Predigt zum Jahreswechsel, Wenschtkirche, 31.12.2015

Text: Röm 8,31-39

Ist Gott für uns, wer kann gegen uns sein? Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken? Wer will die Auser­wählten Gottes beschuldigen? Gott ist hier, der gerecht macht. Wer will verdammen? Christus Jesus ist hier, der gestorben ist, ja viel­mehr, der auch auferweckt ist, der zur Rechten Gottes ist und uns vertritt. Wer will uns scheiden von der Liebe Christi? Bedrängnis oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Gefahr oder Schwert? wie geschrieben steht: „Um deinetwillen werden wir getötet den ganzen Tag; wir sind geachtet wie Schlachtschafe.“ Aber in dem allen überwinden wir weit durch den, der uns geliebt hat. Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch ein anderes Ge­schöpf uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.

„Gott ist für uns“ – so schlicht und knapp bringt die Bibel manchmal auf den Punkt, worum es in ihr geht. Gott ist für uns, und nichts, aber auch gar nichts kommt dagegen an. Wer will uns da noch vor Gott verklagen? Welche Gefahr sollten wir noch fürchten, wenn selbst der Tod uns nicht von Gott trennen kann? Für mich gibt es kaum einen anderen Bibeltext, der so tröstlich, so aufbauend, so Kraft spendend ist wie dieser.

Trotzdem kann ich mir vorstellen, dass bei vielen Menschen der Trost nicht ankäme, wenn sie die Worte des Paulus hören würden. Die Christen in Syrien und im Irak zum Beispiel, die vom IS vertrie­ben, entführt und ermordet werden und deren uralte Kultur vor dem Untergang steht. Die Angehörigen der Menschen, die bei den vielen Bombenangriffen und Terrorakten dieses Jahres ums Leben kamen, in Aleppo und in Paris, in der Ost-Ukraine und in Jerusalem. Die sechzig Millionen in den Flüchtlingslagern dieser Erde. Die Abge­hängten und Hoffnungslosen in den Slums der Mega-Städte. Was würden sie sagen, wenn sie Paulus hören könnten? „Gott ist für uns? Schön, dann soll er doch endlich mal etwas für uns tun!“ – „Nichts kann uns trennen von seiner Liebe? Ja wo war er denn dann, als un­ser Haus zerstört wurde, als die Bombe meine Frau, meinen Bruder, mein Kind zerriss, als meine Familie im Mittelmeer ertrank?“ – „Wir überwinden alles durch den, der uns ge­liebt hat. – Auch eine Lage, aus der es keinen Ausweg gibt? Auch eine Krankheit, die niemand heilen kann?“ So oder ähnlich, kann ich mir vorstellen, würden sie reagieren, die Leidgeplagten dieser Erde. Und von allem, was Paulus sagt, fänden sie sich wahrscheinlich nur in dem Psalmwort wieder, das er zitiert: „Wir sterben jeden Tag tau­send Tode, wir kommen uns vor wie Schlachtvieh, dessen einziger Daseinszweck darin besteht, getötet und aufgegessen zu werden.“

Aber nun ist es ja so, dass Paulus mit diesem Psalmvers auch und gerade seine eigene Situation beschreibt. Er kennt die Bedrängnis durch eine feindliche Umgebung oder eine unbesiegbare Krankheit. Er kennt die Angst um die Menschen, die ihm lieb und teuer sind, und die Angst vor dem Sterben. Er weiß, wie es ist, verfolgt zu wer­den und seines Lebens nirgendwo sicher zu sein. Er weiß, wie es ist, hungern und frieren zu müssen. Er hat tausend Gefahren überstanden und muss immer darauf gefasst sein, die nächste nicht mehr zu über­leben. Trotzdem sagt er: „Ich bin gewiss, dass nichts mich von der Liebe Gottes trennen kann.“

Wie kommt einer zu dieser unumstößlichen Gewissheit, die allem zu widersprechen scheint, was er Tag für Tag erlebt? Ist er einfach naiv, kann er gut verdrängen, redet er sich etwas ein, ist er gar einem reli­giösen Wahn verfallen? Oder steckt etwas anderes dahinter, eine tiefere Wahrheit, die unsere Realität in einem ganz neuen Licht er­scheinen lässt? Paulus ist jedenfalls überzeugt, dass Letzteres der Fall ist. Der entschei­dende Satz, mit dem er das sagt, steht gleich am Anfang des Textes: „Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?“

