung zum Austritt eine Wunde an diesem Leib,
einen Verlust für die Gemeinschaft in der konkreten Gemeinde, aber
auch einen (ihnen selbst oft nicht bewussten) geistlichen Schaden
der Getauften, die die Verbindung zu der für das Leben wesentlichen
Quelle verlieren.“ (aus: Taufe und Kirchenaustritt – Theologische
Erwägungen der Kammer für Theologie zum Dienst der evangelischen
Kirche an den aus ihr Ausgetretenen, S. 12)

Mit Wiedereintrittsstellen erzielen wir beachtliche
Erfolge. Die Zahl der Austritte hat sich in den letzten Jahren zu
den Eintritten vom Verhältnis drei zu eins (drei Austritten stand
ein Eintritt gegenüber) auf das Verhältnis von zwei zu eins verändert.
Dennoch: Jeder Austritt ist einer zu viel, und es gilt, den Ausgetretenen
nachzugehen.

Im September 2006 werde ich das Projekt
Mit Kindern neu anfangen eröffnen. Wenn die Glaubensweitergabe in
den Familien nicht mehr gelingt, müssen Kinder und Jugendliche durch
ihre Kirche erfahren und erleben, dass sie getauft sind und zur
Kirche gehören. Die Weitergabe des Glaubens an die nächste Generation
ist eine unserer vornehmsten Aufgaben. So muss die religiöse Erziehung
von Kindern und Jugendlichen in unserem Blickfeld bleiben, selbst
wenn wir mancherorts die Trägerschaft von eigenen Einrichtungen
nicht mehr finanzieren können.

„Wir wollen eine Kirche sein, die sich
ihres Glaubens und ihrer evangelischen Identität in allen Reformen
bewusst bleibt, die Menschen in ihren Fragen und Problemen wahrnimmt
und ihnen die bedingungslose Zuwendung Gottes zuspricht. Wir wirken
an der ethischen Orientierung in unserer Gesellschaft mit und mahnen
notwendige Veränderungen an“,
heißt es im Kirchenbild der EKvW
(Unser Leben – Unser Glaube – Unser Handeln). Das fordert uns heraus,
auch die eigenen Realitäten ungeschminkt wahrzunehmen und notwendige
Veränderungen anzugehen.

Hauptursache für die Finanzentwicklung
in der EKvW ist der Mitgliederrückgang. Hinzu kommen von uns nicht
direkt beeinflussbare Faktoren wie die wirtschaftliche Entwicklung
und die Steuerpolitik des Bundes, die zu leeren öffentlichen Kassen
geführt hat. Finanziell magere Jahre werden auf uns zukommen. Auch
wenn wir nennenswerte zusätzliche Finanzquellen erschließen sollten,
stehen wir jetzt auf allen Ebenen unserer Kirche vor der Frage,
welches eigene Profil wir stärken, was wir mit anderen gemeinsam
tun und was wir aufgeben müssen. Finanziell magere Jahre sind nicht
automatisch auch geistlich magere Zeiten. So nannte Josef seinen
– zwischen fetten und mageren Jahren in Ägypten – Zweitgeborenen
Ephraim, denn Gott hat mich wachsen lassen im Lande meines Elends
(1.Mose 41, 52).

