Predigt Tal- und Wenschtkirche, Sonntag, 6. Dezember 2020

GOTTESDIENST FÜR DEN ZWEITEN ADVENT

Text: Jak 5,7-11

So seid nun geduldig, Brüder und Schwestern, bis zum Kommen des Herrn. Siehe, der Bauer wartet auf die kostbare Frucht der Erde und ist dabei geduldig, bis sie empfange den Frühregen und Spätregen. Seid auch ihr geduldig und stärkt eure Herzen; denn das Kommen des Herrn ist nahe. Seufzt nicht widereinander, damit ihr nicht ge­richtet werdet. Siehe, der Richter steht vor der Tür. Nehmt zum Vor­bild des Leidens und der Geduld die Prophe­ten, die geredet haben in dem Namen des Herrn. Siehe, wir preisen selig, die erduldet haben. Von der Geduld Hiobs habt ihr gehört und habt gesehen, zu welchem Ende es der Herr geführt hat; denn der Herr ist barmherzig und ein Erbarmer.

Geduld haben, warten, ausharren. Das ist nicht so einfach. Davon könnten wir gerade alle ein Lied singen, wenn wir denn singen dürf­ten. Das Virus und die Maßnahmen dagegen stellen unsere Geduld auf eine harte Probe. Erst sollten die aktuellen Einschränkungen bis zum 30. November dauern, dann bis zum 20. Dezember, inzwischen sind wir schon beim 10. Januar, und das war sicher noch nicht alles. Auch mit dem Impfen wird es wohl nichts vor dem neuen Jahr, und wer nicht gerade im Gesundheitswesen arbeitet oder hochgradig ge­fährdet ist, wird sich lange anstellen müssen. Ich sehe ja ein, dass das jetzt sein muss, und das vorweihnachtliche Gedränge in den Ein­kaufsstraßen oder im Terminkalender vermisse ich auch nicht wirk­lich. Aber ich sehne mich danach, meinen Mitmenschen endlich mal wieder ohne künstliche Distanz zu begegnen. Ich sehne mich nach unbeschwertem Chor- und Gemeindegesang. Und sehne mich auch nach einer Zeit, wo die Pandemie nicht alle anderen Probleme über­lagert, die mindestens genauso dringend gelöst werden müssen.

So geht es mir. Aber wirklich schlimm sind andere dran. Die Alten in den Heimen, die jederzeit zur Todesfalle werden können. Die, die einsam zu Hause sitzen und in Trübsinn verfallen. Die Pflegekräfte, die mit ihrer Arbeitskraft am Limit sind. Die vielen, deren Arbeits­platz weg oder in Gefahr ist, deren wirtschaftliche Existenz bedroht ist, und für man nicht ewig neue Rettungspakete auflegen kann. Die Armen hier bei uns und erst recht anderswo auf der Welt, die alles noch viel härter trifft – wie immer. Wenn mir das Warten schon zur Last wird, was sollen sie dann erst sagen? Wie sollen sie es noch aushalten, bis wir wieder zur Normalität zurückkehren können? – Was auch immer dann „normal“ heißen wird!

Geduld haben, warten, ausharren. Nein, das ist in der Tat nicht ein­fach. Es war auch nicht einfach für die Menschen, an die der Jako­busbrief gerich­tet ist. Christ zu sein in einer Stadt des Römischen Reiches am Ende des ersten Jahrhunderts nach Christus, das war kein angenehmes Le­ben. Die Schar der Christen war nur ein kleines Häuflein in einer gleichgültigen oder gar feindseligen Umgebung. Die Christen lebten anders als ihre heidnischen Mitbürger, und das machte sie verdäch­tig. Dass man sich über sie lustig machte, war noch das Geringste. Oft wurden sie auch ausgegrenzt, schikaniert und misshandelt. Manchmal mussten sie sogar um ihr Leben fürch­ten. Kein Wunder, dass sie sich fragten: „Wie lange sollen wir das noch aushalten? Hieß es nicht im­mer, dass es nicht mehr lang dauert, bis Jesus wieder­kommt, bis end­lich auch unsere Feinde erkennen, dass unser Gott der Herr der Welt ist? Aber jetzt warten wir schon fünfzig, sechzig Jahre! Hat es da überhaupt noch einen Sinn, Christ zu bleiben? Hält Hoffen und Harren uns nicht doch zum Narren?“

