Text: 2. Kor 5,19-21
Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber, indem er ihnen ihre Sünden nicht zurechnete, und er hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung. So sind wir nun Botschafter an Christi Statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi Statt: Lasst euch versöhnen mit Gott! Denn er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt.
Paulus spricht von Versöhnung. Aber Versöhnung ist schwer. Das merken wir schon, wenn wir uns mit jemandem heftig gestritten haben. Es kostet immer Überwindung, den ersten Schritt zu tun. Und es gibt Menschen, die bringen es einfach nicht über sich zu sagen: „Es tut mir leid. Lass uns die Sache aus der Welt schaffen und uns wieder vertragen!“
So ist das schon beim Streit unter Freunden oder beim Familienkrach. Wie schwer ist Versöhnung dann erst dort, wo Menschen sich über Jahrzehnte, wenn nicht gar Jahrhunderte abgrundtief gehasst haben! Da wird Unversöhnlichkeit von Generation zu Generation weitergegeben. Immer neue Vergeltungsakte halten sie am Leben. Und so hinterlässt die Feindschaft tiefe Gräben, die kaum zu überwinden sind. Der Dauerkonflikt zwischen Israelis und Palästinensern zeigt uns das deutlich. Und wenn in Syrien irgendwann echte Waffenruhe eintritt – möge der Tag bald kommen! –, dann wird es trotzdem noch sehr, sehr lange dauern, bis Muslime und Christen, Sunniten und Schiiten, Araber und Kurden, Assad-Anhänger und Assad-Gegner wieder in Frieden miteinander leben können. Und nach soviel Toten, nach soviel Heimatverlust und Zerstörung wird vieles wohl nie mehr wie vorher sein. Wir merken das ja an den Folgen des zweiten Weltkriegs. Da sind bei denen, die ihn noch leben, auch nach siebzig Jahren noch nicht alle Wunden verheilt. Manchen alten Schlesiern oder Ostpreußen fällt es immer noch schwer, sich mit denen auszusöhnen, die sie auf brutale Weise aus ihrer Heimat vertrieben haben – zu lebendig ist die Erinnerung daran. Und mancher Überlebende der Konzentrationslager betrachtet uns Deutsche immer noch mit tiefem Argwohn, weil er einfach nicht vergessen kann, was Deutsche ihm und den Seinen angetan haben. Weder den einen noch den anderen kann ich das übelnehmen. Ich kann nur offen, dass nachwachsende Genertionen anders mit der Vergangenheit umgehen können, weil sie den Anlass der Feindschaft nicht mehr direkt erlebt haben.
Warum ist das alles so, frage ich mich. Warum fällt es uns so schwer, Feindschaften zu überwinden und Versöhnung zu stiften? Wenn ich meine Antwort in dem suche, was Paulus schreibt, dann komme ich zu folgendem Schluss: Nur wer selbst versöhnt ist, kann sich mit anderen versöhnen. Wir merken das ja an uns selber: Wenn wir mit uns selber im Reinen sind, dann fällt es uns auch leichter, friedlich und versöhnlich mit unseren Mitmenschen umzugehen. Aber das gelingt uns höchstens zum Teil. Ganz versöhnt mit uns selbst und mit unserer Vergangenheit zu leben, das können wir nicht aus eigener Kraft. Denn vieles, was wir Falsches denken, sagen und tun, lässt sich nicht einfach wiedergutmachen, wenn es einmal passiert ist. Was durch uns geschehen ist, dafür bleiben wir verantwortlich. Und was daran falsch war, das lastet als Schuld auf uns: auf unserem Gewissen, auf unserem Verhältnis zu unseren Mitmenschen und auf unserem Verhältnis zu Gott. Kein so genannter „Schlussstrich“, keine Entschuldigung, kein „Tut mir leid“ hebt das alles einfach auf. So billig kommen wir nicht davon, und im Grunde unseres Herzens wissen wir das auch.