Mir ist daran gelegen, dass auch in Zukunft
viele Menschen in unterschiedlichen Milieus und Lebenskulturen vom
Evangelium erreicht werden. Deshalb bitte ich alle, die in unserer
EKvW Leitungsverantwortung haben, bei ihren Entscheidungen die in
unserem Kirchenbild (Unser Leben – Unser Glaube – Unser Handeln)
aufgeführten Dimensionen kirchlichen Handelns im Blick zu haben.
Es wird von großer Bedeutung sein, dass Menschen im Jahreslauf und
im Lebenslauf, aber auch in unterschiedlichsten Lebenslagen erfahren:
Ihre Kirche hat ein Gesicht, und das Evangelium ist zu hören und
zu spüren. So formuliert es das Kirchenbild der EKvW:
„Damit
die christliche Botschaft möglichst viele Menschen erreicht, muss
kirchliches Handeln in vielfältigen Diensten und Angeboten Gestalt
annehmen – in Ortsgemeinden und gemeindeübergreifenden Diensten
im Kirchenkreis und in landeskirchlichen Ämtern und Werken… Durch
dieses breit gefächerte Angebot in den Ortsgemeinden und den funktionalen
Arbeitsbereichen ist unsere Kirche vielfältig im Alltag der Menschen
und der Gesellschaft präsent“
(Unsere Geschichte – Unser Selbstverständnis,
S. 28 f). Wir fragen jetzt noch intensiver danach, durch welche
bestehenden Strukturen die Verkündigung des Evangeliums behindert
oder gefördert wird. Auf allen Ebenen ist jetzt Aufgabenkritik dran:
Was müssen wir tun, was können wir lassen? Was können wir gut, was
können andere besser? Was können wir mit anderen tun? Was können
andere für uns mit erledigen? (Nach den Sommerferien 2006 wird eine
Arbeitshilfe vorliegen mit dem Titel Gemeinde auf gutem Grund.
Eine Hinführung zur Erstellung von Gemeindekonzeptionen für Kirchengemeinden
und Kirchenkreise. Kriterien – Planungshilfen – Arbeitsfolien. Die
Grundsätze zu Führung, Leitung und Zusammenarbeit in der EKvW
sollten
in der jetzigen Situation unbedingt Beachtung finden: siehe dazu
www.reformprozess.de.)

Wir haben also jetzt zu entscheiden, welche
Arbeitsfelder wir stärken, bündeln oder auch aufgeben wollen. Mir
hilft es gegenwärtig, bei solchen Entscheidungen im Sieben-Jahres-Duktus
nach vorne zu denken und zum Beispiel die Frage zu stellen, wodurch
unsere Kirche in zweimal sieben Jahren herausgefordert und was in
zweimal sieben finanziell mageren Jahren noch zu finanzieren sein
wird. Dann fällt es mir leichter, mich den aufscheinenden Konturen
unserer EKvW in der Zukunft zuzuwenden, statt mich im Abschied von
liebgewordenen Strukturen zu verheddern. (Vor zweimal sieben Jahren
– 1992 – hatten wir das höchste Kirchensteueraufkommen; seitdem
haben wir 25 Prozent an Finanzkraft eingebüßt. Vor einmal sieben
Jahren begann unser Reformprozess Kirche mit Zukunft.)

Dies steht mir als Vision vor Augen: In zweimal
sieben Jahren wird unsere EKvW viel kleiner sein als jetzt, mit
bedeutend weniger Mitgliedern, Kirchen und Gemeindehäusern. Statt
gegenwärtig 2100 tun noch etwa 1200 Pfarrerinnen und Pfarrer in
ihr Dienst. Weitere Hauptamtliche bilden vor allem ehrenamtlich
Mitarbeitende fort. Die Kirchensteuer dient der Grundfinanzierung.
Weitere Arbeitsfelder werden aus anderen Finanzquellen unterhalten.
Es gibt weniger Kirchenkreise. Gemeinsame Dienstleistungseinrichtungen
für mehrere Kirchenkreise sind selbstverständlich geworden. Zahlreiche
unterschiedliche Gemeindeformen ergänzen sich zu einer bunten Landschaft.
Die Trennung zwischen ortsgemeindlichen und gemeinsamen Diensten
ist weitgehend überwunden. Gemeinden existieren in der klassischen
Parochie ebenso selbstverständlich wie zum Beispiel im Zusammenhang
von Stadteilzentren, Citykirchen, Schulen, Freizeiteinrichtungen
oder als Profilgemeinden mit geistlichem, kirchenmusikalischem,
sozialem, kulturellem oder jugendbezogenem Schwerpunkt. Viele der
historischen Kirchen sind Zentren mit großer Ausstrahlungskraft,
weil hier geistliches, diakonisches, seelsorgliches, ökumenisches
und gesellschaftspolitisches Leben und Handeln der Gemeinde konzentriert
worden sind. In strukturschwachen Gebieten entwickeln sich kirchliche
Zentren zu quirligen Mittelpunkten und wirken der Verödung ganzer
Landstriche entgegen. Sie beherbergen einen Knotenpunkt ländlicher
Infrastruktur oder städtischer Kommunikationskultur. In kirchlichen
Bistros gibt es die Poststelle, Brötchen, Zeitungen, Tickets und
auch eine einladende Gastronomie. So wird zugleich die Gemeindearbeit
mit finanziert. Diese kirchlichen Zentren sind auch Anlauf- und
Ruhepunkt für Leib und Seele. Vielerorts hat man sich ökumenisch
zusammengetan…

