Gottesdienst für den zweiten Weihnachtstag
Text: Offb 7,9-17
Danach sah ich, und siehe, eine große Schar, die niemand zählen konnte, aus allen Nationen und Stämmen und Völkern und Sprachen; die standen vor dem Thron und vor dem Lamm, angetan mit weißen Kleidern und mit Palmzweigen in ihren Händen, und riefen mit großer Stimme: „Das Heil ist bei unserm Gott, der auf dem Thron sitzt, und bei dem Lamm!“
Und alle Engel standen rings um den Thron und um die Ältesten und um die vier Wesen und fielen nieder vor dem Thron auf ihr Angesicht und beteten Gott an und sprachen: „Amen, Lob und Ehre und Weisheit und Dank und Preis und Kraft und Stärke sei unserm Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.“
Und einer der Ältesten antwortete und sprach zu mir: „Wer sind diese, die mit den weißen Kleidern angetan sind, und woher sind sie gekommen?“ Und ich sprach zu ihm: „Mein Herr, du weißt es.“ Und er sprach zu mir: „Diese sind’s, die aus der großen Trübsal kommen und haben ihre Kleider gewaschen und haben sie hell gemacht im Blut des Lammes. Darum sind sie vor dem Thron Gottes und dienen ihm Tag und Nacht in seinem Tempel; und der auf dem Thron sitzt, wird über ihnen wohnen. Sie werden nicht mehr hungern noch dürsten; es wird auch nicht auf ihnen lasten die Sonne oder irgendeine Hitze; denn das Lamm mitten auf dem Thron wird sie weiden und leiten zu den Quellen lebendigen Wassers, und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen.“)
Wie das war, als Jesus geboren wurde, als der Engel den Hirten erschien und die Hirten das Kind in der Krippe fanden, die Geschichte ist bestens bekannt. Weniger bekannt dürfte sein, dass in der Schafherde von Bethlehem in der gleichen Nacht auch ein kleines Lamm geboren wurde. Und weil es eine besondere Nacht war, hatte auch das Lamm etwas Ungewöhnliches an sich. Schafe sind ohnehin nicht so dumm, wie man ihnen nachsagt; aber dieses kleine Lamm hatte eine besonders gute Auffassungsgabe und außerdem ein hervorragendes Gedächtnis. Das zeigte sich vom ersten Tag an.
Das Mutterschaf war nach der Geburt zu schwach, um für das Lämmchen zu sorgen. Also nahm einer der Hirten es an sich, wickelte es in seinen Mantel und gab ihm Schafsmilch aus der Flasche zu trinken. Als dieser Hirte dann mit den anderen nach Bethlehem aufbrach, nahm er das Lamm einfach mit. So kam es, dass es alles mit ansah, was es dort zu sehen gab: die ärmliche Unterkunft, das Neugeborene in seinen Windeln, wie es da im Futtertrog lag und schlief, die erschöpften, aber glücklichen Eltern. Und es hörte auch, was die Hirten über ihre Begegnung mit den Engeln erzählten: dass dieses Kind der versprochene Retter sei, den Gott geschickt habe, um Israel zu erlösen, um auf Erden Heil und Frieden einkehren zu lassen. Natürlich verstand das Lamm noch nicht so ganz, was damit gemeint war, aber es merkte sich die Worte gut, und vor allem spürte es die unbändige Freude, von der die Hirten erfüllt waren.
Als das kleine Lamm zu einem stattlichen Widder herangewachsen war, wurde es nach Jerusalem verkauft – als Opfertier für den Tempel. Zusammen mit vielen anderen kam es in einen Pferch am Rand des Tempelgeländes. Jeden Tag kam ein Priester zu diesem Pferch, um Tiere für die täglichen Opfer auszuwählen. Und immer gingen die ausgewählten Schafe still und bereitwillig mit, obwohl keines je in den Pferch zurückkehrte. Die Menschen dachten: „Schafe sind halt dumm – sie ahnen nicht, dass sie zur Schlachtbank geführt werden; deshalb wehren sie sich nicht.“ Aber Menschen verstehen eben nichts von Tieren. In Wirklichkeit wussten die Schafe ganz genau, was auf sie zukam. Aber sie wussten eben auch, dass das ihre Bestimmung war. Gott hatte sie dazu auserwählt, stellvertretend die Schuld der Menschen zu tragen, damit zwischen den Menschen und Gott alles ins Reine kam. Und die Schafe begehrten nicht dagegen auf. Denn sie selber waren ohne jede Schuld und lebten immer in vollem Einklang mit ihrem Schöpfer. Für sie war es eine besondere Ehre, auf diese Weise Gott zu dienen.
