Predigt Talkirche, Sonntag, 17.09.2017

GOTTESDIENST FÜR DEN VIERZEHNTEN SONNTAG NACH TRINITATIS

Tal- u. Wenschtkirche, 17.9. 2017

 
Text: Mk 1,40-45

 
Treffen sich Frau Müller und Frau Schneider beim Bäcker. Sagt Frau Schneider: „Erzählen Sie’s nicht weiter, Frau Müller, aber ich glaub, unser Pastor hat heimlich Damenbesuch. Ich wohne ja neben dem Pfarrhaus und weiß, dass seine Frau zur Kur ist. Aber als ich ihm heute Morgen die Anmeldung zur Seniorenfeier vorbeigebracht habe, da roch es im Hausflur heftig nach Parfüm. Das benutzt er bestimmt nicht selber!“ Kommt Frau Müller nach Hause und sagt zu ihrem Mann beim Mittagsessen: „Erzähl’s nicht weiter, Karlheinz, aber Pastor Meier geht fremd. Neuerdings geht da eine junge Frau ein und aus, die nach teurem Parfüm riecht. Frag mal Frau Schneider – die hat es selbst gesehen!“ Sitzt Herr Müller abends am Stammtisch und sagt: „Erzählt’s nicht weiter, Freunde, aber mit der Ehe von unserm Pastor steht es nicht zum besten. Meine Frau kennt doch die Frau Schneider, die neben dem Pfarrhaus wohnt. Und die hat neulich den Pastor mit so einer hübschen Blondine vor der Tür stehen sehen – eng umschlungen!“ So geht es weiter, und schon am übernächsten Tag glaubt die ganze Gemeinde zu wissen, dass die Scheidung von Pastor Meier unmittelbar bevorsteht.
Ehe sie jetzt falsche Schlüsse ziehen: diese kleine Episode ist frei erfunden. Aber sie beruht natürlich auf gewissen Erfahrungswerten. Deshalb kann man an ihr gut studieren, wie Gerüchte entstehen. Und man kann noch etwas daraus lernen: Wenn du möchtest, dass eine bestimmte Nachricht sich möglichst rasch verbreitet, dann senke deine Stimme zu einem Flüstern und beginne deine Mitteilung mit den Worten: „Erzähl’s bloß nicht weiter!“
Ein weiteres Beispiel für diese Regel liefert der heutige Predigttext. Jedenfalls könnte man ihn so verstehen. Er steht im Markusevangelium, in Kapitel 1:

Und es kam zu Jesus ein Aussätziger, der bat ihn, kniete nieder und sprach zu ihm: „Willst du, so kannst du mich reinigen.“ Und es jammerte ihn, und er streckte die Hand aus, rührte ihn an und sprach zu ihm: „Ich will’s tun; sei rein!“ Und alsbald wich der Aussatz von ihm, und er wurde rein. Und Jesus drohte ihm und trieb ihn alsbald von sich und sprach zu ihm: „Sieh zu, dass du niemandem etwas sagst; sondern geh hin und zeige dich dem Priester und opfere für deine Reinigung, was Mose geboten hat, ihnen zum Zeugnis.“ Er aber ging fort und fing an, viel davon zu reden und die Geschichte bekannt zu machen, so dass Jesus hinfort nicht mehr öffentlich in eine Stadt gehen konnte; sondern er war draußen an einsamen Orten; und sie kamen zu ihm von allen Enden.

