Christmette für die Heilige Nacht, Talkirche, 24.12.2021

Text: Stille Nacht (Urfassung von 1816/18, LZHE 395)

Heilige Nacht. Tiefe Stille liegt über dem kleinen Ort Mariapfarr. Die Christmette ist längst zu Ende, die Lichter in den Häusern verlo­schen. Bis auf eines: In seiner bescheidenen Dienstwohnung sitzt der Dorfpfarrer vor einer einsamen Kerze. Draußen vor dem eisblumen­ver­zierten Fenster liegt der Schnee meterhoch. Der klir­rende Frost dringt durch die Ritzen und lässt den jungen Priester frös­teln. Er sollte ins Bett gehen und unter die warme Decke krie­chen, aber er weiß, dass er nicht wird schlafen können. Es geht ihm einfach zu viel durch den Kopf.

Seit gut einem Jahr ist Joseph Mohr in Mariapfarr – seine erste Stelle. Und was ist das bloß für ein Jahr gewesen! 1816, das „Jahr ohne Sommer“: In ganz Europa ist es viel zu kalt. Es hat Re­gen und Überschwemmungen ohne Ende gegeben, die Ernte ist verdorben, viele leiden Hunger, und Seuchen machen sich breit. Hier oben in den Salzburger Bergen ist der Schnee das ganze Jahr nicht wirklich weggetaut. Und dass zu einer Zeit, wo die Kriege Napole­ons noch ihre Folgen zeigen: verheerte Landstri­che, viele Kriegsver­sehrte, entlassene Soldaten, die heimat- und arbeitslos durch die Gegend irren, zahllose Kinder, die als Wai­sen oder Halbwai­sen aufwachsen müssen.

Auch Joseph Mohr gehört dazu. Sein Vater, ein Soldat, hat seine Mutter sitzenlassen, kaum dass er von ihrer Schwangerschaft wusste. Aber Joseph hat noch Glück gehabt. Immerhin durfte er als einzi­ger seiner Geschwister das Gymnasium besuchen. Auch sein musikali­sches Talent wurde gefördert. So konnte er sich schon früh mit Gesang und Geigenspiel das Geld für Schule und Studium verdie­nen. Doch die Vaterlosigkeit setzt ihm immer noch zu. Als frisch geweih­ter Priester hat er sich deshalb hierher schicken lassen, ins Hei­matdorf seines Vaters. Er hat aber nur noch seinen alten Großva­ter vorgefunden. Der Vater war schon vor Jahren in einer Schlacht ge­fallen. Und den Großvater hat er im Januar beerdigt. Nun steht er ganz allein da.

Vor Joseph Mohrs geistigem Auge erscheint die Weihnachtskrippe aus seiner Kirche. Was für ein anderes Bild sie doch bietet: Maria, die liebevoll auf ihr Kind schaut. Und Josef gleich daneben – ein Va­ter, der bei seiner Familie bleibt, obwohl das Kind nicht einmal sei­nes ist. Und dann das Kind auf Heu und Stroh: Joseph Mohr weiß natür­lich, dass die Neugeborenen, die er zu taufen hat, so nicht ausse­hen – mit Locken, Babyspeck und huldvollem Lächeln. Aber es ist ja auch ein ganz besonderes Kind: Gottes Sohn, als Mensch geboren. Der fleischgewordene Beweis, dass Gott diese arme, geschundene Welt liebt, dass er alles tut, um sie zu retten. Wo soll Pfarrer Mohr denn sonst Hoffnung finden für sich sel­ber und für seine Gemeinde? Deshalb nimmt er schließlich Papier und Feder zur Hand und fängt an zu schreiben (Strophen 1-3 singen):

Stille Nacht! Heil‘ge Nacht!

Alles schläft. Einsam wacht

nur das traute hochheilige Paar.

Holder Knab im lockigen Haar,

schlafe in himmlischer Ruh!

Stille Nacht! Heil’ge Nacht!

Gottes Sohn, o wie lacht

Lieb aus deinem göttlichen Mund,

da uns schlägt die rettende Stund,

Jesus, in deiner Geburt!

Stille Nacht! Heil’ge Nacht,

die der Welt Heil gebracht,

aus des Himmels goldenen Höhn

uns der Gnaden Fülle lässt sehn,

Jesum in Menschengestalt!