Dieser Satz liegt ziemlich quer zu allem, was wir sonst so denken und reden. Um ihn wirklich zu verstehen und zu verinnerlichen, müssen wir unsere üblichen Denkmuster über Bord werfen und uns zumin­dest versuchsweise auf die Logik des Paulus einlassen. Unserer Lo­gik würde nämlich eine ganz andere Aussage entsprechen: „Wenn Gott noch nicht mal seinen eigenen Sohn verschont, dann ist es ja kein Wunder, dass er uns erst recht leiden lässt.“ So denken viele, auch viele Christen. Letztere schließen daraus, dass Leiden etwas Gutes sein muss, wenn Gott sogar seinen Sohn leiden lässt, und sa­gen: „Liebe Geschwister, nehmt euer Leid geduldig auf euch – Gott wird schon wissen, wofür es gut ist.“ Andere, die Gott nicht so wohl gesonnen sind, folgern dagegen, dass Gott ein Sadist sein muss, wenn er nicht nur uns, sondern sogar seinen eigenen Sohn so behan­delt. Und dann wollen sie nichts mehr mit ihm zu tun haben.

Aber beide Schlüsse sind falsch, weil schon die Voraussetzung nicht stimmt. Denn wenn Gott seinen Sohn dahingibt, dann heißt das nach der Logik der Bibel, dass er sich selber nicht verschont, denn Sohn und Vater sind ja eins. Das heißt: Gott setzt sich selbst der Bedräng­nis und der Angst, dem Hun­ger und der Blöße, der Gefahr und dem Tod aus. Er lässt sich selber wie ein Schaf zur Schlachtbank führen. Er stirbt unseren Tod und schenkt uns dafür sein Leben. Kein Ge­schöpf, wie mächtig und bös­artig es auch sein mag, kann diese Tat des Schöpfers wieder aufhe­ben. Und deshalb kann uns nichts schei­den von der Liebe Gottes, die in Jesus Christus ist, unserm Herrn. Es gibt nichts, was befreiender und wohltuender wäre, als sich auf diese ganz andere Logik einzulas­sen.

„Gott ist für uns.“ Mit dieser Gewissheit können auch wir heute das Jahr 2015 zurück in Gottes Hände legen und uns auf den Weg ma­chen in das neue Jahr, das vor uns liegt. Wir wissen nicht, ob es uns Leben oder Tod bringt, aber wir dürfen gewiss sein, dass beides uns nirgendwo hin führen wird, wo Gott nicht ist. Wir wissen nicht wel­che Mächte unser Leben beeinflussen werden – seien es Men­schen, die politische oder wirtschaftliche Macht über uns haben, seien es Naturgewalten, seien es Kräfte, deren Herkunft wir nicht durch­schauen können. Aber wir dürfen gewiss sein: Sie können uns wohl Geld und Gut, vielleicht auch Leib und Leben nehmen, aber sie kön­nen uns nicht aus Gottes Hand reißen. Wir wissen nicht, was auf uns zukommt, aber dürfen gewiss sein, dass die Zukunft dem Herrn ge­hört, der in Zeit und Ewigkeit derselbe bleibt. Wir wissen nicht, ob das Leben uns Höhepunkte erleben lässt oder Tiefschläge versetzt, aber wir dürfen gewiss sein, dass es keine Höhen und keine Tiefen gibt, die Gott in Christus nicht schon durchmessen hat. Wir wissen nicht, welche Trennungen uns im neuen Jahr erwarten – von ver­trauten Verhältnissen und liebgewordenen Gewohnheiten oder gar von Menschen, die uns lieb und wert sind –, aber von Gottes Liebe wird nichts und niemand uns trennen können. Sogar, wenn wir uns von ihm trennen, wird er in unserer Nähe bleiben und nach uns Aus­schau halten.

In diesem Bewusstsein hat Dietrich Bonhoeffer zu Silvester 1944 sein Neujahrsgedicht geschrieben, das für meine Generation eines der bekanntesten und beliebtesten geistlichen Lieder geworden ist. Nicht immer, wenn wir es singen, denken wir noch daran, dass die Zeiten damals mindestens genauso böse waren wie heute, und für Bonhoeffer persönlich sogar noch weit böser als für uns alle hier. Denn er saß im Gefängnis und musste mit dem Schlimmsten rech­nen, das dann ein paar Monate später auch eintrat. Aber dieses schlimme Ende hat seine Worte nicht entwertet, denn er war sich des drohenden Todes ja sehr bewusst, als er sie schrieb. Seine Verse sind für mich die beste Auslegung dessen, was Paulus im Römerbrief sagt, und deshalb möchte ich mit ihnen meine Predigt beschließen:

Von guten Mächten wunderbar geborgen,

erwarten wir gestrost, was kommen mag.

Gott ist mit uns am Abend und am Morgen

und ganz gewiss an jedem neuen Tag.

Amen.

Pfr. Dr. Martin Klein