Auf ein Wort…

… über Barmherzigkeit

Für viele war es ein bewegender Moment: Im Gottesdienst nach der Amtseinführung von Donald Trump hielt die anglikanische Bischöfin Mariann Edgar Budde die Predigt. Zum Schluss wandte sie sich direkt an den neuen US-Präsidenten, der in der ersten Reihe saß: „In the name of God I ask you to have mercy upon the people“ – „Im Namen Gottes bitte ich Sie: seien Sie barmherzig gegenüber dem Volk!“ Und dann nannte sie die Menschen, die nun Angst haben, dass Trump seine zahlreichen Drohungen wahr macht: Einwanderer vor allem, aber auch Schwule, Lesben und Transgender-Leute.

Donald Trump fand diese Predigt nicht gut. Die Bischöfin solle sich entschuldigen, hat er gesagt, und seine Anhänger feinden sie heftig an. Aber sie hat es abgelehnt, sich für einen Appell an die Barmherzigkeit zu entschuldigen. Sie zeigt als Christin Mut und Standhaftigkeit, wo andere reihenweise vor den neuen Machtverhältnissen einknicken. Und sie erinnert uns alle an eine altmodische christliche Tugend, die vielleicht gerade wieder hochaktuell ist.

„Barmherzigkeit“ – was genau ist das eigentlich? Man kann es als Übersetzung des lateinischen Wortes „misericordia“ betrachten. Dann heißt es so viel wie „ein Herz für die Armen, die Elenden haben“. Oder man leitet es von der germanischen Wurzel „barm“ her, die wir auch aus dem Wort „Erbarmen“ kennen. Da schwingt die Bedeutung „Mitleid“ mit, aber das ist noch zu wenig. Erbarmen habe ich, wenn ich Mitleid mit jemandem habe und mich ihm helfend zuwende. Barmherzigkeit ist dann die entsprechende Einstellung. Und die stellt keine Bedingungen. Sie geschieht immer voraussetzungslos, freiwillig, umsonst. Wer ein Beispiel dafür braucht, möge sich nur an den barmherzigen Samariter erinnern. Auf Hebräisch schließlich heißt Barmherzigkeit „rachamim“, und darin steckt „rächäm“, der Mutterschoß. Demnach hat sie etwas Weibliches, Mütterliches an sich – auch und gerade, wenn es um die Barmherzigkeit Gottes geht. All das schwingt also mit, wenn Jesus uns dazu auffordert: „Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist!“ (Lukas 6,36)

Man muss bei diesem Satz hinten anfangen: Gott ist barmherzig. Er hat Mitleid mit uns, seinen Geschöpfen, besonders mit den Armen und Elenden unter uns. Und er lässt es nicht bei passivem Mitleid bewenden, so wie wir es oft tun, weil wir gar nicht helfen können oder wollen. Nein, Gott kann und Gott will. Und er stellt erst recht keine Bedingungen. Er setzt seine Barmherzigkeit in die Tat um. Er wird selber einer von uns, um das Elend unserer Gottesferne und Gottesvergessenheit zu überwinden. Er ist der Vater Jesu Christi und damit auch unser Vater: ein barmherziger, mütterlicher Vater – oder eine väterliche Mutter. In seinem Schoß sind wir gebor­gen, wo wir auch sind und was auch mit uns geschehen mag.

Aber dabei bleibt es nicht. Barmherzigkeit will getan werden – auch von uns, die wir Gottes Barmherzigkeit erfahren. Also schließe ich mich Mariann Budde an und bitte im Namen Gottes alle, die das hier lesen: Seid barmherzig gegenüber den Menschen!

Seid barmherzig gegenüber den vielen, die in den letzten Jahren in unser Land gekommen sind. Vergesst nicht, dass die allermeisten von ihnen vor Krieg, Unterdrückung und bitterer Armut geflohen sind. Helft ihnen, sich hier eine neue Existenz aufzubauen. Legt ihnen keine Hindernisse in den Weg und freut euch mit denen, die es inzwischen geschafft haben. Und gewährt ihnen den gleichen Schutz vor Angriffen, den ihr selber gern hättet.

Seid barmherzig mit denen, die irgendwie nicht ins hergebrachte Schema passen. Nehmt sie wahr und akzeptiert sie so, wie sie sind. Erkennt in ihnen Gottes geliebte Geschöpfe und lasst sie so leben, wie sie es möchten.

Seid aber auch barmherzig mit allen, die in diesem Land Verantwortung übernehmen – in der Politik oder in der Wirtschaft, in der Erziehung oder im Gesundheitswesen, in der Polizei und Justiz oder in der Kirche. Bis zum Erweis des Gegenteils gesteht ihnen zu, dass sie sich ihrer Verantwortung bewusst sind und ihren Job gut machen wollen. Versucht immer mal wieder, euch selber in ihre Lage zu versetzen. Und dann haltet sie nicht gleich für dumm, faul oder egoistisch, wenn etwas nicht so funktioniert, wie es soll.

Ich könnte noch weitermachen, aber ich belasse es dabei. Ich denke, die genannten Beispiele genügen, um zu erkennen, wie hervorragend die Barmherzigkeit wirken kann gegen das Gift der Spaltung und des Übelnehmens, das unser Land befallen hat – wenn wir ihr denn freien Lauf lassen. Dazu helfe uns der gnädige und barmherzige Gott!

Es grüßt Sie herzlich
Ihr Pastor Klein