Predigt Tal- und Wenschtkirche, Sonntag, 27. Oktober 2024

Gottesdienst für den zwanzigsten Sonntag nach Trinitatis

Text: Mi 6,6-8

»Womit soll ich mich dem Herrn nahen,
mich beugen vor dem Gott in der Höhet?
Soll ich mich ihm mit Brandopfern nahen
und mit einjährigen Kälbern?
Wird wohl der Herr Gefallen haben an viel tausend Widdern,
an unzähligen Strömen von Öl?
Soll ich meinen Erstgebornen für meine Übertretung geben,
meines Leibes Frucht für meine Sünde?«
Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist
und was der Herr von dir fordert:
Nichts als Recht tun und Freundlichkeit lieben
und aufmerksam mitgehen mit deinem Gott.

Es ist ein interessantes Phänomen: Die christlichen Kirchen und der Glaube, den sie vertreten, mögen out sein hierzulande, aber Religion an sich ist wie­der „in“: Gott oder dem Göttlichen nahe zu kommen, modern formu­liert: spirituelle Energie zu tanken, danach streben er­staunlich viele – auch solche, von denen man’s nie gedacht hätte: Manager gehen zum „Retreat“ ins Kloster, Pop-Stars schwärmen für jüdische Mystik oder buddhistische Meditation, und seit Hape Kerkeling „dann mal weg“ war, ist Pilgern das neue Wandern. Ir­gendein Jakobsweg geht inzwischen an jeder Haustür vorbei, und auch eine Kirchengemeinde im Siegerland will jetzt eine nicht mehr benötigte Kapelle zur Pilgerstation umbauen. Längst vorbei sind die Zeiten, wo Religion als überholter ideologischer Überbau galt und nur das Materielle und die Fakten zählten. Immer mehr Menschen in der säkularisierten westlichen Welt beginnen zu begreifen, dass uns ohne „Sinn und Geschmack für das Unendliche“ (F. Schleiermacher) etwas fehlt. Von außen merken wir es daran, dass wir dem religiösen Fanatismus islamistischer Terroristen nichts Positives entgegenzu­setzen haben. Und in uns drin spüren wir es an der Leere, die durch ständige Action in Beruf und Freizeit nicht zu überdecken ist.

Aber wie finden wir zurück in die Nähe Gottes? Wie können wir unserem Leben wieder einen Sinn geben, der über das Sicht- und Greifbare hinausreicht? Und können wir das überhaupt?

Wie uns der Predigttext zeigt, sind diese Fragen nicht neu, sondern uralt. Schon das Buch des Propheten Micha lässt sie einen Menschen seiner Zeit aussprechen: „Womit soll ich mich dem Herrn nahen, mich beugen vor dem Gott in der Höhe?“ Im damaligen Israel spielte sich das religiöse Leben im Tempel von Jerusalem ab. Dort und nir­gendwo sonst wurden täglich Tier- und Trankopfer dargebracht und Gottesdienste gefeiert. Von daher ist klar, in welcher Richtung der Mensch, der hier spricht, die Antwort sucht: Soll ich mich Gott mit Brandopfern nahen?, fragt er. Soll ich ihn gnädig stimmen mit zar­tem Kalb­fleisch vom Feinsten? Oder bringt’s nicht die Qualität, son­dern die Masse: „viel tausend Widder“, „unzählige Ströme von Öl“? Oder muss das Opfer richtig wehtun, damit es angenommen wird? Ist Gott nur zufrieden, wenn ich mein Liebstes für ihn hergebe – mein erst­geborenes Kind, Fleisch von meinem Fleisch? So steigern sich die Fragen – erst ins Absurde, denn nicht einmal der reiche König Salomo hätte solche Mengen opfern können, dann ins Ungeheuerli­che, denn Menschenopfer sind dem Herrn ein Gräuel; niemals würde er so etwas gutheißen oder gar fordern. Das zeigt gerade die Ge­schichte von Abraham und Isaak, wo Gott ein einziges Mal ein sol­ches Opfer verlangt, es dann aber doch verhindert. Und so merken wir: in der Steigerung der Fragen steckt Kritik. So, durch Opfer, kann man Gott gerade nicht nahe kommen! Im Ge­genteil: Je weiter es hier jemand treiben würde, desto mehr würde er sich von Gott entfernen.

