Predigt Wenschtkirche, Sonntag, 25.11.2018

GOTTESDIENST FÜR DEN EWIGKEITSSONNTAG

Text: Jes 65,17-25

Rund 100 Bestattungen hat es im vergangenen Kirchenjahr in unserer Gemeinde gegeben. Und viele von Ihnen hier heute Morgen sind ein- oder mehrmals dabei gewesen: als nahe Angehörige, als Freunde, Nachbarn, Mitchristen. Sie wissen also alle, wie das vor sich geht: Man hält einen Trauergottesdienst, man begleitet den Sarg oder die Urne zum Grab, man kondoliert oder bekommt kondoliert, man ist traurig, beim Kaffee danach manchmal auch schon wieder fröhlich. Dann wird das Grab zugeschaufelt, mit Blumen bepflanzt oder mit Wiese bedeckt, besucht und gepflegt oder auch nicht, und von dem oder der Verstorbenen bleiben nur Erinnerungen. Anfangs tun sie noch weh, später meistens nicht mehr so sehr – Gott sei Dank –, aber sie verblassen auch und gehen verloren. Und für uns Hinterbliebene geht das Leben weiter – verändert, aber doch vertraut.
Aber was geschieht mit denen, die gestorben sind? Wo sind sie jetzt? Sind sie einfach weg? Liegt alles, was von ihnen übrig ist in diesem Grab auf dem Friedhof oder im Ruheforst? Leben sie weiter in unseren Erinnerungen? (Aber was ist dann, wenn keiner mehr da ist, der sich erinnern kann?) Leben sie weiter in ihren Kindern, Enkeln, Urenkeln? (Aber was ist dann mit denen, die keine Nachkommen haben?) Lebt ihr Geist, ihre Seele irgendwie noch unter uns? Werden sie wiedergeboren in anderer Gestalt? Sind sie bei Gott? Schlafen sie bis zur Auferweckung am jüngsten Tag?
Viele Menschen, die vom Tod betroffen sind, treiben diese Fragen um. Aber niemand kann sie definitiv beantworten. Das gilt auch für die Bibel und für den christlichen Glauben. Denn erstens werden schon in der Bibel verschiedene Antworten gegeben, die man nicht alle auf einen Nenner bringen kann. Und zweitens lässt sich heute kaum noch jemand eine Antwort auf diese Fragen einfach vorgeben. Jeder beantwortet sie für sich so, wie man es sich am ehesten vorstellen kann und wie es für einen selbst am tröstlichsten ist.
Auch der heutige Predigttext gibt eine Antwort. Aber weil es so ist, wie ich es gerade beschrieben habe, kann ich mich auch mit diesem Text nicht hinstellen und sagen: So ist es, so wird es sein und nicht anders. Aber ich kann in diesem Text Entdeckungen machen, die mich ins Nachdenken bringen und die mir dann vielleicht weiterhelfen. Und zu einer solchen Entdeckungsreise möchte ich Sie heute Morgen einladen.
Der Text steht im Buch des Propheten Jesaja, im 65. Kapitel:

Siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen,
dass man der vorigen nicht mehr gedenken
und sie nicht mehr zu Herzen nehmen wird.
Freut euch und seid fröhlich immerdar über das, was ich schaffe.
Denn siehe, ich erschaffe Jerusalem zur Wonne
und sein Volk zur Freude,
und ich will fröhlich sein über Jerusalem
und mich freuen über mein Volk.
Man soll in ihm nicht mehr hören die Stimme des Weinens
noch die Stimme des Klagens.
Es sollen keine Kinder mehr da sein, die nur einige Tage leben,
oder Alte, die ihre Jahre nicht erfüllen,
sondern als Knabe gilt, wer hundert Jahre alt stirbt,
und wer die hundert Jahre nicht erreicht, gilt als verflucht.
Sie werden Häuser bauen und bewohnen,
sie werden Weinberge pflanzen und ihre Früchte essen.
Sie sollen nicht bauen, was ein anderer bewohne,
und nicht pflanzen, was ein anderer esse.
Denn die Tage meines Volks werden sein wie die Tage eines Baumes,
und ihrer Hände Werk werden meine Auserwählten genießen.
Sie sollen nicht umsonst arbeiten
und keine Kinder für einen frühen Tod zeugen;
denn sie sind das Geschlecht der Gesegneten des Herrn,
und ihre Nachkommen sind bei ihnen.
Und es soll geschehen: Ehe sie rufen, will ich antworten;
wenn sie noch reden, will ich hören.
Wolf und Lamm sollen beieinander weiden;
der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind,
aber die Schlange muss Erde fressen.
Man wird weder Bosheit noch Schaden tun
auf meinem ganzen heiligen Berge, spricht der Herr.