Das sind meine Vorstellungen. Ich bitte Sie
herzlich, selber solche Szenarien für die Zukunft Ihres Verantwortungsbereiches
zu entwickeln. Sie mögen Ihnen wirklichkeitsnäher erscheinen als
meine. Ich möchte hier diesen Stein ins Wasser werfen, damit er
Kreise zieht.

Der Rat der EKD hat einen solchen Perspektivwechsel
schon vor einiger Zeit als notwendig herausgestellt. Er verlangt
eine Umkehrung in der Begründung für die Existenz kirchlicher Arbeitsfelder:
Nicht die lange Tradition eines Arbeitsgebietes, sondern seine Bedeutung
für die Zukunft soll maßgeblich für seinen Stellenwert sein. In
Kürze wird der Rat der EKD unter dem Titel „Kirche der Freiheit“
eine Ausarbeitung zu Perspektiven der Evangelischen Kirche im 21.
Jahrhundert vorlegen. Darin sind viele Aspekte unseres Reformprozesses
Kirche mit Zukunft aufgenommen und weitergeführt. Ich empfehle
Ihnen allen, sich mit den darin aufgezeichneten Perspektiven auseinanderzusetzen
und sie auf Ihre konkreten Herausforderungen vor Ort hin zu reflektieren.

Liebe Schwestern und Brüder, Menschen wollen
auf vielfältige Weise in ihrer Lebenswirklichkeit angesprochen werden.
Zu Pfingsten verstanden alle die frohe Botschaft in ihrer Muttersprache.
Parther, Meder, Elamiter, Juden, Römer, Kreter, Araber
und wie sie alle hießen – bedurften keiner Einheitssprache, um zu
verstehen. Das ist das pure Gegenteil der in unserer Kirche so häufig
anzutreffenden Milieuverengung: Alle sind von Gott angesprochen
in seiner Geschichte mit uns Menschen. Zu Pfingsten wird die Sprache
der Herkunft gerade nicht verleugnet. Die Zugehörigkeit zu einem
besonderen Volk, einer eigenen Kultur oder Bildung sowie einer ganz
persönlichen Geschichte wird nicht aufgehoben.

Auch heute suchen Menschen aus unterschiedlichsten
Lebenskulturen nach klaren, unverstellten Antworten auf ihre Lebensfragen.
Sie suchen nach Orientierung und Vergewisserung. Über Religion und
Glauben wird in der Öffentlichkeit wieder geredet. Es ist an uns,
diese Chance zu ergreifen. Wir können auf vielgestaltige Weise weitergeben,
wie schön, notwendig und wohltuend das Evangelium ist, wie Christus
befreit zu einem ganzen, heilen Leben. Eine evangelische Kirche,
die dieses Grundes gewiss ist, will viele unterschiedliche Menschen
erreichen. Keiner kann von sich aus Lebensgewissheit schaffen oder
Glauben herstellen. Das können wir auch als Kirche nicht. Aber wir
können darum bitten, dass Gottes Geist mitten unter uns Wohnung
nimmt. Mit dieser Bitte grüße ich Sie alle herzlich: Veni creator
spiritus! Komm, heilger Geist, der Leben schafft!