Wie sieht es damit heute aus? Tieropfer sind zwar vom religiösen Markt längst verschwunden, und Michas Worte haben ihren Teil dazu beigetragen. Aber an ihre Stelle sind andere Wege getreten, auf denen Menschen göttliche Nähe suchen. Die einen probieren es für sich allein mit Meditation und Mystik, die anderen brauchen Massen von Gleichgesinnten für das nötige Feeling. Und weil der moderne Konsument ein vielfältiges Angebot schätzt, bedient er sich auch in Sachen Religion mal hier mal da, vom Zen-Buddhismus über die Esoterik bis vielleicht sogar zum evangelischen Kirchentag. Die Formen der Religionsausübung sind also andere als die, von denen das Buch Mi­cha spricht. Und ich will auch nicht bestreiten, dass sie vielen Menschen guttun. Aber auch ihnen droht die gleiche Gefahr: Je weiter man es damit treibt, je eifernder man seine Religion ausübt, desto weiter droht man sich von dem Gott zu entfernen, den man doch sucht. Der fanatische Muslim, der sich und möglichst viele an­dere in die Luft sprengt, um als Märtyrer ins Paradies zu kommen, ist dafür das extremste Beispiel. Aber es gibt auch andere: Wer sich völlig von der Welt abschottet, um Gott zu finden, ist irgendwann nicht mehr lebenstauglich, und auch die Grenze von tiefer Frömmig­keit zu religiösen Wahnvorstellungen ist schnell überschritten.

Warum ist das so – damals, heute und immer wieder? Ich denke, es ist deshalb so, weil alle, die sich Gott nähern wollen, in der falschen Richtung unterwegs sind. Von uns aus auf Gott zu geht es nämlich sehr bald nicht weiter. Da stoßen wir auf den tiefen, unüberwindli­chen Graben, der im Predigttext „Übertretung“ und „Sünde“ heißt. Wir sind Menschen, endlich, sterblich, fehlbar, und Gott ist Gott, unendlich, ewig und vollkommen. Wir können uns wohl mittels reli­giöser Gefühle ein wenig über den Graben hinüberträumen, aber wirklich auf die andere Seite gelangen wir nie. Und je heftiger wir’s versuchen, desto mehr geht’s schief.

Es ist aber auch gar nicht nötig, wenn Micha recht hat: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert“. Du musst gar nicht hinüber über den Graben, denn alles, was du brauchst im Verhältnis zu Gott, das ist längst hier bei dir. Es ist dir gesagt, du hast es gehört und musst es nur noch umsetzen: „Recht tun, Freund­lichkeit lieben, aufmerksam mitgehen mit deinem Gott“ – nichts an­deres als das. Damals war jedem klar, was mit diesen drei Dingen gemeint ist. Uns muss ich es ein bisschen erläutern, damit wir es ver­stehen:

„Recht tun“, das ist das erste. Klingt nicht besonders religiös, son­dern nach Gesetze befolgen, Steuern bezahlen, Ordnung halten. So ist es auch gemeint. Allerdings geht es um mehr als die Straßenver­kehrsordnung oder die Regeln der Höflichkeit. Es geht um das Recht, das Gott gesetzt hat. Wir können es mit den Zehn Geboten zusam­menfassen, aber auch mit der Charta der Menschenrechte. „Recht tun“ heißt demnach: So leben, dass jeder Mensch auf Erden zu dem Recht kommt, das ihm als Gottes Geschöpf zusteht – nicht mehr und nicht weniger. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Und doch eine Aufgabe, mit der man sein Leben lang nicht zu Ende kommt. Müssen wir aber auch nicht. Wir müssen es nur einfach tun, weil es uns ge­sagt ist – jeder an seinem Ort, jede nach ihren Möglichkeiten.

