Gottesdienst für den dreiundzwanzigsten Sonntag nach Trinitatis
Text: Röm 13,1-7
Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, ist sie von Gott angeordnet. Darum: Wer sich der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt Gottes Anordnung; die ihr aber widerstreben, werden ihr Urteil empfangen. Denn die Gewalt haben, muss man nicht fürchten wegen guter, sondern wegen böser Werke. Willst du dich aber nicht fürchten vor der Obrigkeit, so tue Gutes; dann wirst du Lob von ihr erhalten. Denn sie ist Gottes Dienerin, dir zugut. Tust du aber Böses, so fürchte dich; denn sie trägt das Schwert nicht umsonst. Sie ist Gottes Dienerin und vollzieht die Strafe an dem, der Böses tut. Darum ist es notwendig, sich unterzuordnen, nicht allein um der Strafe, sondern auch um des Gewissens willen. Deshalb zahlt ihr ja auch Steuer; denn sie sind Gottes Diener, auf diesen Dienst beständig bedacht. So gebt nun jedem, was ihr schuldig seid: Steuer, dem die Steuer gebührt; Zoll, dem der Zoll gebührt; Furcht, dem die Furcht gebührt; Ehre, dem die Ehre gebührt.
Kann man über diesen Text noch predigen? Unsere Kirche scheint sich da nicht schlüssig zu sein. Sie sieht Römer 13 zwar immer noch als Predigttext vor, aber sie tut es am 23. Sonntag nach Trinitatis, der nur alle Jubeljahre stattfindet. Bei mir hat es deshalb dreißig Jahre gedauert, bis ich nun zum ersten Mal über diesen Text predigen soll. Und auch ich habe lange überlegt, ob ich das tue. Denn was Paulus hier schreibt, passt einfach nicht mehr in unsere Zeit.
Das fängt schon mit dem Stichwort „Obrigkeit“ an. Als Martin Luther mit seiner Übersetzung dieses Wort geprägt hat, war die „Obrigkeit“ in der Regel ein Fürst, der auf einem ererbten Thron saß. Und alle anderen waren die „Untertanen“, die ihm und seinen Leuten zu gehorchen hatten – ja, dem sie sich nach Römer 13 freiwillig unterordnen sollten. Denn der Fürst hatte sein Amt ja „von Gottes Gnaden“. Ihm untertan zu sein, war also Gottes Wille. So wurde es jahrhundertelang von den Kanzeln gepredigt. Irgendwann gab es zwar hierzulande keine Fürsten mehr, aber das Obrigkeitsdenken blieb noch lange intakt. Nur zu bereitwillig wurde es auch auf den „Führer“ Adolf Hitler übertragen.
Aber heute gibt es bei uns keine „Obrigkeit“ mehr. Wir leben in einer Demokratie, in der alle Staatsgewalt nicht von Gott ist, sondern vom Volke ausgeht, also von uns. Unsere Regierung mag gerade ein trauriges Bild abgeben, aber sie ist aus freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen. Sie dient nicht Gott, sondern dem Volk – jedenfalls hat sie das mit ihrem Amtseid versprochen. Auch Steuern und Zölle treibt der Staat nicht als Gottes Diener ein, sondern um die Aufgaben zu finanzieren, die wir ihm übertragen haben. Wenn unsere Gerichte die Bösen bestrafen, besser: sie wegen Verstößen gegen Recht und Gesetz belangen, dann ergehen ihre Urteile ebenfalls „im Namen des Volkes“, nicht im Namen Gottes. Und das „Schwert“ – sprich: die Todesstrafe – ist längst abgeschafft, und das ist gut so. Natürlich müssen Christinnen und Christen immer noch ein Verhältnis finden zu dem Staat, in dem sie leben, aber so wie Paulus können sie dabei nicht mehr argumentieren.
