Predigt Wenschtkirche, Sonntag, 6. April 2014

Gottesdienst für den Sonntag Judika

Text: Hebr 13,10-16

„Ein Mann kommt nach Deutschland [: …] Einer von denen, die nach Hause kommen und die dann doch nicht nach Hause kommen, weil für sie kein Zuhause mehr da ist. Und ihr Zuhause ist dann draußen vor der Tür. Ihr Deutschland ist draußen, nachts im Regen, auf der Straße. Das ist ihr Deutschland.“

„Draußen vor der Tür“ – das ist auch der Titel des Stücks, mit dem sich der junge Schriftsteller Wolfgang Borchert seine Kriegs- und Nachkriegserfahrungen von der Seele schrieb: Da kommt einer na­mens Beckmann aus der Gefangenschaft nach Hause, verwundet an Leib und Seele, und muss feststellen, dass Zuhause für ihn kein Platz mehr ist. Seine Frau hat ihn vergessen und liebt einen anderen. Sein Oberst, für den seine Soldaten nichts als Kanonenfutter waren, ist schon wieder obenauf und will von seiner Verantwortung nichts wis­sen. Alle sind mit sich beschäftigt, und niemand hat Antworten auf Beckmanns bohrende Fragen. Nicht mal die Elbe, in der er sich er­tränken will, nimmt ihn auf. Er muss weiterleben und weiß doch nicht, wie und wofür.

Unser Deutschland heute weiß kaum noch etwas vom Hunger und Elend der Nachkriegszeit. Es ist nun schon seit vielen Jahren eines der reichsten und friedlichsten Länder der Erde. Und doch leben auch mitten unter uns viele Menschen „draußen vor der Tür“. Die meisten von ihnen haben zwar durchaus ein Dach über dem Kopf, manche sogar ein recht komfortables; aber bei allem, was zählt in unserer Gesellschaft, sind sie außen vor: die Alten und Gebrechlichen, die vereinsamt in ihrer Wohnung sitzen; die Langzeitarbeitslosen, für die keiner mehr einen Job hat und die schon gar nicht mehr wissen, wie Arbeiten geht; die alleinstehenden Mütter, die weder genug Zeit noch Geld für ihre Kinder haben; die Kinder, um die die sich niemand richtig kümmert, die sich von Fastfood ernähren und von Bildschir­men „er­zogen“ werden und so nie auf einen grünen Zweig kommen; die Migranten, die gewählt oder gezwungen in einer Parallelwelt leben, die sich mit dem „normalen“ deutschen Alltag kaum berührt; die Flüchtlinge und Asylsuchenden, die erstmal lange auf Abstand ge­halten werden, bis man ihnen – vielleicht – erlaubt, sich hier eine Existenz aufzubauen. Sie alle stehen draußen, sind oft abgehängt von Bil­dung und Wohlstand, müssen irgendwie leben und wissen doch nicht wie und wofür. Selbst Schuld, sagen Sie? Nun, zum Teil schon. Aber wie gleichgültig wir uns immer noch damit abfinden, dass die, die unten sind, auch unten bleiben, das ist trotzdem ein Skandal – und mit „wir“ meine ich jetzt nicht nur Politiker und Wirtschafts­bosse. Von all dem Elend „draußen vor der Tür“ des reichen Europa, wo Armut und Gewalt regieren wie zu Wolfgang Borcherts Zeiten, habe ich dabei noch gar nicht gespro­chen.

Was sagt eigentlich Gott zu alledem? Bei Borchert erscheint er als hilfloser alter Mann, der um seine „lieben Kinder“ heult und jam­mert, dass er auch nichts machen kann. Auch Gott ist „draußen vor der Tür“: keiner rechnet mehr mit ihm, niemand schert sich mehr um ihn, und er muss es über sich ergehen lassen. Eine erbärmliche Figur, dieser „Gott“.

Wir frommen Christen mögen dagegen protestieren und sagen: „So darf man doch von Gott nicht reden!“ Aber wenn uns jemand fragt, wo Gott denn war in Auschwitz oder Stalingrad, was er denn tut ge­gen das Morden in Syrien oder gegen das Elend in den Slums, dann fällt uns ja auch nicht gleich eine Antwort ein.