Aber wenn wir selber nicht den ersten Schritt zur Versöhnung tun können, wer dann? Ich weiß aus diesem Dilemma nur einen Ausweg. Und dazu ist es notwendig, dass es wahr ist, was Paulus sagt: Gott selbst hat uns alle mit sich versöhnt durch Jesus Christus. Er hat den Schlussstrich gezogen, den wir nicht ziehen können. Er hat uns unsere Sünden, unsere Schuld nicht zugerechnet.
Das heißt: Gott macht es nicht so wie wir. Er zählt uns nicht unser ganzes Versagen und all unsere Fehler auf und sagt dann: „So, jetzt bezahle, aber bitte sofort und in bar!“ Er sagt aber auch nicht: „Ist nicht so schlimm, wenn du nicht bezahlen kannst. Gib mir halt, was du hast, und den Rest vergessen wir!“ Stattdessen sagt er: „Ich weiß um die Höhe deiner Schuld – besser als du selbst. Ich weiß auch, dass du das niemals alles aufbringen kannst. Aber du bist mein geliebtes Geschöpf, trotz alledem. Und deshalb hab ich für dich bezahlt – die ganze Summe!“
Dass unsere Schuld tatsächlich so groß ist, dass Gott das mit dem Bezahlen nicht einfach so daher sagt, sondern dass es ihm damit todernst ist, dafür steht das Kreuz Jesu auf Golgatha. Es ist sozusagen die rechtsgültige Unterschrift, mit der Gott bestätigt, dass er unsere gesamten Schulden beglichen hat. Das ist gemeint, wenn Paulus sagt: „Gott hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt.“
In der kirchlichen Tradition ist dieser Satz oft sehr missverständlich, wenn nicht falsch gedeutet worden. Wir finden diese Deutung zum Beispiel in manchen unserer Gesangbuchlieder. Da heißt es etwa: „Gottes Sohn ist Mensch geborn, hat versöhnt des Vaters Zorn“ (EG 29) oder mit Blick auf das Kreuz: „Du großer Schmerzensmann, vom Vater so geschlagen“ (EG 87) und: „O Menschenkind, betracht das recht, wie Gottes Zorn die Sünde schlägt“ (EG 76). Das klingt so, als ob Gott einen Sündenbock gebraucht hätte, an dem er stellvertretend seine Wut über uns auslassen konnte, dass der zornige Gott nur durch ein blutiges Opfer zu versöhnen gewesen sei und dass der unschuldige Christus sich selbst als dieses Opfer zur Verfügung gestellt habe. Eine entsetzliche Vorstellung! Als ob Gott ein hungriges Raubtier sei, das man nur friedlich stimmen kann, indem man ihm rohes Fleisch vorwirft! Bei Paulus, ja, im ganzen Neuen Testament, steht davon aber kein Wort! Paulus sagt nicht: Christus hat den zornigen Gott mit uns versöhnt, sondern er sagt: Gott war in Christus und hat uns mit sich versöhnt. Gott war nie unser Feind, aber wir waren seine Feinde, weil wir so gelebt haben, als ob es ihn nicht gäbe, und es oft genug immer noch tun. Diese Feindschaft ist zu Ende. Gott hat sie von sich aus aufgehoben – ohne Vor- und Gegenleistung von irgendjemandem. Nicht Gottes Zorn offenbart sich am Kreuz Jesu, sondern seine abgrundtiefe Liebe. Als Jesus stirbt, da erleidet Gott den Tod mit, den wir sonst sterben müssten: beladen mit unserer ganzen Schuld, unversöhnt mit uns selbst und der Welt. Gott begleicht unsere Rechnung, und die ist so hoch, dass sie ihn nicht weniger als das Leben kostet. So geschieht Versöhnung, ein- für allemal.