Welche Entdeckungen machen wir, wenn wir uns auf diesen Text einlassen? Erst einmal die, dass er uns den Horizont erweitert. Denn wenn wir uns fragen, was nach dem Tod kommt, dann haben wir meistens einen einzelnen Menschen im Blick: uns selbst oder jemanden, um den wir trauern. Aber hier erfahren wir: es geht nicht nur um unser persönliches Schicksal, sondern um das Schicksal unserer Welt. Es geht nicht um unser Weiterleben nach dem Tod, sondern um einen neuen Himmel und eine neue Erde.
Ich denke, es ist gut, dass wir gerade am Totensonntag daran erinnert werden. Denn unsere persönliche Trauer um einen geliebten Menschen ist ja nicht die einzige Art und Weise, wie Menschen in dieser Welt leiden. Im Text heißt es zum Beispiel: „Niemand wird mehr Kinder für einen frühen Tod zeugen“. Und ich muss an die Säuglinge im Jemen denken, die verhungern, kaum dass sie geboren sind. Oder an die Kinder im Hospiz Balthasar in Olpe, die sterben, lange bevor sie erwachsen werden. Ich lese: „Sie sollen nicht bauen, was ein anderer bewohne“. Und ich muss an die vielen Menschen denken, die aus ihrer Heimat flüchten müssen oder vertrieben werden. Ich lese: „Sie sollen nicht pflanzen, was ein anderer esse.“ Und mir fallen die vielen kleinen Bauern ein, die von Großkonzernen enteignet und ausgebeutet werden, damit bei uns die Lebensmittel so schön billig bleiben. Ich lese: „Sie sollen nicht umsonst arbeiten“. Und ich muss an die Menschen denken, die damit fertig werden müssen, dass ihre Arbeit plötzlich nichts mehr wert ist. Ich lese: „Der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind“. Und ich denke daran, wie unser gewaltiger Fleisch-konsum pflanzliche Nahrung verbraucht, von der viele Menschen le-ben könnten.
Wenn ich das alles bedenke, dann kann ich nicht wollen, dass die Welt so bleibt, wie sie ist. Ich kann nur den neuen Himmel und die neue Erde herbeisehnen, von der das Jesajabuch spricht. Was für eine Welt, in der selbst die Tiere miteinander Frieden halten – geschweige denn die Menschen! Was für eine Welt, in der niemand mehr zur Unzeit sterben muss! Was für eine Welt, in der alle satt werden und die Früchte ihrer Arbeit genießen können! Was für eine Welt, in der Freude statt Trauer herrscht!
Wer würde sich so eine Welt nicht wünschen? Wer würde nicht alles tun, damit sie eines Tages Wirklichkeit wird? Nur – an der Stelle liegt der Haken! Denn immer wenn Menschen daran gegangen sind, mit eigener Kraft eine solche Welt zu erschaffen, dann sind sie grandios gescheitert. Karl Marx hat sich seine kommunistische Gesellschaft nicht viel anders vorgestellt als das Jesajabuch seine neue Erde. Aber wenn man versucht hat, sie zu verwirklichen, kam regelmäßig so etwas wie die DDR dabei heraus. Oder wie Nordkorea.
Woran liegt das? Warum sind der neue Himmel und die neue Erde ein Wunschtraum geblieben? Als Christ bin ich überzeugt: es liegt an uns. Es liegt daran, wie wir Menschen sind, wie wir geworden sind durch unsere Sünde und unsere Schuld. Wir können keine heile Welt schaffen, weil wir nicht heil sind. Im Text sagt Gott: „Ehe sie rufen, will ich antworten; wenn sie noch reden, will ich hören.“ Aber so ist es ja hier und jetzt gerade nicht. Viele reden erst gar nicht mit Gott. Andere tun es, aber leben trotzdem so, als ob es ihn nicht gäbe. Und wieder andere warten auf Gottes Antwort, aber bekommen keine. Unser Verhältnis zu unserem Schöpfer ist gestört. Deshalb gibt es von uns aus keinen Weg zu einer neuen Schöpfung.