Der Jakobusbrief kämpft gegen diese Zweifel an. „Haltet aus“, sagt er, „verliert die Geduld nicht! Es bleibt dabei: Unser Herr kommt, und er kommt bald.“ Um das deutlich zu machen, gebraucht er ein Bild aus der Landwirtschaft: Von der Aussaat bis zur Ernte dauert es eben auch seine Zeit. Der Bauer kann seinen Acker pflügen und sein Saat­gut ausstreuen, aber dann kann er nur noch warten. Er kann nichts tun, damit das Korn schneller wächst. Sonne und Regen wer­den schon dafür sorgen, dass es reif wird, wenn die Zeit dafür da ist. So ist es auch mit dem Tag, an dem der Herr kommt. Er muss in Ruhe her­anreifen, aber er rückt immer näher, genau wie die nächste Ernte.

Aber der Jakobusbrief belässt es nicht bei diesem Bild. Er erinnert uns auch an Vorbilder der Geduld und der Leidensfähigkeit: „Seid gedul­dig wie die Propheten. Oder wie Hiob.“ So weit, so gut. Vorbil­der können ja nicht schaden. Aber bei näherem Hinsehen werde ich bei den genannten Beispielgestalten doch etwas stutzig. Hiob und die Propheten als Vorbilder der Geduld und des Wartenkönnens? Passt das überhaupt?

Passt es zum Beispiel auf den Propheten Jeremia? Der musste jahr­aus, jahrein seinem Volk Unheil ankündigen. Und weil sich so was keiner gern anhört, ver­suchte man ihn immer wieder zum Schweigen zu bringen. Schließlich wurde er sogar eingesperrt, und fast wäre er einem Mordanschlag zum Opfer gefallen. Jeremia musste also ganz schön was erdulden. Aber was ich dann tatsächlich im Jeremiabuch lese, hat mit Geduld ziemlich wenig zu tun. Da begegnet uns viel­mehr ein Prophet, dem sein Auftrag gewaltig stinkt. Er spricht davon, dass er lieber tot wäre, als immer wieder Unheil und Zerstörung an­sagen zu müssen. Es wird ihm nur ein schwacher Trost gewesen sein, dass das Unheil schließlich eintraf, dass Jerusalem zerstört und ein Großteil seines Volkes verschleppt wurde. Denn er hätte doch viel lieber gute Nachrichten ver­kündet. Bitter beklagt er sich, dass Gott ausgerechnet ihn für diese undankbare Aufgabe auserwählt hat. Er blieb seinem Auftrag treu, weil er nicht anders konnte. Er musste Gottes Worte weitergeben, ob er wollte oder nicht. Lohn hat er dafür keinen erhal­ten. Er blieb vom Schlimmsten verschont, aber die bes­seren Zei­ten, auf die er gehofft hat, die hat er nicht mehr erlebt.

Und dann Hiob. Zum einen Teil wird er uns zwar als einer geschil­dert, der sein schweres Leid geduldig erträgt. Sie kennen sicher sei­nen Ausspruch: „Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genom­men, der Name des Herrn sei gelobt.“ Aber wir hören von ihm auch ganz andere Töne: „Warum bin ich nicht gestorben bei meiner Ge­burt?“ klagt er. „Warum bin ich nicht umgekom­men als ich aus dem Mutter­leib kam? Warum gibt Gott das Licht dem Mühseligen und das Le­ben den be­trübten Herzen – die auf den Tod warten, und er kommt nicht, und nach ihm suchen mehr als nach Schätzen, die sich sehr freuten und fröhlich wären, wenn sie ein Grab bekämen – dem Mann dessen Weg verborgen ist, dem Gott den Pfad ringsum ver­zäunt hat?“ Jeder von uns kennt diese Warum-Fragen, mit denen gequälte Menschen Gott anklagen. Auch in der jetzigen Situation werden sie wieder laut. Aber keiner hat sie radikaler gestellt als Hiob. Ist das die Ge­duld, von der der Jakobusbrief spricht? Sieht so das Harren auf das gute Ende aus, das die Ge­schichte nimmt, dank Gottes Erbarmen?