Das ist also die Botschaft von Karfreitag und Ostern: Die Welt ist mit Gott versöhnt. Aber das muss die Welt nun auch erfahren. Paulus und seine Mitarbeiter leben für nichts anderes: „So sind wir nun Botschafter an Christi Statt“, sagt er, „denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi Statt: Lasst euch versöhnen mit Gott!“ Bis heute werden alle Pfarrerinnen und Pfarrer unserer Kirche bei ihrer Ordination auf diesen Auftrag verpflichtet, und in der Tat hat unsereins nichts Dringenderes zu tun. Aber der Auftrag gilt nicht nur für Pfarrer: alle Christen sind mit ihrem Reden und Handeln „Botschafter an Christi Statt“, jeder an seinem Platz, jede auf ihre Weise. Über dieses Botschafterdasein sagt Paulus zweierlei: zum einen, was der Inhalt der Botschaft ist, und zum anderen, wie wir sie vorbringen sollen.
Der Inhalt lautet schlicht und knapp: „Lasst euch versöhnen mit Gott!“ Man könnte sich allerdings fragen, wozu das noch nötig ist, wenn die Versöhnung doch schon geschehen ist. Aber Gott möchte eben, dass wir die Hand auch ergreifen, die er zur Versöhnung ausgestreckt hat. Er möchte, dass wir es für uns ganz persönlich wahr sein lassen, was er für uns getan hat. Nicht er braucht das, sondern wir, damit wir darüber froh werden und unser Leben sich ändert.
Und was ist, wenn wir Gottes Hand nicht ergreifen? Zieht er sie dann zurück? Bläst er die Versöhnung ab? Ich glaube nicht, dass er das tut. Gott hat sich mit uns versöhnt, sagt Paulus. Das bleibt gültig, ob wir wollen oder nicht. Sonst müsste er ja alles, was damals mit Jesus geschehen ist, wieder rückgängig machen. Aber wir würden dann weiter als unversöhnte und unversöhnliche Menschen durch die Welt laufen, obwohl das gar nicht sein müsste. Es wäre, als ob wir ein großes Geschenk unausgepackt liegen lassen würden: Wir haben es, aber wir haben nichts davon. Und das wäre doch absoluter Unsinn, oder?
Nun zum anderen, zum Wie. „Wir bitten an Christi Statt“, sagt Paulus. Das heißt: wir können niemanden zwingen, unserer Botschaft Glauben zu schenken, und wir sollten es auch nicht versuchen – weder durch Gewalt – körperliche oder seelische –, noch durch Geld, noch durch gute Worte, und auch nicht durch Showeffekte. Wir können nur durch Wort und Tat bezeugen, dass die Welt mit Gott versöhnt ist – überzeugen muss Gott selbst durch seinen heiligen Geist.
Und wie machen wir das mit dem Bezeugen? Ich denke, ganz schlicht dadurch, dass wir als versöhnte und versöhnliche Menschen leben. Dazu gehört zuerst, dass wir mit uns selbst versöhnt sind, dass wir uns selbst so annehmen können, wie wir sind: mit unseren Fehlern und unserer Unvollkommenheit, mit all den Verletzungen an Leib und Seele, die das Leben uns geschlagen hat. Und wenn uns das gelingt, dann fällt es uns, denke ich, auch leichter, anderen die Hand zur Versöhnung zu reichen, ihnen zu vergeben und uns vergeben zu lassen. Je öfter das geschieht, desto mehr wird davon sichtbar, dass unsere Welt keine andere ist als die, die Gott schon längst mit sich versöhnt hat.
Ich weiß, dass das alles leichter gesagt als getan ist. Ich weiß, wie schwer es mir fällt, mit mir selbst und anderen ins Reine zu kommen. Deshalb möchte ich mich so oft wie möglich daran erinnern lassen, dass ich mit Gott längst versöhnt bin und das er mich zum Botschafter seiner Versöhnung macht. Und dann bitte ich ihn, dass er seine versöhnende Kraft durch mich wirken lässt. Gott wird mir und Ihnen diese Bitte nicht abschlagen. Und wo dann jeder von uns mit der Versöhnung beginnen muss, das wissen wir alle selber am besten. Amen.
Pfarrer Dr. Martin Klein