Doch nicht nur das: Auch damals war schon manches fragwürdig an dem, was Paulus schreibt. Die Staatsgewalt, mit der er und seine Gemeinden zu tun hatten, war das Römische Reich mit all seinen Beamten und Behörden und mit dem Kaiser in Rom an der Spitze. Es verstand sich zwar als Rechtsstaat, in dem die Bösen bestraft und die Guten belobigt werden, so wie Paulus es beschreibt. Aber wie das in der Praxis aussah, hatte er doch am eigenen Leib erfahren: Dreimal hatte ihm die Staatsgewalt wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses die Prügelstrafe verpasst. Mehrmals war er schon im Gefängnis gelandet. Das wird er ja wohl kaum als gerechte Strafe „wegen böser Werke“ empfunden haben. Und was ist mit Jesus? War der etwa auch einer von den Bösen? Empfing er etwa seine gerechte Strafe, als er vom römischen Statthalter gekreuzigt wurde? Zugegeben: Zu handfesten und allgemeinen Christenverfolgungen war es noch nicht gekommen, als Paulus den Römerbrief schrieb. Man fing gerade erst an, die christlichen Gemeinden als eigene Größe neben dem Judentum wahrzunehmen. Und der junge Kaiser Nero stand noch unter dem Einfluss des Philosophen Seneca und regierte deshalb einigermaßen vernünftig. Aber dass Roms Macht nicht auf Recht und Gesetz beruhte, sondern auf Sklavenarbeit und Ausbeutung unterworfener Völker, das konnte man durchaus sehen, wenn man wollte. Sogar in Rom selber gab es damals Unruhen wegen der drückenden Steuerlast. In Judäa bahnte sich ein Aufstand gegen die brutale Besatzungsmacht an. Und dass es irgendwann zum Konflikt kommen würde zwischen dem Herrschaftsanspruch der römischen Kaiser und dem Glauben an Jesus Christus, den „König aller Könige und Herrn aller Herren“ (1. Tim 6,15), das musste eigentlich auch Paulus klar sein.
Trotzdem schreibt er, was er schreibt. Er bleibt dem treu, was er in der Diaspora-Synagoge gelernt hat, in der er groß geworden ist: Wer auch immer auf Erden die Staatsgewalt innehat, der hat sie von Gott. Also ist es auch Gottes Wille, sich ihr unterzuordnen, ihre Gesetze zu akzeptieren, Steuern zu zahlen und für sie zu beten. Ihm folgend waren Christen meistens treue Untertanen und gute Staatsbürger, aber schlechte Verteidiger von Freiheit und Unversehrtheit gegen staatliche Willkür und Gewalt. Und die Demokratie musste sich in Europa weithin gegen die christlichen Kirchen durchsetzen.
Das sind alles gute Gründe, über diesen Text nicht mehr zu predigen. Aber wie Sie sehen und hören, tue ich es doch. Einerseits mache ich das deshalb, weil das mit der „Obrigkeit“ ja auch vielen von uns noch so vermittelt wurde. Wir sind davon geprägt, es steckt in unseren Köpfen, und deshalb sollten wir nicht darüber schweigen, sondern uns kritisch damit auseinandersetzen.
Andererseits finde ich dann aber doch einiges in Römer 13, was auch für unser Verhältnis zum Staat noch wichtig sein könnte.
Zuerst ist das etwas, was Paulus nicht sagt: Dass es Staatsgewalt gibt, entspricht Gottes Anordnung, aber der Staat selber hat nichts Göttliches an sich. „Ehre, wem Ehre gebührt“, aber göttliche Verehrung steht dem Kaiser in Rom eben nicht zu. Er ist Gottes Diener, mehr nicht. Staatliche Ordnung ist Menschenwerk. Sie ist keine Schöpfungsordnung, und staatliche Gesetze sind nicht das Gesetz Gottes. All das hat man gern in unseren Text hineingelesen, aber es steht nicht da. Deshalb hat die Barmer Theologische Erklärung angesichts der Nazi-Diktatur die falsche Lehre verworfen, „als solle und könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden“ (Barmen V). Wo Christen mit einem solchen Staat in Konflikt geraten sind, da haben sie sich schon immer und mit Recht auf Apostelgeschichte 5,29 berufen: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“
Daraus folgt das Zweite: Der Auftrag, den der Staat nach Gottes Anordnung wahrnimmt, der Dienst, den er für Gott tut, ist begrenzt. Nach Paulus geht es dabei um nichts anderes als um Recht und Ordnung: um Strafe für die, die Böses tun, und Anerkennung für die, die Gutes tun. Und was der Staat für sein Funktionieren an Steuern und Zöllen braucht, das steht ihm zu. Nicht viel anders sagt es die Barmer Erklärung: „Die Schrift sagt uns, dass der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat, in der noch nicht erlösten Welt … nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens … für Recht und Frieden zu sorgen“, wenn es sein muss auch „unter Androhung und Ausübung von Gewalt“. Wenn ein Staat diese begrenzte Aufgabe wahrnimmt, dann ist er eine „Wohltat“, für die wir Gott zu danken haben – auch das steht in der Barmer Erklärung.