Wir sehen also: Entweder hat der Jakobusbrief seine Beispielfiguren schlecht ausgewählt oder Geduld ist noch etwas anderes, als wir üb­licherweise darunter verstehen. Wir denken immer: geduldig sein heißt gelassen bleiben, ruhig abwarten können, sich fügen in das Un­vermeidliche, auf uns nehmen, was Gott uns schickt. Das ist ja auch alles richtig. Und gerade jetzt könnte etwas mehr Gelassenheit uns nicht schaden.

Aber Geduld hat noch eine andere Seite. Für das, was Luther mit „Geduld“ übersetzt hat, gibt es im Griechischen, auch in unserem Text, zwei verschiedene Wörter. Davon ist nur das eine mit „Ge­duld“ richtig wiedergegeben. Das andere bedeutet eher „Standhaf­tigkeit“. Wenn also im Neuen Testament von Geduld die Rede ist, dann heißt das immer auch: standhaft bleiben, nicht nur passiv alles hinnehmen, was kommt, sondern aktiv festhalten an un­serem Gott, an unserem Glauben und damit auch an unserer Selbst­achtung. Darin sind Jeremia und Hiob tatsächlich Vorbilder. Sie las­sen sich von dem Leid, das sie trifft, nicht verbiegen – sich selbst nicht und auch ihren Glauben nicht. Sie können nicht von ihrer Über­zeugung lassen, dass Gott es gut mit den Menschen meint, dass er barmherzig und ein Erbarmer ist, wie der Jakobusbrief sagt. Gerade deshalb können sie es nicht ertragen, dass er nur noch Leid und Un­heil über sie selbst oder ihre Mitmenschen bringt. Sie müssen prote­stieren, sie müssen Gott daran erinnern, dass er anders ist, als sie ihn jetzt erleben. Ge­rade so bleiben sie ihrem Glauben an Gottes Barm­herzigkeit treu. Gerade so zeigen sie Standhaftigkeit.

Geduld haben, warten, ausharren. Das ist nicht einfach. Aber viel­leicht wird es einfacher, wenn wir diese andere Seite der Geduld im Sinn behalten: die Beharrlichkeit, die Standhaftigkeit, das aktive Eintreten gegen das, was unsere Geduld strapaziert. Das gilt auch für Corona-Maßnahmen, von denen wir den Eindruck haben, dass sie mehr schaden als nützen – nicht jeder, der da Zweifel anmeldet, ist deshalb gleich ein Verharmloser oder ein rechter Spinner. Es gilt aber erst recht da, wo es eindeutig Menschen sind, die unerträgliche Zustände verursachten. Ja, selbst Gott müssen wir mit unserem be­harrlichen Protest nicht verschonen. Wir dürfen ihn mit unseren Fra­gen löchern: Warum lässt du mich so einsam sein? Warum muss ich so leiden? Warum lässt du mich nicht spüren, dass du da bist? Wa­rum lässt du es zu, dass so viel Schlimmes in der Welt passiert? Wa­rum machst du dem allen nicht endlich ein Ende? Warum warten wir immer noch auf dein Kommen – jetzt schon bald 2000 Jahre lang? Wenn Jeremia oder Hiob so mit Gott reden durften, dann dürfen wir es auch. Wenn der Jakobusbrief die Standhaften selig preist, dann dürfen auch wir standhaft an Gottes Barmherzigkeit festhalten und sie einfordern, wenn wir nichts davon sehen. Ich vertraue darauf, dass Gott über kurz oder lang niemanden von uns ohne Antwort las­sen wird. Und ich vertraue darauf, dass die Zeit kommt, wo Gott Gericht hält, wo er alles zurechtrückt und sein Friedensreich sicht­bare Wirklichkeit wird. Vielleicht macht uns diese so andere Ad­ventszeit ja wieder deutlich, wie dringend nötig wir das haben. Amen.

Ihr Pastor Martin Klein