„Freundlichkeit lieben“, das ist das zweite. Hier wird es schwieriger, denn das hebräische Wort dsx (chäsäd), das hier mit „Freundlichkeit“ wieder­gegeben ist, lässt sich kaum ins Deutsche übersetzen. „Güte“ steckt mit drin, „Treue“ und „Verbundenheit“ – „Solidarität“, wenn’s nicht so abgegriffen wäre. „Loyalität“ auch, aber eine, die nicht zähneknir­schend eingehalten wird, sondern aus Zuneigung und Überzeugung. Wer einem Menschen gegenüber dsx übt, behandelt ihn freundlich und gütig, weil er sich mit ihm verbunden fühlt, weil beide zur glei­chen Gemeinschaft gehören, ob die nun Familie, Volk oder Mensch­heit heißt. Wenn „Recht tun“ das konkrete Handeln bezeichnet, dann benennt „Freundlichkeit lieben“ die innere Einstellung dazu, die Art und Weise, in der ich anderen ihr Recht zukommen lasse. Zum Bei­spiel: Wer sich um seine alten Eltern kümmert, der tut Recht. Wer es mit Güte und Freundlichkeit tut, weil er eng mit ihnen verbunden ist und weil er ihnen viel zu verdanken hat, der übt dsx.

„Aufmerksam mitgehen mit deinem Gott“, das ist das dritte und wichtigste. Denn hier finde ich die Alternative zu dem vergeblichen Versuch, mich Gott zu nähern. Ich muss nicht zu Gott hin, sondern er kommt zu mir, und dann nimmt er mich mit. Ich darf Gott auf seinen Wegen begleiten. Ich darf ihm sozusagen über die Schulter schauen wie ein Lehrling dem Meister. Und wenn ich das tue – aufmerksam, sorgfältig, mit wachem Blick – dann werde ich dabei unendlich viel lernen. Denn Gottes Weg führt ihn hin zu den Menschen. Er über­quert den tiefen Graben und wird einer von uns, damit wir mit ihm gehen können. So hat er es schon damals mit Israel gemacht, als er es aus der Knechtschaft in Ägypten holte und mitnahm auf die Reise ins Land der Freiheit. Die Verse vor unserem Predigttext erinnern daran. Und so hat er es für uns alle getan, als er in Jesus Mensch wurde und uns in seine Nachfolge rief. Wenn Gottes Wege also zu den Men­schen führen, dann führen auch unsere Wege dort­hin, wenn wir mit ihm gehen. Und damit sind wir wieder beim „Recht tun“ und „Freundlichkeit lieben“: Das erste ist das, was wir zu tun haben, das zweite ist die richtige Einstellung dazu und das dritte ist der Grund, warum wir es tun: weil wir Gott auf seinem Weg begleiten, an seiner Mission, seiner Sendung zu den Menschen teil­nehmen.

Religion ist wieder „in“, habe ich eingangs gesagt. Aber das wird nur eine Mode-Erscheinung bleiben wie so viele, wenn sie nicht auf das achtet, was uns von Gott gesagt ist. Wer nur den spirituellen Kick sucht, um seine innere Leere zu füllen, der bleibt an der Oberfläche. Aber wer aufmerksam mit Gott zu den Menschen geht, der kann im besten Sinne des Wortes etwas erleben – etwas, das viel tiefer geht als hier und da ein religiöses Happening. Denn diese Reise mit Gott verändert zuerst uns selbst und dann auch die Welt, in der wir leben. Wer’s wie Gott macht und Mensch wird, der hilft mit, dass seine und unsere Erde endlich ein besserer Ort wird. Und wie nötig das ist, dazu muss ich, glaube ich, nichts mehr sagen. Amen.

Ihr Pastor Martin Klein