Dieser Fall liegt natürlich ein wenig anders. Hier werden ja nicht Gerüchte über andere verbreitet. Hier kann der Betroffene selbst einfach nicht still sein – nach dem, was mit ihm passiert ist. Um das zu verstehen, muss man sich nur einmal klar machen, was es damals hieß, aussätzig zu sein. Als Aussatz galt nicht nur das, was wir heute Lepra nennen, sondern alle möglichen Hautkrankheiten, die mit Geschwüren, weißen Flecken und Ähnlichem verbunden waren. Wer Aussatz hatte, musste damit fertig werden, einen entstellten Körper zu haben. Aber nicht nur das: Er musste vor allem damit klar kommen, völlig getrennt von der Welt der Gesunden zu leben. Nicht weil seine Krankheit besonders ansteckend gewesen wäre. Sondern weil er als unrein galt. Er durfte an keinem Gottesdienst und keiner Opferfeier teilnehmen. Denn alle und alles, womit er in Berührung kommen würde, wäre ebenfalls unrein. Damit würde er die Gemeinschaft des Volkes Israel mit Gott gefährden, denn dazu war Reinheit vonnöten. Und deshalb musste er aus dieser Gemeinschaft ausgeschlossen werden. Er durfte keine ummauerte Stadt betreten und musste auch auf dem Dorf abseits leben. Niemand durfte ihn berühren oder ihm auch nur zu nahe kommen. Wer Aussatz hatte, der war sozusagen lebendig begraben.
Das mag uns alles sehr befremdlich vorkommen. Aber bevor wir denken, dass wir über solche Sitten erhaben sind: Was würden wir denn denken und fühlen, wenn wir wüssten, dass unser Nebenmann beim Abendmahl AIDS hat – auch wenn wir nicht mit ihm aus einem Kelch trinken müssen?
Wenn wir das alles bedenken, dann können wir wohl ermessen, wie erstaunlich das ist, was uns hier in knappen Worten erzählt wird. Ein Aussätziger kommt zu Jesus. Er wagt sich hin zu einem Gesunden, hinein in die Welt der Lebenden. Er bittet Jesus auf Knien, ihn gesund zu machen. Und Jesus tut es. Er berührt den Unberührbaren. Und das Wunder geschieht: Nicht Jesus wird unrein, sondern der Aussätzige wird rein. Ein Toter wird zum Leben erweckt.
Klar, dass der Geheilte das nicht für sich behalten kann. Stellen Sie sich vor, Sie hätten den Jackpot im Lotto geknackt und dürften es niemandem verraten! Geht doch gar nicht! Das hätte sich doch auch Jesus denken können. Da tut er etwas völlig Außerordentliches, und dann schlägt er plötzlich wieder den normalen Dienstweg ein: Der Priester soll die Heilung bestätigen, wie es das dritte Buch Mose anordnet, und dann soll der Geheilte die vorgeschriebenen Opfer im Tempel darbringen. Das konnte doch nicht gut gehen! Warum also die Geheimnistuerei? Nur weil Jesus sich sonst vor Patienten nicht retten könnte? Gerade so konnte er das bestimmt nicht verhindern.
Es muss also noch etwas anderes dahinter stecken. Weniger bei Jesus, sondern eher bei Markus, der uns das so erzählt. Dazu erinnere ich noch mal an die Lebensregel vom Anfang: Wenn ich sage: „Erzähl das bloß nicht weiter“, dann wird es erst recht weitererzählt. Denn jeder weiß ja: Dinge, über die man schweigen soll, sind gerade besonders spannend, interessant und wichtig. Und die möchte man natürlich anderen nicht vorenthalten. Schließlich kann man sich dadurch ja auch selbst ein bisschen wichtig machen.
So ähnlich ist es auch in unserem Predigttext. Wenn Jesus dem Geheilten Schweigen auferlegt, dann wird dadurch deutlich: Hier ist etwas besonders Wichtiges geschehen. Nun ist eine wunderbare Heilung natürlich an sich schon etwas Besonderes. Aber es steht noch etwas Wichtigeres dahinter: Diese Heilung ist ein Zeichen. Sie ist ein Zeichen dafür, dass Jesus der verheißene Retter ist. Denn von dem erwartet man so etwas: „Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf und Armen wird das Evangelium gepredigt.“ (Mt 11,5) Zeichen dafür, dass Gott die Welt verwandeln wird und dass es dann all die Dinge nicht mehr geben wird, die jetzt das Leben zerstören.