Aber seltsam: unserem Widder aus Bethlehem wurde diese Ehre niemals zuteil. Einer der Opferpriester schaute ihn zwar oft an und überlegte, aber dann entschied er sich jedes Mal für ein anderes Schaf. Er musste wohl spüren, dass dieser Widder etwas Besonderes war, und so brachte er es nicht übers Herz, ihn auf dem Altar zu schlachten. Irgendwann nahm er ihn schließlich mit nach Hause, an den Stadtrand von Jerusalem. Dort zäunte er ein Stück Grasland für ihn ein und versorgte ihn mit allem, was er zum Leben brauchte – einschließlich regelmäßiger Streicheleinheiten. Und er gab ihm sogar einen Namen: Johannes – „Gott ist gnädig“.
Ja, Gott war in der Tat gnädig zu Johannes. Auch dank der guten Pflege ließ er ihn uralt werden – viel älter, als es Schafen sonst vergönnt ist. Irgendwas hatte Gott wohl noch mit ihm vor, und Johannes war gespannt, was das sein würde.
Eines Tages, als Johannes schon hoch betagt war und meistens irgendwo im Schatten lag und schlief, wurde er von ungewöhnlichem Lärm geweckt. Er hob den Kopf und schaute sich um. Vom Stadttor her näherte sich eine große Menschenmenge. Voran marschierte im Gleichschritt ein Trupp römische Soldaten. Dahinter kamen drei elende Gestalten, die jeder einen schweren Holzbalken schleppen mussten. Dann noch mal Soldaten und schließlich die Schaulustigen mit ihrem Gejohle und Geschrei. Da wusste Johannes Bescheid: Ein Kreuzigungskommando auf dem Weg zum Schädel-Hügel. Wie viele hatte er schon an seinem Pferch vorbeiziehen sehen! Er hatte nie begreifen können, warum Menschen anderen Menschen so etwas antaten. Sicher, viele der Verurteilten hatten schlimme Dinge getan, aber eine so grausame Strafe, fand er, hatten auch die übelsten Verbrecher nicht verdient.
Inzwischen waren die ersten Soldaten an ihm vorüber gezogen, und er konnte die Verurteilten aus der Nähe sehen. Einer davon fiel ihm besonders auf. Er trug eine Krone wie ein König, aber es war eine Krone aus Dornen, die ihm ins Gesicht stachen. Er war am Ende seiner Kraft. Genau vor Johannes brach er unter seinem Balken zusammen. Voller Mitleid schaute Johannes den Mann an, und da durchfuhr es ihn wie ein Blitz: den kannte er doch! Oder vielmehr: Er kannte das Baby, dass dieser Mann mal gewesen war. Natürlich sah er jetzt ganz anders aus, aber er war seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Mit seinem erstaunlichen Gedächtnis konnte Johannes sich noch gut an dieses Gesicht erinnern und an das, was die Hirten damals erzählt hatten, und wie sehr er sich mit ihnen gefreut hatte. Und jetzt wurde ihm auch bewusst, worauf er noch gewartet und was ihn so lange am Leben erhalten hatte. Er hatte noch erleben wollen, dass die Worte der Hirten Wirklichkeit würden, dass durch diesen Retter endlich Heil und Frieden einkehrten. Er hatte sie noch sehen wollen, die neue Welt Gottes, wo die Menschen sich nicht mehr gegenseitig Gewalt antaten, wo nicht mehr die einen brutal über die anderen herrschten und grausame Strafen verhängten und wo auch Tiere wie er nicht mehr unter der Grausamkeit, der Gier und der Gleichgültigkeit der Menschen leiden mussten.
Aber was machte dieser Mann dann hier? Warum sollte er gekreuzigt werden? Warum wurde er nun selber ein Opfer der Gewalt? War also doch alles falsch, was die Hirten erzählt und die Engel gesungen hatten? Oder war Gottes Rettungsaktion schlicht gescheitert an der Unverbesserlichkeit der Menschen? Johannes sank der Mut, denn in beiden Fällen gab es für die Welt und für ihn selber keine Hoffnung mehr.