Dazu mal Hand aufs Herz: Wann haben wir unseren Staat zuletzt als eine Wohltat betrachtet und Gott dafür gedankt? Ja, ich weiß, es gibt da viel zu kritisieren. Aber schon, dass wir das mit allem Freimut tun dürfen, ist eine Wohltat. Wir können in unserem Staat demokratisch mitbestimmen, was für Paulus ebenso unvorstellbar war wie heute in Russland oder China. Unsere Justiz funktioniert im Großen und Ganzen tatsächlich so, wie Paulus es sich vorgestellt hat. Wir haben seit fast achtzig Jahren Frieden, und wir verdanken das sicher nicht nur, aber doch auch der Besonnenheit unserer Regierungen. Und der Wohlstand mag auch bei uns ungerecht verteilt sein, aber immer noch gerechter, als fast überall sonst auf der Welt. Von Deutschland könnte Paulus also mit viel mehr Grund ein so positives Bild zeichnen, wie er es vom Imperium Romanum tut – von den vielen Unrechtsstaaten unserer Zeit ganz zu schweigen. Trotzdem wächst bei uns die Staatsverdrossenheit und der Zulauf zu Parteien, die eine andere, eine autoritäre Ordnung wollen. Ich finde, wir Christen haben allen Grund, dagegenzuhalten, so gut wir können.
Und schließlich noch ein Drittes: Wenn der Staat Gottes Diener ist, wie Paulus sagt, dann trägt er vor Gott auch Verantwortung – egal, ob er sich zu dieser Verantwortung bekennt, wie es die Präambel unseres Grundgesetzes festhält, oder ob er das nicht tut wie das Römische Reich und viele autoritäre Regime der Gegenwart. Von dieser Verantwortung redet Paulus nicht ausdrücklich. Er richtet sich ja auch nicht an die Regierung, sondern an die Regierten. Aber sie gehört fest zu der Tradition, in der er steht. Die Propheten des Alten Testaments sind nicht müde geworden, den König und die Oberschicht von Israel und Juda an ihre Verantwortung für das Volk Gottes zu erinnern. Und entsprechend haben sie Anklage erhoben und Gericht angekündigt, wenn diese Verantwortung mit Füßen getreten wurde. Auch Jesus hat das getan. Paulus nicht, soweit wir wissen, aber gegenüber dem römischen Staat fehlte ihm dazu auch die Gelegenheit. Wir dagegen haben alle Möglichkeiten, die Regierenden an ihre Verantwortung vor Gott und den Menschen zu erinnern, auf Missstände hinzuweisen und das Unsere zu tun, um sie abzustellen. Es hatte zwar schon mal mehr Gewicht, wenn die Kirchen zu politischen und sozialen Themen Stellung genommen haben. Und natürlich sollten wir uns hüten, selbstgerecht und scheinheilig daher zu kommen. Aber dass wir uns raushalten, kann nicht die Alternative sein, auch wenn viele das gern so hätten. „Wer zum Bösen schweigt, ist ebenso schuldig wie der, der es tut“, hat Martin Luther King gesagt, und ich denke, er hat Recht.
Also ihr Christinnen und Christen in Deutschland: Seid Gott dankbar für die Wohltat, in einer friedlichen und leidlich sozialen Demokratie zu leben. Haltet euch an Recht und Gesetz – nicht aus Furcht vor Strafe, sondern weil ihr einseht, dass es für gutes menschliches Zusammenleben eine funktionierende Ordnung braucht und dass Gott das so haben will. Und wo die Dinge verkehrt laufen, da erinnert mit der Barmer Erklärung „an Gottes Reich, Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten.“ Das bleibt für mich von dem, was Paulus in Römer 13 geschrieben hat, auch wenn ich ihm nicht mehr unkritisch folgen kann. Und ich denke, wenn Paulus seinen Römerbrief heute schreiben würde, dann würde er es auch so sehen. Amen.
Ihr Pastor Martin Klein