So weit so gut, könnten Sie nun sagen. Dinge, die geheim bleiben sollen, sind besonders wichtige Dinge. Aber sie sollen eben auch geheim bleiben, und dafür muss es doch einen Grund geben. Warum wollte Jesus seine Wunder im Verborgenen tun? Warum hat er sich nicht einfach hingestellt und gesagt: „Ich bin der Retter, den ihr erwartet. Und das könnt ihr daran sehen, dass ich zum Beispiel Aussätzige gesund machen kann.“
Als Antwort versuche ich mir vorzustellen, was passiert wäre, wenn Jesus das getan hätte. Sicher hätte er noch mehr Zulauf gehabt. Von überall her wären die Lahmen, Blinden und Aussätzigen zu ihm geströmt. Sie gesund zu machen, das wäre sein einziger Lebensinhalt geworden. Und die Menschen hätten ihn dafür verehrt. So lange er lebte und heilte, hätten sie wahrscheinlich wirklich geglaubt, dass er das Reich Gottes herbeibringen würde. Aber eines Tages wäre er gestorben, vielleicht alt und hoch betagt. Und spätestens dann hätten alle gemerkt, dass die Welt sich doch nicht verwandelt hatte. Dass es immer noch Arme und Kranke und Sterbende gab, und dass nun keiner mehr da war, der ihnen helfen konnte. Vielleicht hätte man Jesus noch eine Weile als großen Mann verehrt. Aber heute wäre er bestimmt längst vergessen.
Der Evangelist Markus wusste natürlich, dass das Leben Jesu ganz anders geendet hatte: nicht in gesegnetem Alter friedlich im Bett, sondern mit Anfang dreißig in Schmerz und Verzweiflung am Kreuz. Aber Markus glaubte auch, dass Gott den gekreuzigten Jesus von den Toten auferweckt hatte. Und deshalb war er überzeugt: Genauso, wie es mit Jesus gekommen war, so hatte es Gott gewollt. Jesus war bereit, für seine Liebe zu den Menschen alles auf sich zu nehmen, sogar den Tod. Und gerade daran hat sich gezeigt, dass Gott ihn gesandt hat. Die Heilungen waren Zeichen dafür, dass Jesus der Retter ist. Aber die Rettung selbst, die kam erst am Kreuz zum Ziel. Erst unter dem Kreuz spricht einer offen aus, was bisher geheim bleiben sollte – ausgerechnet ein römischer Zenturio: „Wahrlich, dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen.“
Es bleibt natürlich die Frage: Was habe ich heute davon, dass Jesus diesen Weg gegangen ist? Was macht es für mich noch für einen Unterschied, ob Jesus hoch verehrt im Bett oder verachtet am Kreuz gestorben ist? Wenn Jesus für mich nur eine historische Gestalt unter vielen ist, dann kann mir das natürlich egal sein. Wenn ich mich aber darauf einlasse, was Markus mir vermitteln will, wenn ich bereit bin, zu glauben, dass Jesus Gottes Sohn ist, dann macht es sehr wohl einen Unterschied. Denn je nachdem habe ich unterschiedliche Vorstellungen von Jesus und unterschiedliche Erwartungen an Gott.
Wenn Jesus hauptsächlich deshalb Gottes Sohn wäre, weil er Kranke geheilt hat, dann müsste ich von Gott erwarten, dass er das heute auch tut. Dass er endlich Leid und Not und Elend aus meinem Leben und aus dieser Welt schafft. Aber dann müsste ich ziemlich schnell an Gott verzweifeln. Denn ich erlebe ja immer wieder, dass er das eben nicht tut. Wenn Gott allein dazu da wäre, mir eine heile Welt zu bescheren, dann könnte ich letztlich nur zu dem Schluss kommen, dass es diesen Gott nicht gibt.
Wenn Jesus aber deshalb Gottes Sohn ist, weil er den Weg ans Kreuz gegangen ist, dann sieht die Sache ganz anders aus. Denn dann kann ich von Gott zwar nicht erwarten, dass er alles Leid von mir fern hält. Aber ich kann damit rechnen, dass er auch mitten im Leid an meiner Seite ist. Dass er mit mir leidet, weil er selbst gelitten hat. Und dass er mich gerade durch das Leid hindurch ans Ziel bringt – so wie es bei Jesus war. Dann kann mein Leben heil sein, auch wenn ich nicht gesund bin. Ich kann festen Halt finden, auch wenn ich den Boden unter den Füßen verliere. Ich kann leben, auch wenn ich sterben muss. Wie das geschieht, das ist vielleicht immer noch ein Geheimnis. Aber von diesem Geheimnis darf jeder wissen, und jeder darf die Erfahrung machen, dass es stimmt. Auch Sie und ich. Amen.

Ihr Pastor Martin Klein