Inzwischen hatten die römischen Soldaten sich einen zufälligen Passanten geschnappt und ihm den Kreuzbalken aufgeladen. Und einer zog den gestürzten Mann wieder auf die Beine. Als er sich mühsam erhob, schaute er für einen Moment Johannes genau ins Gesicht, und ihre Blicke begegneten sich. Da verstand Johannes plötzlich. Dieser Blick war ihm bestens vertraut. Genauso hatten die Schafe im Tempel geschaut, wenn die Priester sie zum Opfer abholten. Nun war es ihm klar: Der Mann ging den Weg ans Kreuz bewusst und freiwillig, auch wenn es äußerlich nicht so wirkte. Er ließ sich opfern wie ein Schaf, um die Schuld der Menschen aus der Welt zu schaffen, um zwischen Gott und den Menschen reinen Tisch zu machen. Aber warum musste das sein? Warum war Gott mit dem Opfer der Schafe nicht mehr zufrieden? Warum musste es ein Menschenopfer sein? War Gott etwa auch so grausam wie die römischen Soldaten?
Johannes grübelte noch lange darüber nach, während die Menschenmenge weiterzog zum Schädel-Hügel. Später hörte er, dass der Mann, dessen Leben so verheißungsvoll begonnen hatte, tatsächlich am Kreuz gestorben war. Und das machte ihn sehr traurig.
In der Nacht darauf hatte Johannes einen seltsamen Traum. Er fühlte sich in Gottes neue Welt versetzt, in die Welt des Heils und des Friedens, die er mit allen Tieren und Menschen herbeisehnte. Von einer erhöhten Stelle blickte er hinunter auf eine riesige Menschenmenge. Sie reichte bis zum Horizont und weiter – völlig aussichtslos, sie zu zählen! Er sah Menschen mit dunklen und mit hellen Haaren, mit schwarzen, weißen und braunen Gesichtern, alle ganz verschieden, aber alle ganz in weiß gekleidet und mit Palmzweigen in den Händen. Diese unzähligen Menschen schauten wie gebannt auf einen gewaltigen goldenen Thron, der mitten aus der Menge emporragte. Eine große Schar von Engeln stand um diesen Thron herum, prächtig anzuschauen und Ehrfurcht gebietend. Das musste der Thron Gottes sein, dachte Johannes. Endlich war Gott nicht mehr weit weg im Himmel. Endlich hatte er mitten unter den Menschen Wohnung genommen. Jetzt würde wirklich alles neu und alles gut werden.
Zuerst dachte Johannes, dass der Thron leer sei. Darüber wunderte er sich auch nicht, denn ihm war ja klar, dass man Gott nicht sehen konnte. Aber dann schaute er noch mal genauer hin und entdeckte, dass auf dem Thron – ein kleines Lamm saß. Johannes war völlig verblüfft. Was hatte denn ein Lamm auf dem Thron Gottes zu suchen? Halb erwartete er, dass jeden Moment einer der Engel zum Thron treten und das Lamm von dort wegscheuchen würde. Aber die Engel taten nichts dergleichen. Im Gegenteil – sie blickten alle ehrerbietig dieses Lamm an, fielen vor ihm auf die Knie und riefen mit lauter Stimme: „Das Heil ist bei unserm Gott, der auf dem Thron sitzt, und bei dem Lamm! Lob und Ehre und Weisheit und Dank und Preis und Kraft und Stärke sei unserm Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.“
Johannes kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Das klang ja so, als ob Gott und das Lamm ein und dieselbe Person wären! Darüber musste er unbedingt mehr in Erfahrung bringen. Er drängte sich durch die Menschenmenge nach vorn, bis er genau vor dem Thron stand. Und hier aus der Nähe entdeckte er des Rätsels Lösung: Um den Hals des Lammes zog sich eine hässliche rote Narbe. Es war also ein Opferlamm, stellvertretend geschlachtet für die Schuld der Menschen. Doch es war nicht tot, sondern sehr lebendig. Es schaute Johannes an, aber nicht mit Schafs-, sondern mit Menschenaugen – eben den Augen, mit denen ihn der Mann mit dem Kreuzbalken angeschaut hatte.