Also aus der Traum von der schönen neuen Welt? Was uns angeht, ja. Aber in unserem Text steht ja auch gar nicht, dass wir den Traum verwirklichen sollen. Da steht: „Ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, spricht der Herr“. Das ist eine Verheißung, keine Aufforderung. Und eigentlich ist das ja auch logisch: Wenn Gott seine Schöpfung einschließlich uns Menschen nicht selbst heil macht, wer sollte es dann tun?
Nur – tut er es denn auch irgendwann? Jetzt steht diese Verheißung schon zweieinhalbtausend Jahre im Raum, und es sieht so aus, als ob wir ihrer Erfüllung keinen Deut näher gekommen sind. Wir sollten jetzt nicht zu schnell mit der Erklärung kommen, dass tausend Jahre eben vor Gott wie ein Tag sind. Das kann nur jemanden beruhigen, der es sich in dieser Welt gut eingerichtet hat und den die Leiden dieser Weltzeit weitgehend verschont haben. Alle anderen haben Recht, wenn sie ungeduldig werden und das Warten satt haben. Wir sollten also die Vaterunser-Bitte „Dein Reich komme“ nicht nur so daher sagen, sondern bitter ernst nehmen. Wenn nicht um unserer selbst willen, dann wenigstens um derer willen, für die jeder weitere Tag in dieser Welt ein Tag zuviel ist.
Und als Christen sollten wir eines nicht vergessen: Gott hat schon damit begonnen, seine Verheißung zu erfüllen. Er ist Mensch geworden und hat diesen Menschen Jesus von den Toten auferweckt. Das ist ein Stück vom neuen Himmel und von der neuen Erde. Man kann es leicht übersehen. Man kann auch behaupten, dass es gar nicht vorhanden ist. Aber wer einmal erfahren hat, dass es stimmt, was wir von Jesus Christus bekennen, wer gespürt hat, dass er da ist und lebt, der hat für seine Hoffnung festen Boden unter den Füßen. Der muss seine Träume von Gottes neuer Welt nicht wegwerfen, sondern kann schon jetzt Zeichen setzen für das, was kommt.
Und der Tod? Macht der nicht unsere Hoffnungen zunichte? Was ist denn mit den vielen, die gestorben sind, bevor der neue Himmel und die neue Erde Wirklichkeit sind? Unser Text spricht nur davon, dass niemand mehr unzeitig sterben muss, dass jeder Mensch seine volle Lebensspanne ausschöpfen kann. Das ist schön für die, die es erleben, aber was ist mit den anderen? Diese Fragen hat man sich natürlich auch schon zu biblischen Zeiten gestellt. Und deshalb konnten die Verheißungen der Bibel an diesem Punkt nicht stehen bleiben. Schon am Ende der alttestamentlichen Zeit keimt die Hoffnung auf eine Auferstehung der Toten. Und die Erfahrung der Auferstehung Jesu verhalf dieser Hoffnung zum Durchbruch. Wenn das Neue Testament von einem neuen Himmel und einer neuen Erde spricht, dann gehört dazu auch der Satz: „Der Tod wird nicht mehr sein“. Wir haben es eben in aus der Offenbarung des Johannes gehört. Wenn das stimmt, dann haben nicht nur die Anteil an Gottes neuer Welt, die das Glück haben, sie noch zu erleben. Sondern dann sind auch alle Verstorbenen in Gottes Hand und werden mit dabei sein, wenn er den neuen Himmel und die neue Erde schafft. Wohl uns, wenn wir darauf hoffen können. Amen.

Ihr Pastor Martin Klein