Ihr


(Alfred
Buß)

PS: Der Brief ist auch im Internet zu finden
(pdf zum Herunterladen): www.ekvw.de

Anlage

1. Vorschläge für die Landessynode 2006

Einbußen beim Gehalt

Pfarrerinnen und Pfarrer, die jetzt in der
Vergütungsgruppe A 13 sind, werden nicht mehr in die Gruppe A 14
„durchgestuft“. Das bedeutet: Wer die Endstufe von A 13 noch nicht
erreicht hat, wird noch innerhalb dieser Gruppe höhergestuft, doch
entfällt dann der nächste (bisher nach zwölf Jahren übliche) Schritt
nach A 14. Pfarrerinnen und Pfarrer bleiben im Einkommen etwa einem
Studienrat gleichgestellt. Wer bereits eine höhere Vergütung erhält,
bezieht den über die Endstufe von A 13 hinausgehenden Betrag weiter.
Bei künftigen Gehaltsanhebungen wird diese Zulage jeweils um die
Hälfte des Erhöhungsbetrages gekürzt. Für besondere Funktionen des
Pfarrdienstes ist an eine Zulage gedacht: bei Assessoren in Höhe
der Differenz zu A 14, für Superintendenten in Höhe der Differenz
zu A 15. Die Besoldungen für Mitglieder der Kirchenleitung werden
entsprechend überarbeitet, die Bewertung der Beamtenstellen des
Höheren Dienstes überprüft.

Vorruhestand attraktiver machen

Weitere Entlastung sollen attraktivere Bedingungen
bringen, unter denen Pfarrerinnen und Pfarrer in den Vorruhestand
gehen können. Wer sich dazu entschließt, soll denjenigen Pfarrern
und Kirchenbeamten gleichgestellt werden, die bereits jetzt das
sogenannte vorgezogene Altersruhegeld – mit 63 – beziehen. Damit
sollen Pfarrstellen für die jüngere Generation freigemacht werden.
Alle Entscheidungen, ob und wie weitere Vergünstigungen eingeführt
werden, müssen sich an der Frage nach der Gerechtigkeit gegenüber
der nachwachsenden Generation, Theologen und andere Mitarbeitende,
orientieren. Denn die künftige Pfarrergeneration wird im Ruhestand,
auch wenn er erst mit dem 65. Lebensjahr beginnt, mit deutlich weniger
Geld auskommen müssen.

Kirchenbeitrag für Rentner

Viele Menschen im Ruhestand, die keine Kirchensteuer
zahlen, würden ihre Kirche gerne regelmäßig finanziell unterstützen.
Voraussichtlich wird der Landessynode im November ein Entwurf vorliegen:
Bezieher von Alterseinkünften, die nicht kirchensteuerpflichtig
sind, sollen 0,5 Prozent ihres Einkommens als Kirchenbeitrag entrichten.
Das gilt aber erst ab einem bestimmten Mindesteinkommen. Wichtige
Ausnahme: Wer zu einer der Gemeinden gehört, die bereits ein freiwilliges
Kirchgeld eingeführt haben, wird selbstverständlich nicht noch einmal
zur Kasse gebeten.

2. Bereits in Durchführung

Fundraising

Viele Organisationen, Firmen und Einzelpersonen
sind unter bestimmten Umständen bereit, Geld oder Sachmittel für
ihre Kirche zu geben. Fantasie, Gespür für das Mögliche und Beziehungspflege
können – in Verbindung mit handwerklich guter Arbeit – Geldquellen
auftun, die bisher verschlossen sind. Deshalb durchlaufen seit Dezember
2005 aus jedem Gestaltungsraum zwei Personen eine Ausbildung bei
der Fundraising-Akademie Frankfurt. Nach dem Abschluss im März 2007
werden sie, auch als Multiplikatoren, zur Verfügung stehen.

3. Weitere Informationen zur Kirchensteuer:
www.ekvw.de