Der heutige Predigttext hat eine Antwort. Aber die kommt für unsere Ohren so rätselhaft daher, dass wir sie nur müh­sam entziffern kön­nen. Trotzdem lohnt es sich, denke ich, eine Entschlüsselung zu ver­suchen. Mal sehen, wie weit wir damit kom­men. Ich lese Hebräer 13,10-16:

Wir haben einen Altar, von dem zu essen kein Recht haben, die dem Zelt dienen. Denn die Leiber der Tiere, deren Blut durch den Hohen­priester als Sündopfer in das Heiligtum getragen wird, werden au­ßerhalb des Lagers verbrannt. Darum hat auch Jesus, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor. So lasst uns nun zu ihm hinausgehen aus dem Lager und seine Schmach tragen. Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir. So lasst uns nun durch ihn Gott allezeit das Lobopfer darbringen, das ist die Frucht der Lippen, die seinen Namen bekennen. Gutes zu tun und mit andern zu teilen vergesst nicht; denn solche Opfer gefallen Gott.

„Auch Jesus hat gelitten draußen vor dem Tor.“ An dieser Stelle set­zen meine Überlegungen an. Denn das hat Jesus mit den Personen bei Wolfgang Borchert gemein. Auch er ist wie Beckmann „einer von denen“. Auch Jesus ist draußen, während er leidet und stirbt – und das nicht nur, weil Golgatha vor den Toren der Stadt liegt wie alle Hinrich­tungsstätten. Denn auch Jesus ist allein. Auch über ihn macht man sich lustig. Auch ihn entfernt man aus der Gemeinschaft der Frommen und Anständigen, der Starken und Erfolgreichen. Auch mit ihm kön­nen sie machen, was sie wollen. Nur, dass Jesus noch nicht mal jammert. Er lässt alles schweigend über sich ergehen. Nur einmal schreit er seine Not heraus: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Auch bei Gott scheint Jesus also draußen zu sein. Auch er kann oder will ihm nicht helfen.

So sieht es jedenfalls aus für die Passanten unter dem Kreuz, viel­leicht in dem Moment sogar für Jesus selber. Aber hier ist der Hebrä­erbrief einen entscheidenden Schritt weiter. Er ist geprägt vom Glau­ben an den Auferstandenen. Und deshalb ist Jesus für ihn nicht nur „einer von denen“. Sondern er ist Gottes Sohn, der „Abglanz seiner Herrlichkeit und das Ebenbild seines Wesens“ (Hebr. 1,3). Durch ihn hat Gott die Welt gemacht und mit ihm ist er Mensch geworden. Mit Jesus hängt also auch Gott selber am Kreuz. Unfass­bar ist uns das, und doch müssten wir keinen Karfreitag mehr feiern, wenn dieses Unfassbare nicht wahr wäre. Wenn Gott nicht mit Jesus draußen vor dem Tor gelitten hätte, dann hätte sein Tod keinerlei positive Be­deutung für uns. Dann hätten diejenigen Recht, die sagen, dass eine grausame Hinrichtung doch nicht im Mittelpunkt einer Re­ligion der Liebe stehen kann.