Nun begriff Johannes: Dieser Gekreuzigte, der war das Lamm. Und nun saß er hier auf dem Thron Gottes – genau da, wo er hingehörte. Gott hatte also nicht irgendeinen Menschen geopfert, um die Welt mit sich zu versöhnen, sondern sich selbst. Er war selber Mensch geworden, und Johannes hatte es miterlebt, damals im Stall von Bethlehem. Aber die Rettung, von der die Engel gesprochen und die Hirten erzählt hatten, die war ganz anders geschehen, als sie alle gedacht hatten. Sie hatten damit gerechnet, dass das Kind in der Krippe zu einem großen Herrscher heranwachsen werde, der mit seiner Macht und Weisheit der Welt den Frieden bringen würde. Nie hätten sie erwartet, dass Gott Mensch würde – um zu sterben. Aber jetzt war Johannes klar: Nur Gott selbst konnte das große Opfer bringen, das ein für alle Mal den tiefen Graben zwischen ihm und den Menschen überbrücken würde. Heute, auf dem Schädel-Hügel war das geschehen. Nie wieder würde ein Schaf stellvertretend sterben müssen, und erst recht musste kein Mensch sich mehr opfern, um den Weg zu Gott zu öffnen. Und im Traum durfte Johannes schon einen Blick in die Welt tun, die am Ziel der seltsamen Wege Gottes stand.
Er hörte, wie einer der Engel ihn ansprach: „Johannes, was meinst du: Wer sind all diese Menschen mit den weißen Kleidern?“ – „Mein Herr, du weißt es“, antwortete er, „also sag es mir!“ Und der Engel tat ihm den Gefallen: „Sie kommen aus der großen Bedrängnis und haben ihre Kleider gewaschen und sie hell gemacht im Blut des Lammes.“ Das klang ziemlich paradox, aber Johannes verstand, wie es gemeint war: Es waren die Menschen, für die es wahr geworden war, dass Gott ihren Tod auf sich genommen und ihnen so das Leben geschenkt hatte. Und es waren die, die an diesem Glauben festgehalten hatten gegen allen Augenschein, gegen alle Widerstände, bis sie am Ziel ihres Lebens angekommen waren.
Der Engel sprach weiter: „Darum sind sie vor dem Thron Gottes und dienen ihm bei Tag und Nacht; und der auf dem Thron sitzt, wird sein Zelt über ihnen ausspannen und bei ihnen wohnen. Sie werden nicht mehr hungern und nicht mehr dürsten; die Sonne wird sie nicht mehr stechen, und keine Hitze wird sie mehr drücken. Denn das Lamm mitten auf dem Thron wird sie weiden und sie zu Quellen mit lebendigem Wasser führen, und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen.“
Johannes gefiel diese Vorstellung: Ein Lamm, das die Herde leitet – das schwächste Glied wird das stärkste. Das kleine Kind in der Krippe, der ohnmächtige Mann am Kreuz nimmt Platz auf dem Thron Gottes. Was für ein Wechsel! Was für ein Umsturz aller Verhältnisse! Und er war dabei gewesen, als das alles anfing! In tiefem Frieden schlief er weiter, während das Traumbild langsam verblasste.
Kurze Zeit später starb Johannes, das Schaf, alt und lebenssatt. Und niemand hätte jemals von ihm und seinem Traum erfahren, wenn nicht 65 Jahre später ein christlicher Seher eine ganz ähnliche Vision gehabt hätte. Auch er hieß Johannes, und anders als sein Namensvetter konnte er alles aufschreiben, was er gesehen hatte. Wir können es nachlesen im Buch der Offenbarung, in Kapitel 7, und ich konnte ihnen heute eine etwas ungewöhnliche Predigt darüber halten. Möge die Vision des Johannes uns begleiten, wenn dieses Weihnachtsfest nun bald vorüber ist. Denn sie macht uns klar, dass Weihnachten keine Geschichte aus längst vergangener Zeit ist, sondern eine, die immer noch weiter geht und die erst zu Ende sein wird, wenn auch wir mit weißen Kleidern und mit Palmzweigen vor dem Thron Gottes stehen. Wie die Wirklichkeit hinter diesen biblischen Bildern aussehen wird, das weiß ich auch noch nicht. Aber wir werden es erleben und dürfen uns schon jetzt darauf freuen. Amen.
Ihr Pastor Martin Klein