Ja, das ist es, das Wunder der Weihnacht: Gott wird ein Mensch wie wir. Er wird geboren als Kind von Eltern, die auf Befehl des Kai­sers Augustus genauso herumgeschubst werden, wie die Soldaten von Kaiser Napoleon oder Kaiser Franz. Er hat kein Zuhause und kommt in einem Stall zur Welt. Und er erfährt nur zu bald, dass die Welt aus den Fugen ist. Eine Welt, wo die Herrschenden machen, was sie wollen. Wo sie kleinen Kindern nach dem Leben trachten, weil sie um ihre Macht fürchten wie König Herodes. Wo sie Land und Leute ungefragt unter sich verschachern wie die hohen Herren auf dem Wiener Kongress. Eine Welt voller Krankheit und Schmer­zen: Jesus nimmt sie auf sich – und heilt sie. Eine Welt voller Hunger und Ar­mut: Jesus lernt sie am eigenen Leib kennen – und macht viele Men­schen satt. Eine Welt, die den Naturgewalten schutzlos ausgeliefert ist: Jesus steigt mit ins schwankende Boot – und stillt den Sturm. Wenn es irgendwo Frieden gibt nach all den Kriegen und Verwüs­tun­gen, Frieden im Land, aber auch in den Seelen, dann bei Jesus, dem Retter. Wenn irgendwo zu erfahren ist, dass Gott nicht doch in seinem Zorn eine neue Sintflut über die Menschheit bringt, anders als er’s versprochen hat, wenn irgendwo offenbar wird, dass er trotz allem die Welt und die Menschen liebt, dann bei Jesus, sei­nem geliebten Sohn.

Ein heftiger Hustenanfall überkommt Joseph Mohr. Seit er in diesem rauen Klima lebt, hat er die wieder ständig, und immer öfter hustet er dabei Blut ins Taschentuch. Er rechnet damit, dass er nicht alt werden wird. Aber heute, in dieser stillen Nacht, drückt ihn das nicht nieder. Er sieht Gottes Liebe im Lächeln des Kindes in der Krippe. Und diese Liebe umhüllt ihn wie ein warmer Mantel. Ge­stärkt und getröstet greift er wieder zur Feder (Strophen 4-5 singen):

Stille Nacht! Heil’ge Nacht,

wo sich heut alle Macht

väterlicher Liebe ergoss,

und als Bruder huldvoll umschloss

Jesus die Völker der Welt!

Stille Nacht! Heil’ge Nacht!

Lange schon uns bedacht,

als der Herr vom Grimme befreit

in der Väter urgrauer Zeit

aller Welt Schonung verhieß!

Joseph Mohr legt die Feder weg und packt das Blatt mit den sechs Strophen in eine Schublade. Über dem Schreiben ist er zur Ruhe kommen. Er bläst die Kerze aus und geht nun doch ins Bett.

Erst beim übernächsten Weihnachtsfest fällt ihm das Gedicht wie­der ein. Wegen seiner angegriffenen Gesundheit hat er inzwischen die Stelle gewechselt, ist nun Pfarrer in Oberndorf an der Salzach. Seine Gemeinde besteht vor allem aus armen Flussschiffern. Sie leiden sehr da­runter, dass Salzburg seine Selbständigkeit verloren hat, dass mitten durch die Salzach nun die Zollgrenze zwischen Bay­ern und Öster­reich verläuft und ihnen das Geschäft ruiniert. Sie ha­ben die Weihnachtsbotschaft bestimmt genauso nötig wie die Hir­ten von Bethlehem. Aber wie kann sie wirklich ankommen bei diesen einfa­chen, eher verschlossenen Menschen, die lieber in die Wirt­schaft als in die Kir­che gehen?

Joseph Mohr hat eine Idee. Am Tag vor Heiligabend nimmt er das Blatt mit den Versen zur Hand und geht damit zu Franz Gruber, dem Schulmeister und Organisten. Die beiden haben sich angefreundet und schon öfter gemeinsam musiziert. Und Gruber setzt sich auch gleich hin und schreibt eine passende Melodie für zwei Solostim­men. Zu zweit tragen sie das Lied in der Christmette vor – mit Gitarren-­Begleitung, denn die Orgel ist zwar nicht kaputt, wie es die Legende besagt, aber erstens klingt sie nicht besonders und zwei­tens wollen die beiden es bewusst schlicht halten.

Das Lied kommt gut an. Es gibt Beifall von der Schiffergemeinde. Aber es dauert noch mehr als dreißig Jahre, bis es bekannt und schließ­lich berühmt wird – leicht verändert und nur noch mit drei Strophen. Joseph Mohr ist da schon tot, mit 56 an seiner Schwindsucht gestorben. Aber der alte Franz Gruber kann immerhin noch berichten, wie das Lied von der „Stillen Nacht“ entstanden ist. Ein schlichtes Lied für einfache Leute in einer schweren Zeit. Und als solches wollte ich es Ihnen und euch heute vorstellen – abseits von dem Kitsch und Schwulst, mit dem es oft überladen wird. Denn seine klare Botschaft gilt auch uns, die wir in anders schweren Zei­ten leben (Strophe 6 singen):

Stille Nacht! Heil’ge Nacht!

Hirten erst kundgemacht

durch der Engel Halleluja

tönt es laut bei Ferne und Nah:

Jesus der Retter ist da!

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der wird unsere Herzen und Sinne bewahren in Jesus Christus. Amen.

Ihr Pastor Martin Klein