Wenn es aber wahr ist, dann macht es Sinn, dass Jesu Tod ein Opfer war, wie der Hebräerbrief sagt. Ein Sühnopfer für die Sünden des gan­zen Volkes wie das am Großen Versöhnungstag im Tempel von Jerusalem. Denn schon dieses Opfer war nach dem Alten Testament nicht eine menschliche Tat, um einen zürnenden Gott zu besänftigen, sondern es war eine Gabe Gottes an sein Volk: ein Weg, um den Graben zu überwinden, der sich immer wieder zwischen Gott und seinen Men­schen auftut. Im Blut ist das Leben, sagt die Bibel, und deshalb be­deutete das Blut eines Opfertiers Leben für die Menschen, die sonst nichts als den Tod verdient hätten. Nun aber, heißt es im Hebräerbrief, ist nicht nur ein Tier gestorben, sondern ein Mensch, und mit diesem Menschen Gott selbst. Auch Jesus hat also nicht des­halb gelitten, weil ein zorniger Vater im Himmel das Blut seines Sohnes brauchte, um sich mit den Menschen versöhnen zu können. Das Kreuz steht nicht für Gottes Zorn, sondern für seine Liebe. Jesus litt draußen vor dem Tor, damit wir hineinkönnen in die bleibende Stadt Gottes. Er hat unseren Tod auf sich genommen, da­mit wir le­ben können. Und während die Tieropfer des Alten Bundes jährlich wiederholt werden mussten, gilt dieses Opfer ein für alle Mal, ja, es hebt alle anderen Opfer auf. Das ist unser „Altar“, und deshalb brau­chen wir keinen anderen mehr, sondern höchstens noch einen schlichten Abendmahlstisch. Und unsere „Opfer“ sind nichts anderes als Zeichen unserer Dankbarkeit in Wort und Tat: Gott prei­sen, Gu­tes tun, mit anderen teilen.

Wo ist also nun Gott, wenn wir das Leid dieser Welt betrachten? Die Antwort des Hebräerbriefes, die wir nun einigermaßen entschlüsselt haben, lautet schlicht: Er ist da. Draußen vor der Tür. Bei den Elen­den, den Abgehängten, den Zweifelnden und Verzweifelten. Aber er ist dort nicht als hilfloser Tattergreis, der auch nichts machen kann. Er ist dort als der, der unser Leid, unseren Tod mit uns geteilt und dadurch überwunden hat. Als der Ohnmächtige, der gerade darin seine Macht beweist. Als der, der uns trägt, weil er unser Leid, un­sere Schuld längst getragen hat.

Vielleicht hätte auch Wolfgang Borchert das erkennen können, wenn ihm mehr Menschen begegnet wären, die das tun, was der He­bräer­brief uns als Konsequenz empfiehlt: „So lasst uns nun zu ihm hin­ausgehen aus dem Lager und seine Schmach tragen.“ Das heißt: Un­ser Platz als Christen ist dort, wo unser Herr ist. Wir vermuten ihn gern bei uns drinnen: in unserem Herzen, in unseren Gottesdiensten, in unseren Gemeinden. Dort lassen wir ihn ein, dort suchen wir ihn, dort begegnen wir ihm. Und das ist ja auch alles gut so. Aber wir vergessen oft, dass es nur die eine Seite ist. „Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an“ – das kann heißen, dass der Herr zu uns hin­ein will wie in Offenbarung 3,20. Es kann aber auch heißen, dass wir zu ihm hinauskommen sollen: hin zu den Menschen, die draußen sind, hin zu denen, deren Leid wir teilen und denen wir Gutes tun können – so wie Jesus es uns vorgemacht hat.

Ich denke deshalb, dass es gar nicht so schlecht ist, wenn wir uns als Ge­meinde nicht mehr so viele Häuser leisten können wie früher mal. Es könnte nämlich ein Zeichen dafür sein, dass Christus uns verstärkt „draußen vor der Tür“ haben will. Denn oft haben wir uns ja recht selbstgenügsam in unseren Häusern eingeigelt. Dabei leben da draußen deutlich mehr Men­schen, auch mehr Gemeindeglieder, als je in unsere Häuser ge­gangen sind. Und viele von ihnen brauchen uns: zum Zuhören, zum Reden, zur Unterstützung in vielen Dingen des täglichen Lebens – oder auch einfach, um für sie zu beten. Jede und jeder von Ihnen kann davon irgendetwas, davon bin ich über­zeugt. Und es fallen uns sicher auch genügend Menschen um uns herum ein, denen gerade wir Gutes tun könnten. Also lasst uns auf­brechen nach draußen und uns den Men­schen zuwenden, die uns brauchen. Und eins dürfen wir dabei wis­sen: Wo wir auch hingehen, Gott ist immer schon da – „draußen vor der Tür“. Amen.

(Pfarrer Dr. Martin Klein)